50. Todestag von Le Corbusier

Weltarchitekt oder Faschist?

Paris, Berlin, Stuttgart, Chandigarh: Le Corbusier hat weltweit sein architektonisches Erbe hinterlassen. 50 Jahre nach seinem Tod wird er in Ausstellungen, Kolloquien und neuen Biographien gefeiert – und so heftig kritisiert wie selten zuvor  

Auf der einen Seite das Meer, auf der anderen das zerklüftete Massif de Marseilleveyre. Die zweigeschossigen Appartements auf dem Boulevard Michelet Nummer 280 im 9. Arrondissement von Marseille nehmen zum Teil die ganze Etagenbreite ein. Sie verlaufen von Ost nach West, so dass jeder der Bewohner Morgen- und Abendsonne hat. Nur hin und wieder wird eine der mehr als 300 Maisonette-Wohnungen in der Cité radieuse zum Verkauf frei. Es gebe zum Teil Wartelisten, erklärt Isabelle, die hier lebt.

Die Französin wohnt seit 15 Jahren in dem 18. Stockwerke hohen Gebäuderiegel – ein Werk von Architekt Le Corbusier. Sein Wirken begeistert nicht jeden. Selten gab es einen Architekten der kontroverser beurteilt wurde als der am 27. August 1965 gestorbene Stadtplaner.

Le Corbusier wurde 1887 als Charles-Édouard Jeanneret-Gris im Schweizerischen La Chaux-de-Fonds geboren. Von Paris aus hat der Verherrlicher des Stahlbetons die Welt erobert und seine Ikonen der Moderne unter anderem in Berlin und dem indischen Chandigarh hinterlassen. In Frankreich, das ihn nicht zuletzt wegen einer offiziellen Trauerfeier im Carrée-Hof des Louvre zu einem Star stilisiert hat, wird aus dem Jubiläumsjahr ein posthumer Prozess. Denn neben Ausstellungen und Kolloquien wurden vor wenigen Wochen gleich drei Bücher veröffentlicht, die sein Verhältnis zum Faschismus beleuchten.

Dass der Großbaumeister ein Bewunderer Hitlers war und enge Beziehungen zum französischen Vichy-Regime unterhielt, ist nicht neu. Zuletzt sorgten die Faschismusvorwürfe des Amerikaners Nicholas Fox Weber für Aufsehen. Denn in seiner 2008 erschienenen Le Corbusier-Biografie nimmt er detailliert und ungeschönt historische Dokumente und Briefe des Architekten unter die Lupe.

Mit der dunklen Seite des Weltarchitekten haben sich nun auch die drei Franzosen François Chaslin ("Un Corbusier"), Xavier de Jarcy ("Le Corbusier. Un fascisme français") und Marc Perelman ("Le Corbusier. Une froide vision du monde") beschäftigt. Die Autoren ziehen unter anderem Artikel aus der Zeitschrift "Prélude" als Beweismaterial heran. Die Revue für Kunst und Städtebau wird als faschistisch eingestuft - und Le Corbusier gehörte zu den Gründungsmitgliedern.

Ikone der kompromisslosen Modernität oder Faschist? Hinter der Hornbrille versteckte sich ein ehrgeiziger Mann. Ohne Architekturdiplom wurde der Graveur und Ziseleur zu einem der einflussreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts, der in großen Maßstäben dachte. Ihn interessierte nicht so sehr der Bau von Villen, obwohl er davon etliche entwarf. Er schuf Hochhäuser, die er als "Unité d’habitation" bezeichnete und Pläne für eine ganze Stadt: Chandigarh in Indien.

Le Corbusier war ein Egomane. Als junger Mann schon hatte er in einem seiner Briefe geschrieben, dass sein Ehrgeiz, seine Eitelkeit und sein Stolz ihn zu großen Dingen treiben würden. Jahre später schrieb er am 31. Oktober 1940 an seine Mutter: "Wenn es ihm mit seinen Ankündigungen ernst ist, kann Hitler sein Leben mit einem großartigen Werk krönen: der Neugestaltung Europas."

