Als Kinder hatten wir eine etwas unheimliche Puppe, ein Babywesen mit Glatze und weißem Bart, halb Kind, halb Greis. Ich weiß gar nicht mehr, wem sie gehörte. Sie war wie ein Förster gekleidet. Und weil mein Onkel Förster war, hieß diese Puppe "Onkel Gerd". Onkel Gerds Schicksal war es, nackt rumzufliegen und in der Badewanne den Haarkranz gewaschen zu bekommen. Und als ich die Ausstellung des belgischen Künstlers Rinus Van de Velde bei Max Hetzler betrete und das riesige, schwarz-weiße Landschaftspanorama von 2024 mit dem Titel "Claude, I said, you have to listen, ..." ansehe, denke ich, da läuft Onkel Gerd über eine Brücke – in einem alten Frankenstein Film aus den 1930er-Jahren, oder in Charles Laughtons Meisterwerk "Nacht des Jägers" (1955), unter künstlichen Studio-Weiden, die ihre Zweige ins Wasser hängen lassen. Fließendes Wasser, an dessen Ufern Rehe und Vögel trinken, ist in diesen alten, silbrigen Filmen immer ein Zeichen von Unheil.
Dieses filmische, malerische Bild, das Suspense und David-Lynch-Mysterium ausstrahlt, ist eine Zeichnung. Und es zeigt tatsächlich eine Puppe, erklärt mir Van de Velde, der sich mit mir davor setzt, eine Marionette, die er in Prag hat bauen lassen, die da über die Brücke geht. Allerdings ist dies die Puppeninkarnation von Claude Monet, dem großen Impressionisten, dem mit den Seerosenteichen, der durch seinen Garten in Giverny, einem Dorf nordwestlich vor Paris, geht. Es ist der greise, schon fast an Grauem Star erblindete Monet, der in seinem Spätwerk unglaublich farbige, flirrende Bilder seines Gartens malte, als würden florale Feuerwerke vor seinem inneren Auge explodieren. Der Garten, der Himmel, der Bach, alles wurde in Van de Veldes Studio in Antwerpen gebaut, ausgeleuchtet und dann gezeichnet. Die Szene ist Teil eines Films, den er gerade dreht, und der wie alle seine Filme, Kulissen, Puppen dann wieder als Material für seine Zeichnungen dient.
Parallel zur Zeichnungsausstellung in der Goethestraße ist bei Hetzler in der Bleibtreustraße Van de Veldes jüngster Film "A Life in a Day" (2023) zu sehen, in dem der Künstler von seinem Assistenten gespielt wird, der eine verblüffend gut gemachte Maske mit Van de Veldes Gesicht trägt. Der Doppelgänger wacht in einer labyrinthischen, ziemlich dystopischen, kafkaesken Welt auf, die komplett im Studio realisiert wurde – wie auch die im Originalmaßstab gebaute, verblichene S-Bahn, in der man den kalten Rauch fast riechen kann, die durch eine graue Pappstadt fährt. Der Künstler geht in eine Art Safe-Raum, der zugleich sein Inneres verkörpert. Hier lagert und ordnet er seine Ideen, Gedanken, Bilder und Texte, tauscht Koffer, läuft durch Dan-Flavin-artige Neonflure, Bunker, gelangt schließlich durch eine Schleuse in David Hockneys schwulen, kalifornischen Swimmingpool, in dem er seine Pinsel auswäscht und eine fäkale Brühe hinterlässt. Wie muffelig, denke ich kurz, aber es ist ja nur erfunden, oder?
Die Stimme des Künstlers aus dem Off – als sei er Bruce Allmächtig
Im gesamten Werk des 1983 geborenen Belgiers geht es um seine fiktive Autobiografie, in der er durch Raum und Zeit reist, Künstler und Künstlerinnen der Moderne, der Nachkriegsmoderne, der Gegenwart trifft, sich mit ihnen unterhält, sie in Gespräche verwickelt, sich in ihr Leben und ihr Werk einmischt, sie in das nie gelebte Leben seines Alter Egos einbaut. Er nutzt dafür Film, Installation, Zeichnung, Text, Performance.
Bilder und Skulpturen – seien die nun von Picasso, James Ensor, van Gogh, Mondrian – werden angeeignet, in Architekturen, Interieurs oder Stillleben eingefügt, neu arrangiert. Unter den riesigen Papierarbeiten stehen oft Texte, wie Untertitel, wie die Stimme des Künstlers aus dem Off, der über seine Gefühle, Kunst, Ängste, Ambitionen, Ideen erzählt, die Handlung kommentiert, als sei er Bruce Allmächtig.
Das Spektrum reicht alleine in dieser Ausstellung von Monet über den Blaue-Reiter-Maler Alexej von Jawlensky bis zu den Abstrakten Expressionisten Joan Mitchell und Willem de Kooning. Van de Velde steht vor mir, ein langer schlaksiger Mann mit wilden Haaren. Und während er sehr besonnen spricht und in seinem Pullover gestikuliert, kommt er mir für einen Moment selbst vor wie eine Puppe, als hätte jemand ihn sich jemand ausgedacht.
