Bevor Ian Cheng Künstler wurde, studierte er Kognitionswissenschaft an der University of California in Berkeley. Was dort über Denken und Wahrnehmung gelehrt wurde, genügte ihm aber bald nicht mehr – statt vorgegebene Probleme zu untersuchen, wollte er lieber eigene erschaffen, wie er selbst sagt. Eines dieser "Probleme" wird derzeit von der Fondazione Sandretto Re Rebaudengo in Turin präsentiert. Es vermittelt einen Eindruck davon, wie sehr sich der 1984 geborene Amerikaner mit der Evolution des Menschen und dem Bewusstsein beschäftigt.
Irgendwo zwischen Film und Videospiel bewegt sich die Arbeit, die in einem stockfinsteren Ausstellungsraum der Fondazione an die Wand projiziert wird und eine potenziell unendliche Geschichte ablaufen lässt. Ein Algorithmus, den Cheng gemeinsam mit einem Team von Programmierern entwarf, erlaubt es diesem Kunstwerk, sich selbst zu kreieren. Es ist eine simple Story, die mit den einfachsten Mitteln der Narration reflektiert, wie Menschen in ihrer Umwelt agieren – unterkomplex ist dieses Werk jedoch keinesfalls. Niemals sieht der Betrachter das Gleiche auf den zwei dicht aneinandergefügten unterschiedlich großen Projektionsflächen. Sie ermöglichen zwei verschiedene Perspektiven auf ein buntes Wirrwarr, das eine frühe Form der Menschheit einzufangen scheint.
Das größere Bild bietet einen Überblick über eine zerklüftete, düstere Landschaft, in der sich menschenähnliche Wesen tummeln. Mal scheinen sie irgendeine Gottheit anzubeten, dann versammeln sie sich um ein Lagerfeuer. Beobachtet man diese Szenerie als etwas abseits stehender Betrachter von einem zumeist erhöhten Standpunkt aus, begibt man sich bei der anderen Projektion näher heran an diese Geschöpfe, die gerade erst dabei sind, ein Bewusstsein zu entwickeln für die Möglichkeiten, die ihnen diese Welt bietet.
Cheng, der neben Kant und Nietzsche vor allem den US-Psychologen Julian Jaynes liest, treibt in seinen Arbeiten die Frage um, was der Mensch eigentlich sei. Neu ist die Suche nach unserem Ursprung und Wesen gewiss nicht, die Umsetzung dagegen ist so visionär, wie sie aktuell nur sein kann. Künstliche Intelligenz wird hier von seichter Hollywoodfiktion zu manifestierter Wirklichkeit. "A very stupid form of A. I." nennt der Künstler sein Produkt, aber dennoch: Es ist Artificial Intelligence. Irgendwann, so hofft Cheng, werden sich seine Figuren mithilfe einer einfachen Form von Sprache untereinander verständigen können. Wie sich die Geschichte bis dahin entwickelt, vermag nicht einmal der Künstler selbst vorherzusagen. Doch seine ausgeklügelte Kreation ist eine Reise wert. Und vielleicht verrät sie ein wenig darüber, wie die Kunst der Zukunft aussehen kann.