Künstlerkollektiv Rocco und seine Brüder

"Tunnel sind Leinwände und Bahnsteige Bühnen"

Rocco und seine Brüder verwandeln verbotene Orte in Theaterkulissen, unterwandern Sicherheitssysteme und schaffen Freiräume für die Kunst, wo keine vorgesehen sind. Ein Gespräch über geheime U-Bahn-Tunnel, die Freiheit des Trotzdem und eine Aufführung, die nie hätte stattfinden dürfen

Hey Rocco, hey Brüder, ihr fühlt euch in U-Bahntunneln sehr wohl. Sie sind wie euer zweiter Lebensraum. Einmal habt ihr ein ganzes Schlafzimmer dort eingerichtet. Ein anderes Mal habt ihr ein Theaterstück aufgeführt und eine Premiere mit 100 Leuten und Sektempfang gefeiert. Was macht diese Unterwelt so besonders? Wie ist das Licht, wonach riecht es, wie fühlt man sich dort?

Die U-Bahn-Netze sind die wahren Adern der Stadt. Sie verlaufen unter der sichtbaren Oberfläche, entziehen sich dem öffentlichen Blick – und doch pulsiert das Leben in ihnen. Oft spiegeln sie die Persönlichkeit der Stadt wieder: Sie können neu, steril und sauber sein wie in München oder Wien, oder alte, dreckige, labyrinthartige Tropfsteinhöhlen wie in Paris oder New York. Sie können knapp 100 Meter unter der Erde liegen und als brutalistische Atomschutzbunker konzipiert sein wie in Moskau und St. Petersburg, oder nur einige Meter unter den Straßen, wie bei uns im märkischen Boden Berlins. Sie sind Treffpunkte, an denen unterschiedlichste demografische Gruppen auf engem Raum aufeinandertreffen. Sie bieten einen Rückzugsort vor und nach der Arbeit, einen Schutzraum vor dem Lärm, der Hektik und dem Klima der Stadt. Und doch rauscht man nur buchstäblich hindurch. Die Tunnel sind "Un-Orte" – reine Transiträume ohne menschliche Interaktion, nach dem französischen Ethnologen Marc Augé.

Un-Orte, die verführerisch sind.

Es sind strikt limitierte Räume, in denen es verboten ist, sich aufzuhalten. Der Reiz besteht darin, ihnen neue Bedeutungen zu verleihen, was schon geschieht, wenn man einfach nur durch sie hindurchspaziert oder dort verweilt und nachdenkt – sie quasi zu Orten zu machen, für die sie nicht geschaffen wurden. Das Annektieren von Raum ist ohne Frage ein Evergreen in unseren Arbeiten. Die Tunnel haben einen besonderen Zauber, seit wir als Teenager anfingen, U-Bahnen zu besprühen. Je mehr man sie erforschte, desto reizvoller wurden sie. Wir entdeckten verborgene Tunnelsysteme – Geisterbahnhöfe und Rohbautunnel, Relikte vergangener Zeiten und unvollendeter Städteplanungen. Viele einst angedachte Bahnhöfe schlummern brach unter unseren Füßen – geheimnisvoll, unerschlossen und voller historischer Artefakte. Einmal haben wir Ende der 90er-Jahre eine Tür aufgehebelt, hinter der ein Raum mit einem Hakenkreuz an der Wand zum Vorschein kam. Auch hier in Berlin wurden die Tunnel im Krieg als Bunker genutzt. Die Chrom-Sprühdosen in unseren "Eastpak"-Rucksäcken haben damals unseren Beitrag zur Entnazifizierung der Berliner U-Bahn-Tunnel gesichert. Wir sehen die Welt dort unten durch unsere eigene Brille, leben in einer anderen Matrix. So wie unter den Straßen Berlins ein verborgenes Netz aus Tunneln und Räumen pulsiert, so codieren wir ihre Umgebung durch unsere eigene Sichtweise. Tunnelwände sind Leinwände und Bahnsteige Bühnen.

Was nimmt man da unten direkt war? Was hört man zum Beispiel?

Da die Berliner U-Bahn wegen des sandigen Bodens nicht tief gebaut wurde, hört man durch den Stahlbeton das entfernte, dumpfe Rauschen der Autos. Ab und zu dringen Gesprächsfetzen flanierender Passanten durch die Lüftungsschächte nach unten. Die Stromschienen knacken, die Gleise summen und die Holzbohlen ächzen, wenn sich ein Zug nähert. Und plötzlich wird es blitzartig hell und laut, der Zug donnert vorbei, mit ahnungslosen Menschen, die durch die Stadt getragen werden. Hinter einem Pfeiler hockend, schaut man ihnen aus dem Dunkeln zu, wie sie aufs Handy starren und gelangweilt an der Tür lehnen. Und zack, sind sie wieder weg. Die roten Rücklichter der U-Bahn entfernen sich, und es wird wieder still. Du merkst schon, wir haben einen leichten Hang zur Romantisierung.