Zeichnen ist demokratisch
"Anfangs dachte ich, ich könnte nicht über mich selbst zeichnen", sagt er. "Ich bin immer drinnen, die ganze Zeit im Atelier, und das ist superlangweilig. Warum also nicht ein Leben erfinden, das wie ein Ausflug nach draußen ist, eine fiktive Autobiografie?" Warum, frage ich, ist die Zeichnung dabei so wichtig? "Die Geschichte der Zeichnung ist merkwürdig", antwortet er, und: "Sie spielt sich viel verborgener ab, ist marginalisierter als die Geschichte der Malerei. Als ich vor 25 Jahren, da war ich 18, mit dem Zeichnen begann, beschäftigte sich kaum jemand mit Zeichnen. Für mich war Raymond Pettibon der erste Mensch, der das Medium, die gesamte Praxis, völlig autonom gemacht hat. Ich studierte Bildhauerei und war von der Materialität, der Körperlichkeit, nicht sehr begeistert – eine Stahlkonstruktion zu bauen, Ton draufzuhauen und das zu formen."
Er hätte in seiner Studienzeit Rodins Atelier besichtigt und sei abgetörnt gewesen von dem machismo in seiner Arbeit. "Ich mochte die Demokratie des Zeichnens, keine Assistenten, Tonnen von Materialien, nur ein Stück Papier. Ich konnte die Zeichnungen unter dem Sofa aufbewahren, das war super simpel. Außerdem hat jeder schon mal in seinem Leben gezeichnet, ein Blatt Papier und einen Stift genommen und etwas darauf gekritzelt. Nicht jeder hat schon einmal ein Gemälde oder eine Skulptur gemacht."
Malerei sei ihm zu sehr belastet, obwohl sich in seinen Zeichnungen fast alles um Malerei dreht, wie ich finde. "Wenn man malt, hat man diese Geschichte, man muss an Velasquez, Rubens, Vermeer denken. Das ist eine Bürde. Zeichnen ist viel leichter, lange Zeit wurde es als eine Art Nebenprodukt angesehen, für Skizzen, während die Malerei das Endergebnis war. Zum Beispiel in der Renaissance- und Barockmalerei. Es geht immer darum, das Gemälde zu produzieren, aber wenn man sich zum Beispiel die Zeichnungen der Carracci-Familie, die im frühen Barock sehr berühmt war, ansieht, dann machen sie Witze und Rätsel, zeichnen Karikaturen. Es ist ein viel offeneres und erzählerischeres Medium. Es ist alltäglich, spielerisch."
"Meine eigene Kunstgeschichte neu schreiben"
Ich möchte jetzt mal an Van de Veldes eigenem machismo sägen. Welches Problem mit der traditionellen Kunstgeschichte hat er denn genau? Warum muss er das denn gottgleich alles neu erfinden und dabei noch die Hauptrolle spielen? Er denkt kurz nach. "Es gibt keine traditionelle Geschichte." Oh, Touché. "Es gibt einen Kanon, aber der ist auch völlig konstruiert, wir müssen zugeben, dass er auch erfunden ist, eine fiktive Geschichte. Ich denke, wir müssen etwas Neues schaffen, etwas Persönliches. Ich erfinde diese Geschichten nicht, um irgendeine Art von Weisheit zu produzieren oder um dir zu sagen, wie die Welt ist. Es ist einfach meine persönliche Art, meine Welt zu strukturieren. Ich möchte die Freiheit haben, meine eigene Kunstgeschichte neu zu schreiben."
Das erinnert mich an früher, an die Postmoderne, wie so manches in seinen Filmen, die Pina Bausch-Anzüge, die Musik, die etwas klingt wie Michael Nyman, die ganzen schlauen Kunst-Zitate. "Glaubst du nicht, dass gerade diese Subjektivität Teil des Problems ist, wenn du einfach sagst, ich mache das jetzt mal so, wie es mir passt?", will ich wissen. "Wieso", fragt er. "Weil wir in einer total egomanischen Welt leben. Weil genau diese post-strukturalistische Idee von einer fragmentarisierten Welt ohne 'große, gültige Erzählungen' das Grundproblem sein könnte, das auch zu Trump geführt hat, zu der Idee, dass man sich einfach durchsetzen muss. Brauchen wir nicht eine gemeinsame Struktur, eine gemeinsame Erzählung?"
Wir sprechen über die Idee einer multiperspektivischen Geschichte, die nicht einem gottgleichen, genialischen, Erzähler oder eine Erzählerin hat, sondern viele Stimmen. "Das war doch in den letzten 20 Jahren das Thema in der Gegenwartskunst, die Idee des Kollektiven, Spekulativen", sage ich. Und eigentlich spekuliert auch Van de Velde, jedoch über den alten, weißen Kanon in der Kunst.
