Wie bezwingt man den großen Lichthof des Martin-Gropius-Baus mit seinem Werk? Dieser Frage muss sich jeder Künstler stellen, der den Berliner Museumsbau bespielt. Tino Sehgal hat seine ganz eigene Lösung gefunden. Zur Pressekonferenz seiner Einzelpräsentation verteilte er die rund zwei Dutzend Performer, die an seiner großen Einzelausstellung beteiligt sind, in den verschiedenen Ecken und Winkeln dieses Lichthofes und ließ sie singen. Die opulente Akustik ließ die Töne ihrer Improvisation wie in einer Kathedrale zum Himmel steigen, und der Raum war eine Weise vom Werk erfüllt, die man nicht anders als beglückend beschreiben kann. Ganz ohne Materialschlachten.
Der studierte Ökonom und Choreograf Sehgal, 1976 in London geboren, hat weltweit Einzelausstellungen gezeigt, aber in seiner heutigen Heimatstadt Berlin stand die große Retrospektive noch aus. Umso zufriedener zeigte sich Sehgal, dass er nun mit fünf seiner performativen Werke, "Situationen" genannt, das Erdgeschoss des Gropius-Baus bespielen kann. Die Ausstellung findet im Rahmen der Berliner Festspiele statt, die Theater- und Ausstellungsformate unter einem Dach vereint: Sehgal sei Teil einer Bewegung, so Festspiel-Intendant Thomas Oberender, in der Zeitkünste zu Raumkünsten werden und Raumkünste zu Zeitkünsten.
Sehgal selbst erzählte, dass ihn im Berlin der 90er-Jahre durchaus das Theater geprägt habe: Einar Schleef, die Aufführungen Schlingensiefs, die Ästhetik der Volksbühne. Seine eigene Praxis hat ihn dann aber in Galerien und Museen geführt statt auf die Bühne. Im Theater sei ihm die Rezeptionssituation zu hierarchisch, erklärte er: "Man redet im Theater nicht zufällig von 'dem Publikum' im Singular. Das Museum dagegen ist eine Erfindung der französischen Revolution. Hier wird das demokratische Individuum angesprochen, die einzelne Stimme." Und vielleicht wichtiger noch: Sehgal versteht sein performatives Werk als einen Versuch, etwas zu produzieren, was eine Alternative zum Objekt darstellt – und das ist dort leichter lesbar, wo das Artefakt zu Hause ist, im Museum nämlich.
Zu dieser künstlerischen Praxis, die auf die übliche Objektproduktion verzichtet, gehört auch, dass Sehgal keine fotografischen und filmischen Abbildungen seiner Werke zulässt. Die Ausstellung im Gropiusbau wird weder durch Plakate und Anzeigen beworben, noch wird es einen Katalog geben: Es zählen der persönliche Augenschein und der Moment.
So bleibt es also für einmal der Presse überlassen, die Botschaft zu verkünden: Fünf Werke von Tino Sehgal sind in Berlin zu sehen. Darunter "The Kiss", in dem zwei Akteure in Zeitlupe klassische Kuss- und Knutschsituationen nachspielen. Oder das großartige "This Variation" von der Documenta 2012, in dem die Besucher in einem dunklen Raum von den Akteuren umtanzt werden, die gemeinsam über "Good Vibrations" von den Beach Boys improvisieren. Man darf, so betonte Sehgal auf Nachfrage, auch mittanzen und singen – wäre nur schön, wenn man beim Klatschen nicht aus dem Takt käme. Und bei "Welcome to this situation" kann man auch mitdiskutieren: Dort kommentieren fünf Akteure verschiedene Zitate über Fortschritt, Technologie, gesellschaftliche Veränderungen.
Am Pressetag war beispielsweise die Berliner Kunsthistorikerin Dorothea von Hantelmann unter den Performern. Ihr war die archaische Technik aufgefallen, mit der die anwesenden Journalisten sich Notizen machten: handschriftlich auf Papier. Hier trifft sich das Aufschreiben ausnahmsweise mit dem Ausstellung: Beides geht ganz wunderbar ohne Technologie und Zeugs. Der Mensch reicht.