Wie richtet man ein Schlafzimmer dort unten ein, ohne bemerkt zu werden? Und wie seid ihr an den Strom gekommen?

Um die Arbeiten nicht zu entmystifizieren, möchten wir nicht ins Detail gehen. Auch glauben wir, dass die BVG weniger verärgert wäre, wenn wir nicht allzu viel über Schwachstellen in ihrem Sicherheitssystem preisgeben. Aber wir sind weder ein professionelles Umzugsunternehmen noch Doppelnull-Agenten – es gibt dennoch Möglichkeiten. Am wichtigsten ist es, Gefahren für andere zu vermeiden. Beispielsweise wurde das U-Bahn-Zimmer, wie auf den Fotos zu sehen, hinter der Notausgangstreppe in einem Raum errichtet und hat zu keiner Zeit Rettungswege blockiert, wie es von den Verkehrsbetrieben behauptet wurde. Es handelte sich um ein stillgelegtes Gleis, also keine Gefahr für den Personenverkehr. Alles war brandschutzkonform, und die Baugenehmigung liegt vor.

Eines eurer aufwendigsten Projekte war das Theaterstück "Blaues Licht". Was habt ihr dafür alles aufgebaut, wie waren die Vorbereitungen?

Das größte Problem bei "Blaues Licht" war tatsächlich, den passenden Ort zu finden. Es musste ein U-Bahn-Tunnel sein, unbefahren und idealerweise ein Rohbau ohne Gleise. Dennoch sollte das typische U-Bahn-Feeling nicht fehlen. Das bedeutete, dass in unmittelbarer Nähe Züge vorbeirauschen mussten: Das charakteristische Lichtspiel der von innen beleuchteten Waggons, die an Betonpfeilern vorbeifahren, sollte sichtbar sein. Auch der Luftzug, der entsteht, wenn eine U-Bahn einfährt, musste spürbar sein. All diese Details waren für uns wichtig – essenziell für die Inszenierung. Der Ort musste Platz für eine Bühne und Bestuhlung für 100 Personen bieten, sowie für die Technik und weiteres Equipment. Daher brauchten wir einen Tunnel, der ursprünglich für zwei Gleise ausgelegt war, um die nötige Breite zu haben. Zudem benötigten wir Strom – 220 Volt. Diesen gibt es trotz Stromschiene und Wandkabeln nicht überall im Berliner U-Bahn-System, sondern nur vereinzelt, etwa dort, wo eine Wasserpumpe installiert ist. Diese Pumpen werden jedoch regelmäßig gewartet, also mussten wir genau herausfinden, wann das der Fall war. Schließlich wollten wir nicht plötzlich einen echten BVG-Mitarbeiter als Cameo auf der Bühne haben. Der Standort durfte zudem nicht zu einsehbar sein und musste weit genug vom nächsten Bahnhof entfernt liegen. Rettungswege und mindestens ein Notausgang mussten sich in unmittelbarer Nähe befinden. Es musste genug Licht für die Sicherheit vorhanden sein, aber es durfte nicht die Atmosphäre stören – am besten steuerbar. Du siehst, die Anforderungen waren nicht gerade einfach.

Was für einen Ort habt ihr dann gefunden?

Letztlich fiel die Wahl auf die Bauvorleistung einer nie fertiggestellten Linienverlängerung zum ehemaligen Flughafen Tegel – ein sogenannter Geistertunnel. Ein Seitenarm der stark befahrenen U7 am Bahnhof Jungfernheide, parallel zur genutzten Strecke, aber unbenutzt und sichtgeschützt. Der Tunnel führt vom Bahnsteig Jungfernheide ins Dunkel, unterquert den Westhafenkanal und endet nach etwa 200 Metern im Nichts. Dort befindet sich eine Notausgangstreppe, die wie üblich mit einem charakteristischen blauen Licht gekennzeichnet ist, was den Tunnel in eine szenische Atmosphäre taucht. Der Ort war perfekt. Das größte Hindernis war es, wie so oft, das Equipment hinunterzubringen. Vom Bahnsteig aus ging das nicht, da dort flächendeckend Überwachungskameras installiert sind und der Weg viel zu weit für das schwere Material gewesen wäre. Also blieb nur der Notausgang. Allerdings war der Lüftungsschacht eng, weshalb wir die Bühne so konstruieren mussten, dass sie aus mehreren Segmenten bestand, aber vor Ort einfach zusammengesetzt werden konnte. Die Rückwand sollte klappbar sein, da sie einerseits als Projektionsfläche für Filmsequenzen dienen, andererseits aber nicht immer die natürliche Tunnelperspektive verdecken sollte. Den Tunnel mussten wir auf halber Strecke zum Bahnhof mit etwa 40 Quadratmetern Molton abhängen, als Licht- und Schallschutz gegenüber dem Bahnhof. Die gesamte Aktion erforderte etwa ein halbes Jahr an Planung und Vorbereitung vor dem eigentlichen Event.

