Wo, wenn nicht hier? In Chicago wurden Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Wolkenkratzer gebaut. Jetzt wird am Michigansee die erste Architekturbiennale Nordamerikas aus der Taufe gehoben. An der Chicago Architecture Biennial sind mehr als 90 internationale Büros beteiligt. Ein Interview mit Sarah Herda, die die Großveranstaltung gemeinsam mit Joseph Grima leitet.
Sarah Herda, können Sie die Überschrift "The State of the Art of Architecture" präzisieren?
Unser Titel bezieht sich auf eine gleichnamige Konferenz, die der Chicagoer Architekt Stanley Tigerman 1977 initiierte. Tigerman lud Fachkollegen aus New York, Los Angeles und Chicago dazu ein, ihr jeweiliges Programm zu diskutieren sowie ihre Ideen mit neuen Projekten zu demonstrieren. Knapp vier Jahrzehnte später fragen wie die Teilnehmer dieser Biennale ebenfalls nach dem Status der zeitgenössischen Architektur. Wir möchten erfahren, was die Architekturszene heute antreibt und wollen eine globale Diskussion über die Zukunft in Gang setzen.
Wir reden ja nicht nur über Gebäude. Was meinen Sie, wenn Sie "Architektur" sagen?
Architektur ist eine dynamische kulturelle Praxis, die alle Aspekte des Lebens durchdringt. Große Visionen sind gefragt, aber auch ganz praktische Lösungen im Wohnungsbau. Umwelt, Wirtschaftswachstum, dahinter stecken Problemfelder, die wir bearbeiten müssen.
Sie richten sich nicht nur an Fachleute, sondern an ein breites Publikum. Wie erreichen Sie die Leute?
Indem wir sonst meist verborgene Aspekte transparent machen: Was für Ideen stecken hinter der Form? Daher wird es Installationen geben, Zeichnungen, Fotografie, Video, Performance – ein großes Spektrum an Medien, die Architektur aus der ganzen Welt erfahrbar machen. Wir betonen, dass Architektur jedermanns Sache ist. Das umfangreiche Programm der drei Monate richtet sich an alle. Und dazu gibt es noch Extra-Programme von über 80 Partnerinstitutionen.
Wie und mit welchen Auswahlkriterien haben Sie die Biennale vorbereitet?
Wir haben uns mit der Arbeit von mehr als 500 internationalen Büros beschäftigt, wobei uns ganz unterschiedliche Aspekte interessiert haben, vom Wohnungsbau zur gestaltenden Städteplanung, vom ländlichen zum urbanen Kontext. Eines unserer Ziele ist natürlich auch, neue Methoden und aktuelle Positionen zu präsentieren.
Nennen Sie doch einige Projekte, die auf der Biennale präsentiert werden.
Bei fast 100 Teilnehmern aus über 30 Ländern, die wir im Chicago Cultural Center ausstellen, keine einfache Wahl. Ich will das Kollektiv RAAAF (Rietveld Architecture–Art Affordances) erwähnen, dass mit einem experimentellen Arbeitsplatz ganz neu über Ergonomie und räumliche Dynamik nachdenkt. Tatiana Bilbao aus Mexiko baut vor Ort einen Prototyp für nachhaltiges und erschwingliches Wohnen auf – in Originalgröße. OPEN architecture aus Beijing haben mit Spirit of Space aus Chicago für eine Serie von Filmen zusammengearbeitet: Darin wird das Manifest einer neuen Architektur entworfen, die auf den rapiden Wandel in Chinas Metropolen eingeht.
Welchen Effekt wird die Biennale auf Chicago haben?
Im Stadtraum wird die Biennale eine dauerhafte Spur hinterlassen. Entlang dem Lake Michigan installieren wir beispielsweise vier Kioske. Einer davon geht auf einen internationalen Wettbewerb zurück, für den wir über 400 Einreichungen aus 40 Ländern bekamen. Für die anderen drei Verkaufsstellen haben aufstrebende Architekten mit den drei wichtigsten Architekturschulen in Chicago zusammengearbeitet.
Und die Projekte außerhalb der Architektur?
Kunst, Design und Architektur durchdringen sich natürlich. Einige Teilnehmer sind Künstler, die das Bauen erforschen oder sich innovativ im öffentlichen Raum engagieren. Wir haben den renommierten Architekturfotografen Iwan Baan mit einer Fotoserie beauftragt. Ramak Fazel fotografiert für ein Projekt die Architekten, die als Chicago Seven bekannt sind, in ihren eigenen Häusern. Wir stellen Künstler wie Tomas Saraceno heraus, der die architektonischen und sozialen Werte von Spinnweben erforscht. Carlos Bunga kreiert eine ortsspezifische Installation in der Stony Island Arts Bank (Die von Theaster Gates gegründete Rebuild Foundation hat das 1923 erbaute Bankgebäude in ein Kunstzentrum umgewandelt, Anm. d. Red.). Und die Company Jessica Lang Dance bringt ein Tanzstück zur Uraufführung, das gemeinsam mit dem Architekten Steven Holl entwickelt wurde.
Noch etwas zur maßgeblich beteiligten Graham Foundation, deren Direktorin Sie seit 2006 sind.
Die Foundation fördert Projekte mit Zuschüssen, konzipiert Ausstellungen und öffentliche Programme. Die Stiftung blickt auf eine lange Geschichte zurück, was die Entwicklung von Architektur, was den Ideenaustausch und das Nachdenken über die Rolle der Disziplin innerhalb der Kultur und Gesellschaft angeht. Als ich mit der Leitung beauftragt wurde, habe ich die Öffentlichkeitsarbeit intensiviert. Außerdem haben wir in den vergangenen Jahren die Stiftung als Treffpunkt für Architekten und Designer aus Chicago weiter etabliert. Die Biennale bietet die seltene Chance, Architekten, Designer und Künstler aus aller Welt in einen Dialog zu führen. In Umfang und Ambition mag die Biennale die Möglichkeiten der Graham Foundation übertreffen. Aber das Ziel ist im Kern dasselbe: Spitzen-Entwürfe zu präsentieren und ein neues Bewusstsein für die Gestaltung unserer Umwelt zu schaffen.