"Ein Traum von einem Traum, es bleibt ein Traum"
Warum spricht er auf seinen fantastischen Zeitreisen in die Moderne nur mit den Biggies, den Stars, wie Hockney, de Kooning oder Joan Mitchell, die in Vétheuil, unweit von Monets Garten in Giverny gärtnerte und die Seelen von sterbenden Sonnenblumen malte? Ich komme mir vor wie ein progressiver Inquisitor. Er würde auch Outsiderkünstler wie den Briten Alfred Wallis einbeziehen, der in den 1920er-Jahren unglaublich tolle Boote malte, antwortet Van de Velde etwas erschöpft. "Ich beziehe einige Künstler nicht in erster Linie wegen ihrer Arbeit ein, sondern wegen ihrer Biografie, den Nebengeschichten, den Anekdoten. Ich interessiere mich besonders für Geschichten, bei denen man nicht weiß, ob sie wirklich wahr sind. Der Text ist für mich sehr wichtig. Ohne ihn könnte ich meine Zeichnungen nicht ertragen, sie wären nur schwebende Bilder.“
Ich frage ihn, ob er nicht einfach auf einsame Genies steht, auch wenn wir alle wissen, das die Zeit der einsamen Genies vorbei ist. Dabei denke ich wehmütig an die schizophrene Agnes Martin, meine Königin, die für Jahre in New Mexico verschwand, und merke wie bigott ich bin. Und natürlich liebe ich Joan Mitchell. Es ist wirklich ein Zwiespalt, zwischen der Demokratie und der Einsamkeit des Genies, oder?
Van de Velde denkt nach. Dann sagt er: "Monet ist der Pate der Plein-Air-Malerei. Für mich ist es ein Traum von einem Traum, es bleibt ein Traum. Ich bin in meinem Atelier und möchte es nicht verlassen und ins Freie gehen. In meiner imaginären Biografie sehe ich mich als Freiluftmaler und Freund von Monet. Ich gehe in seinen Garten in Giverny und wir malen zusammen. Und ich träume von diesem fiktiven Gespräch, das ich mit ihm führe. Die Malerei war für mich schon immer ein Ort, an dem ich träumen und phantasieren konnte."
Die Wärme einer atomaren Sonne
Das verstehe ich. Wir starren auf das Bild, auf dem der fragile Onkel-Gerd-Maler über die Brücke geht. Mir fällt ein, wie verloren all diese Ikonen bei Van de Velde aussehen, verstrickt in Dschungel, Dickicht, Gestrüpp, alle geblendet, blind, irgendwie suchend. Blinde, geniale Puppets. Wir starren auf das Bild. Ich lese die Untertitel: "Claude I said you have to listen, they are after you, all of you", steht da. "Who are they, he asked. That doesn’t matter for now, right now, you are on your own, so you have to look for alliances, you need legitimacy. Who needs legitimacy, when there is color, he replied." Es geht also um Verfolgungswahn und Farbe. Wer sind denn die Verfolger von Monet? Das wisse er noch nicht, sagt Van de Velde, aber eigentlich sei klar, dass er mit Monet in ein U-Boot steigt und zu Joan Mitchell fahren wolle. Das ist rührend.
Ich starre auf die Zeichnung mit dem fast blinden Monet und mir fällt ein, wie ich als Kind in den alten Schwarz-Weiß Filmen gespürt habe, wie dunkelgrün das Wasser des Sees war, an dem das kleine Mädchen dem Monster die Blume gab. Das Feuer der Mühle, in der Frankenstein und das Monster von den Bauern angezündet wurde, war heiß, gelb, orange. Man muss Farbe nicht erklären. Van de Veldes Zeichnung hat die Wärme einer atomaren Sonne, alle seine Bilder haben etwas mit Tod und Unerreichbarkeit zu tun, dem Bedürfnis diese Künstler durch die Zeit hinweg zu berühren, bei ihnen zu sein, aus einer Unmöglichkeit heraus mit ihnen zu kommunizieren.
"Na gut", sage ich zu ihm, "ich glaube ich habe dich verstanden." Ich stelle mir vor, ich bin eine kleine demokratische Maus und knabbere ein kleines Loch in die Zeit und blicke in Monets Welt, fühle seine Gefühle. Vielleicht ist es 1923, er kann durch zwei Operationen besser sehen, malt wieder Seerosen. Er geht da alleine den Weg über das Wasser, in seinem Kopf ist eine leise Stimme, ein Murmeln, Englisch, das keinen Sinn macht: "Claude, I said, you have to listen …" Den Rest kann er nicht hören. Ein leichter Stich durchfährt ihn, ein Vogel fliegt auf, die Sonne reflektiert sich im Wasser. Etwas hat ihn berührt, doch ist das nach wenigen Schritten bereits vergessen.