Zur Premiere habt ihr euer Publikum mit Reisebussen an die U-Bahn-Notausgänge gefahren. Dort habt ihr den Eingang mit einem Zelt und Personal in Kostümen der Berliner Unterwelten getarnt. Auch falsche BVG-Securitiy-Mitarbeiter waren dort. Warum seid ihr nicht aufgefallen?

Das ist unsere Mimikry im Großstadtdschungel. Wir benutzen gerne den Begriff des "orangenen Camouflages". In Berlin ist sowieso jeder eher auf sich selbst fokussiert und nimmt die Umgebung im Alltag oft kaum wahr. Und wenn dann noch gelbe oder orange Westen ins Spiel kommen, hat fast jede Handlung plötzlich ihre Berechtigung. Der Notausgang liegt zwar relativ abgelegen, an einem kleinen Weg entlang des Kanals, aber dennoch kommen regelmäßig Fußgänger oder Autos vorbei. Auch die Wasserschutzpolizei dreht ihre Runden auf dem Wasser. Diese kennen natürlich den Tunnelzugang, weshalb wir ein vermeintliches Event der Berliner Unterwelten in Zusammenarbeit mit der BVG inszenierten. Ein Zelt wurde aufgestellt, ein roter Teppich mit goldenen Tensatoren vor der Lüftungsklappe platziert. Frisch gebrandete BVG-Vans wurden strategisch so geparkt, dass sie vom Wasser aus gut sichtbar waren, und vermeintliche BVG-Sicherheitskräfte überwachten das Geschehen. So kam es, dass nicht nur die Passanten keinen Verdacht schöpften, sondern auch die Wasserschutzpolizei freundlich grüßte und mehrmals unaufgeregt an uns vorbeituckerte.

Wie lief es unten ab? Ihr habt sogar euren Brandschutz selbst organisiert?

Brandschutz ist ein großes Thema, besonders nach deutschen Standards, aber wir haben alles getan, um für die Sicherheit zu sorgen. Feuerlöscher wurden mit in den Tunnel gebracht, und überall waren Gelbwesten im Einsatz, die die Theatergäste einwiesen und begleiteten. Bereits während der Anreise wurden die Gäste über ein BVG-Aufklärungsvideo auf den Bildschirmen der Reisebusse darüber informiert, wie man sich in den Tunneln richtig verhält. Unsere BVG-Hostessen erklärten in bester Eurowings-Manier die Sicherheitsvorkehrungen vor Ort.

Ich habe gehört, im Publikum saßen auch Grünenpolitiker aus dem Abgeordnetenhaus. An einer Stelle eures Stückes hieß es: "Willst du nicht gegen ein Leben rebellieren, in dem Autonomie utopisch ist? Ich verachte Menschen, die arbeiten um für andere etwas zu werden. Wichser!" Was war das für ein Theaterstück?

Das Stück ist eine Art autobiografischer Dialog zwischen einer 20-jährigen und einer 33-jährigen Version derselben Person. Beide befinden sich in der gleichen Zelle einer Gefangenensammelstelle und diskutieren über ihre Weltansichten und ihre Selbstwahrnehmung. Gedanken verschmelzen mit ausgesprochenen Dialogen, die immer wieder von Erinnerungsfetzen in Form von Filmsequenzen unterbrochen werden. Das von dir genannte Zitat stammt aus einem dieser Dialoge. Dennoch ist das Stück eher selbst- als fremdkritisch.

Im Publikum saß ein bunter Mix aus unterschiedlichen Alters- und Berufsgruppen. Viele von ihnen waren das erste Mal in einem U-Bahn-Tunnel – abgesehen von einer U-Bahn-Fahrt –, und hatten mit dem im Stück beschriebenen Leben etwa so viel zu tun wie Harald Juhnke mit alkoholfreiem Bier.

Und dennoch haben sich alle darauf eingelassen. Niemand hat vor dem offenen Notausgang kehrtgemacht – das war stark.

Die Vorarbeit zu euren unterirdischen Projekten ist bis ins Detail geplant und dauert viele Monate. Es ist wie eine Performance, die nach euren eigenen Regeln verläuft, da ihr nicht erwischt werden dürft. Fängt hier nicht schon das Werk an?

