Ein spannungsvoll treibender Soundtrack füllt den grell ausgeleuchteten Galerieraum bei Esther Schipper in Berlin. Alles hier in der Ausstellung der Künstlerin und Romanschriftstellerin Cemile Sahin ist laut, in Bewegung, will gesehen werden. Als wäre man in einem Actionfilm gelandet. An den Wänden schreien blaue Großbuchstaben: "The Language of Power is / The Language of Precision". Die rote Kursivschrift, die zwischen diesen beiden Zeilen steht, lässt sich nicht ganz entziffern. Darüber ist eine Serie von 16 bunt bedruckten Aluminiumpaneelen angebracht. Mal ist darauf ein roter Lippenstift zu sehen, mal ein pinkes Auto oder ein goldenes Messer. Auf den ersten Blick sehen diese kitschigen, hyperrealen Drucke aus wie Memes aus einem Instagram-Feed, denn auch in diese Bilder integriert Sahin Schrift. In der Ecke des Raums, auf die die Satzreihen an der Wand fluchtpunktartig ausgerichtet sind, thront ein riesiger Screen. Auf dem läuft Sahins neuestes Video, das der Schau ihren Titel gibt: "ROAD RUNNER". Ein gelber Teppich durchschneidet die Bodenfläche und schafft so eine Verbindung zwischen den einzelnen Elementen – Schrift, Bild und Video.
Die Szenerie überfordert. Zu bunt, zu grell, zu viel. Aber trotz des erhöhten Stresslevels will man sich am liebsten der Flut an Bildern und Informationen einfach hingeben, den Actiondurst stillen. Sich auf dem gelben, weichen Teppich vor dem Bildschirm niederlassen, quietschsüße Limonade aus einem Pappbecher mit Strohhalm schlürfen und wie ein Kind mit aufgerissenen Augen der Geschichte folgen, die Sahin in ihrem Video erzählt.
"ROAD RUNNER" spielt in einer dystopischen Zukunft, in der Killerdrohnen die Kontrolle übernommen haben. Protagonistin ist eine junge Frau mit dem kurdischen Namen Bêrîtan, die in der Virtual Reality darum kämpft, ihre Schwester aus der digitalen Gefangenschaft zu befreien. In diese virtuelle Parallelwelt gelangt Bêrîtan durch das Auftragen einer speziellen Hautcreme namens "Dreamscape". Laut Werbespot, den sich Sahin als Teil des Films ausgedacht hat, enthält diese Creme nicht nur Magnesium und Sheabutter, sondern auch sogenannte "vr-activated nano particles" – eine "bahnbrechende Formel, die Ihre Haut in ein digitales Portal verwandelt", wie die Stimme im Spot verkündet.
Drohnen als wiederkehrendes Sujet in Sahins Arbeit
Das Besondere an Sahins Videos, und so auch bei "ROAD RUNNER", ist der rasante Genremix: Klassische Spielfilmszenen wechseln sich hier mit Drohnenaufnahmen, Werbespots, Animationen und Szenen aus Videospielen wie "Grand Theft Auto", "Counter Strike" oder "Super Mario" ab. Ob Bêrîtan ihre Schwester befreit, bleibt am Ende dieses unterhaltsamen 15-minütigen Sci-Fi-Kurzfilms offen.
Dabei ist das Thema gar nicht amüsant, denn es geht um Drohnen. Ein wiederkehrendes Sujet in Sahins Arbeit: Bereits 2023, in ihrer Ausstellung "Gewehr im Schrank" im Nassauischen Kunstverein Wiesbaden und in der Installation "Drone Valley" für die Biennale in Lyon ein Jahr zuvor ging es um die Kriegsführung mit ferngesteuerten Kampfflugzeugen. Die junge Künstlerin interessiert sich dafür, wie bestimmte Techniken, die ursprünglich in Kriegsgebieten eingeführt wurden, Teil des Alltags werden. Kinder spielen mit Drohnen. Im Krieg sorgen bewaffnete Drohnen dafür, dass Menschen sterben.
Die Drohne, die Sahin für ihr Video "ROAD RUNNER" verwendet hat, entspricht dem Modell, das die Türkei zur Überwachung und Bekämpfung kurdischer Gruppen einsetzt. Sahin wurde 1990 als Tochter kurdischer Eltern in Wiesbaden geboren, die einige Jahre zuvor aus dem Osten der Türkei nach Deutschland geflüchtet waren. Als Kind lebte Sahin für einige Jahre mit ihrer Familie in Dêrsim, bevor sie nach Deutschland zurückkehrte. Sahin machte ihr Abitur in England, studierte Kunst in einer Konzept-Klasse an der Central Saint Martins University in London und beendete ihr Studium an der Universität der Künste in Berlin. Interessanterweise in der Malerei-Klasse von Markus Lammert.