Auch Le Corbusier wollte Neues schaffen. In seinen theoretischen Schriften beschrieb er die "Stadt der Gegenwart", mit der er Ordnung in das urbane Chaos bringen wollte – mit Hilfe von Stein, Beton, Stahl, Funktionalität, rechten Winkeln und klarer Geometrie. Seine Stadt sollte perfekt funktionieren - wie eine Maschine.

Zu Corbusiers kritischen Bewunderern zählte die irische Designerin Eileen Gray. 1929 errichtete sie an der Küste der Côte d’Azur die Villa E.1027 – das Areal, auf dem sich auch eine "Unités de Camping" von Le Corbusier befindet,  kann nach jahrelanger Renovierungszeit seit diesem Frühjahr und noch bis zum 31. Oktober besichtigt werden. E.1027 ist inspiriert vom berühmten Kollegen, aber doch in klarer Abgrenzung zu dessen kühler Wohnmaschinenutopie: Die Hygiene-Obsession der Moderne langweile sie zu Tode, sagte Gray einmal. Le Corbusier nahm Rache, als er Jahre später – nackt – geschmacklose, monströs-große Gemälde auf die Wände schmierte. Am 27. August 1965 ertrank er beim Baden im Meer vor E.1027.

Welche Bedeutung der Baumeister heute noch hat – diese Frage stellt ein Radiobeitrag auf Bayern 2 aus Anlass seines Todestages. Darin kommen Architekten wie Jean Nouvel, David Adjaye oder Wolfgang Prix zu Wort. Der Autor reist außerdem an Orte, an denen Gebäude von Le Corbusier stehen, etwa nach Marseille, Berlin, New York, Paris, Ronchamp, Moskau, Zürich, Stuttgart und Chandigarh.

Wer selbst einmal im Geiste Le Corbusiers wohnen möchte, der sollte nach Marseille reisen. In der 138 Meter langen und 56 Meter hohen Cité radieuse befinden sich neben Wohnungen nicht nur ein Restaurant, Buchhandlung, Kindergarten und einem Zentrum für zeitgenössische Kunst, sondern auch ein Hotel. Im dritten Stock verlässt man den Fahrstuhl und steht erst einmal im Dunkeln. Genauso hat es der Meister konzipiert, dass alle Bewohner in ihren Wohnungen Licht haben, der Flur aber dafür von diesem abgeschirmt wird. Nur als Gast des Hotels (Zimmer ab 79 bis 152 Euro, www.hotellecorbusier.com) ist das etwas unbequem. Alles sieht gleich aus, nach der Zimmernummer muss man mühsam suchen und die Zimmertür im Grunde genommen ertasten. Steht man endlich vor seinem Bett, fühlt man sich umso bedeutender. Man lebt wie alle Mieter in einer der Wohnungen, in denen Bauhausmöbel stehen, Holz die Wände vertäfelt und abstrakte Farbfelder den Raum sortieren. Nur leider fehlt den Hotelwohnungen das zweite Geschoss. Der Witz an diesem Haus ist ja gerade die Stapeltechnik, die es erlaubt von einer Etage in die eine Himmelsrichtung und von der nächsten in die andere zu schauen. Davon ist im Zimmer keine Spur.

Aber immerhin wird man im Corbusier-Haus übernachten. Hier fühlt es sich an, als sei man direkt in ein Geschichtsbuch hineingeklettert – alles ist ein wenig verranzt und schrabbelig, manchmal glaubt man sogar, es müffele. Aber die Reinigungskräfte legen Wert auf Sauberkeit: Zumindest das Badezimmer wurde mit Chlor geputzt. So lässt sich frisch geduscht selbst der beschränkte Ausblick auf ein paar Bäume, Hochhäuser und auf das in der Ferne schimmernde Meer komplett genießen. (dpa/monopol)