Auf jeden Fall. Für uns beginnt das Kunstwerk bereits mit der Planung, die oft selbst einen performativen Charakter hat: nächtelanges Beobachten, das Überlisten verschiedener Sicherheitsmaßnahmen, das Minimieren von Unbekanntem. All das gehört dazu. Auch die Nachbearbeitung spielt eine große Rolle im Gesamtkunstwerk, auch das Spiel mit den Medien. Das mysteriöse U-Bahn-Zimmer beispielsweise wurde von einem angeblichen BVG-Mitarbeiter namens Norbert Schmidt während seiner monatlichen Tunnelbegehung entdeckt. Hat der gestaunt. Zufällig hatte er seine Spiegelreflexkamera dabei und lieferte dem Boulevard erstklassige Bilder zu seiner Geschichte. Schnell wurde er nach der Pressesprecherin Petra Nelken der meist zitierte BVG-Mitarbeiter überhaupt. Von der "New York Times" über den "Guardian" bis hin zu fast jeder deutschen Zeitung. Nur stellte sich bald heraus, dass niemand mit diesem Namen jemals bei der BVG angestellt war.

Wie unterscheidet sich Kunst, die nicht nur in dafür vorgesehenen Räumen entsteht?

Unserer Meinung nach ist sie freier, sie unterliegt keiner Zensur. Und bevor jetzt jemand "Kunstfreiheit!" ruft – das meinen wir nicht.  Sie ist wirklich frei. Sie verliert ihre elitäre Unnahbarkeit und wird für alle zugänglich. Jetzt sprechen wir von Kunst im "öffentlichen" Raum, also auch außerhalb der Tunnel. Nicht, dass die Leser jetzt denken, wir verbringen unsere komplette Freizeit im Keller wie Kaspar Hauser. Das "öffentlich" setzen wir bewusst in Anführungszeichen, weil dieser Raum letztlich gar nicht wirklich öffentlich ist. Auch er unterliegt einer ständigen Zensur. Insofern ist die Illegalität der zweite entscheidende Faktor, um wirklich freie Kunst zu schaffen. So wird der Un-Ort zum Ort.

Das Öffnen von verschlossenen Orten, das künstlerische Arbeiten, aber auch das Sich-Aufhalten in verbotenen Räumen hat schon von sich aus einen politischen Charakter. Wie seht ihr das in Hinblick auf die Entwicklung unserer Städte?

Wir bestehen schlicht auf unsere moralische Teilhabe, ob auf den Dächern oder in den Kellern der Stadt. Es mag pathetisch klingen, aber wir versuchen damit auch, trotz der Illegalität ein höheres Rechtsgut zu schützen. Wir sehen es als künstlerischen Akt – eine Performance, ein Tanz mit dem Nicht-Erlaubten. Verbote markieren die Grenzen der Gesellschaft. Ihre Umgehung lenkt den Blick der Gesellschaft auf genau diese Grenzen. Diese autonome Vergrößerung unserer Freiräume ist von manchen Menschen nicht so gern gesehen und es wird viel unternommen, um sie zu unterbinden. Möglichkeiten werden kleiner, tote Winkel verschwinden.

Was haben euch die Stadt und eure illegalen Aktionen über Kunst beigebracht, was eine Kunsthochschule nicht beibringen könnte?

Wir glauben, das Wichtigste ist tatsächlich die erleichternde Gewissheit, dass Kunst auch außerhalb der Galerie- und Art-Fair-Bubble funktionieren kann, wo Erfolg an getrunkenem Crémant auf Eröffnungspartys gemessen wird. Und dass man sich den Schlüssel zur Stadt selber basteln kann.

Wie verändert sich die Wahrnehmung da unten in den Tunneln? Kann man dort besser nachdenken, oder ist es zumindest ein anderes Nachdenken? Das Geistige wird ja auch immer von Freiheit und Einengung, Erleichterung und Anspannung beeinflusst.

Jein. Es wäre natürlich ein schönes, romantisches Schlusswort, à la "da unten sind die Gedanken frei". Aber trotz aller gefühlten Freiheit ist es dort unten doch recht beengt. Es ist weniger ein Ort zum Nachdenken, sondern eher einer, um Gedanken in die Tat umzusetzen. Man ist immer ein bisschen mit den Gedanken woanders, hat ein Auge auf die Stromschiene und ein Ohr auf herannahende Züge. Es gibt Momente völliger Ruhe, die jedoch schnell in Hektik und Unruhe umschlagen können.

Ich habe schon öfters die Formulierung von "der Freiheit des Trotzdem" verwendet. Was meint ihr damit, bezogen auf eure Arbeit ?

Das trifft es ganz gut. Denn man kann nur von freier Kunst sprechen, wenn man untersagte Dinge, deren Unterlassung die eigene Arbeit einschränken würde, trotzdem tut. "Trotzdem" ist ein wunderbares Wort.