Zack, zack, weiter im Text – es geht um etwas
Bereits währenddessen fing sie an, ihren ersten Roman namens "Taxi" zu schreiben. Inzwischen hat sie drei Bücher veröffentlicht, ihr neuestes, "Kommando Ajax", erzählt im Stil eines Actionfilms mit schnellen Cuts von einem Kunstraub. Sahins Sätze sind kurz, prägnant, wuchtig. Sie knallt die Szenen aneinander wie Schüsse aus einem Schnellfeuergewehr. Es scheint ihr nicht darum zu gehen, wie ein Satz möglichst gut klingt, sondern dass er etwas aussagt. Und zwar genau das, was sie mit ihm ausdrücken will, schnörkellos. Zack, zack, weiter im Text. Es geht um etwas.
Sahin sagt, dass sie politische Kunst wichtig findet. Dabei geht es ihr aber nicht um eine persönliche, individuelle Perspektive – ihre als Kurdin zum Beispiel. Sondern um das Aufzeigen des politischen Konflikts an sich, als Teil einer kollektiven Geschichte, die aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt und (um-)geschrieben wird: So sind Nachrichtenbilder aus Kriegsgebieten oft manipuliert – Instrumente einer psychologischen Kriegsführung.
Mit ihren multimedialen Installationen zeigt Sahin auf, inwiefern Geschichtsschreibung durch Medien und Formate beeinflusst wird, entstanden aus einem Gemenge unterschiedlicher Interessen und Ästhetiken. Je nachdem in welchem Medium politische Geschehnisse erzählt werden, ist die Wirkung anders. Bereits als Kind hat sie Biografien von historischen Figuren gelesen, und noch heute saugt sie wie eine leidenschaftliche Forscherin alles auf, was ihr in die Finger kommt: Broschüren von der Polizei NRW, Anleitungen für technische Geräte, sie durchforstet Online-Archive, schaut Videos auf YouTube und TikTok, besucht nerdige Technikmessen und liest X zum Einschlafen.
Sahins Welt glänzt, und sie ist gruselig zugleich
Die bunten meme-ähnlichen Bilder in der Ausstellung bei Esther Schipper hat Sahin mit einer KI erstellt, die sie vorher mit ihren Werken trainiert hat. Und natürlich hat die KI ihre künstlerische Handschrift extrem gut imitiert. Auf einem Bild sind glänzende Diamanten auf gelbem Hintergrund zu sehen. Darauf steht in Schreibschrift: "And then suddenly / you’re about to pay the price". Eine andere Tafel, auf der eine trockene Wüste zu sehen ist, verkündet: "The future is dry and hot / and lonely without you". So kitschig – und doch so wahr. Der Klimawandel ist real, aber die Gefühle, die man während des Liebeskummers durchlebt, sind es auch. Oder ist mit dem "du" gar keine Person gemeint, sondern die Natur – die Pflanzen, Bäume und Tiere, ohne die wir auch lonely wären?
Ein weiteres Aluminiumpaneel zeigt eine Hand mit langen, pinken Fingernägeln, die ein goldenes Messer mit glänzender Klinge hält: "The sharpest blade is the one / you never see coming". Wahrscheinlich ist nicht das Messer, sondern sind die pinken, scharfen Krallen gemeint. In den fälschlicherweise mit Klischees behafteten Symbolen der "Tussi", wie eben zum Beispiel überlangen Gel-Fingernägeln, steckt nämlich, wie Jovana Reisinger 2022 in der "Vogue" geschrieben hat, "eine subversive Kraft". Kein Wunder, dass Sahin selbst auch solche langen Kunstnägel trägt.
Sahins Welt glänzt, und sie ist gruselig zugleich. Diese Gleichzeitigkeit entspricht unserem alltäglichen Umgang mit sozialen Medien und mit KI. Wir geben uns den Bildern und Aussagen hin und vertrauen, obwohl wir es eigentlich besser zu wissen glauben. Indem Sahin unterschiedliche ästhetische Register kombiniert, die einem zunächst einmal alle bekannt sind, fühlt man sich in ihrer Bilderwelt erst wie zu Hause, um dann an der ein oder anderen Stelle zu merken, dass man es sich auf dem gelben Plüschteppich vielleicht doch nicht allzu gemütlich machen sollte.
Eine Geschichte, die womöglich böse endet
Diese Strategie wird auch anhand der für die Aluminiumpaneele gewählten Typografie augenfällig: Die schnörkelige Schreibschrift erinnert an einen Font, der für das Einblenden des Titels von Märchenfilmen genutzt wird. Märchen funktionieren nach einem ähnlichen Muster: Anfangs ist man noch ganz beseelt von der Geschichte und den Figuren, bis sie sich langsam als etwas anderes entpuppen als das, für was man sie gehalten hat – und die Geschichte womöglich böse endet.
Mit Drohnen kann man spielen, und mit Drohnen kann man töten. Mit pinken Fingernägeln kann man kokettieren, und mit pinken Fingernägeln kann man jemandem die Augen auskratzen.