Andreas Mühe, ganz naiv gefragt: Gibt es so was wie eine ostdeutsche Kunst?
Es gibt auf jeden Fall eine Kunst, die bis 1989 getätigt wurde in diesem Land, das untergegangen ist. Und es gibt junge und ältere Künstler, die nach '89 in dieser Stadt und im gesamten Ostgebiet weitergearbeitet haben. Und vielleicht auch im Westen, denn es sind ja auch viele Leute, mit die berühmtesten, von Dresden nach Düsseldorf gegangen.
Das war allerdings schon vor 1989. Sie sprechen von Gerhard Richter, A.R. Penck und anderen, die sehr früh, teils schon in den 60er-Jahren "rübergemacht haben" und ihre Freiheit, ihre Karrieren im Westen gesucht haben. Wenn wir jetzt 35 Jahre nach dem Mauerfall darüber sprechen, was das Land teilt und ob sich tatsächlich verschiedene Kulturen in diesen 40 Jahren der Trennung herausgebildet haben: Was ist Ihre Antwort?
Wenn du im Osten geboren wurdest - und ich wurde 1979 in Karl-Marx-Stadt geboren und zehn Jahre sozialisiert: Einschulung, Kindergarten, Sportgruppen, blaues Halsband, sogar noch das rote Halsband, oder heißt es Halstuch? Wenn du so sozialisiert wirst, bist du ein bisschen empfindlicher für Dinge, die sich schnell verändern können. Eine Münze hat nicht zwei Seiten, sondern unendlich viele Seiten. Es dreht sich alles schneller, als du denkst. Und vielleicht sind wir aufgrund des Umbruchs alle ein bisschen sensibler als eine Generation, die ganz gemächlich in Westberlin und in Westdeutschland aufgewachsen ist.
Die Erfahrung, dass Systeme sich ganz schnell ändern und zusammenbrechen können, haben alle Ostdeutschen gemacht, aber keiner der Westdeutschen. Ihr großes künstlerisches Thema ist das gesamte Deutschland – Ost und West.
Ich finde einfach alles, was nach 1945 auf beiden Seiten passiert ist, sehr spannend. Es gibt so viele Facetten dieses Zusammenwachsens, bei allem, was vor und nach '89 passiert ist. Der Umgang mit dem Erbe von '45, diese Teilung, der Kalte Krieg, die Nato - also all das, was wir dachten, irgendwie ganz schnell hinter uns zu lassen, braucht doch mehr Generationen und mehr Zeit. Mit ein bisschen Abstand betrachtet, kann man die Sachen angehen. Deswegen bleibt Deutschland sicherlich auf ewig interessant.
Bis in die 1960er-Jahre gab es für die breite Bevölkerung gar nicht so viele Unterschiede zwischen Ost und West. Ich meine nicht die Führungselite, aber bei der Lehrerin oder dem Tankwart gab es wahrscheinlich ähnliche Denkweisen und Kontinuitäten aus der Zeit vor 1945. Dann ist im Westen etwas passiert, das im sich im Osten anders ereignete. 1968, als eine neue Generation die Eltern befragt hat, angeklagt hat: Was habt ihr während des Nationalsozialismus gemacht? Das war im Osten nicht nötig, es gab ja die Elite, die keine Faschisten waren. Im Westen hat das zum großen Umbruch im Sinne bürgerlicher, individueller Freiheiten geführt, im Osten nicht.
Im Osten gab es andere Kämpfe, die Aufstände in der Tschechoslowakei oder der Arbeiteraufstand '54. Es gab genug ähnliches Prozedere, das wurde halt viel brutaler niedergeschlagen. Klar, den '68ern im Westen ist viel zu verdanken. Aber das mündet dann in der Radikalisierung der RAF, die sich meines Erachtens irgendwann nur noch um sich selber dreht.
Im Osten sind diese Aufstände immer wieder niedergeschlagen worden. Ist das eine kollektive Gewalterfahrung, die uns auch trennt, weil man diese Gewalterfahrung im Westen so nicht gemacht hat?
Ja. Eine Erfahrung, die viele Leute im Osten machen mussten, und zwar diejenigen, die man Zivilgesellschaft nennt, die sich engagieren. Im Osten wurde vieles klein gehalten, was zivilgesellschaftlich hätte funktionieren können, bis hin zur Kirche. Alle möglichen Vereinigungen durfte es nicht geben, es musste ja alles auf eine Linie gebracht werden.
Dass es im Osten zu wenig Zivilgesellschaft gibt, wird ja bis heute auch bemängelt.
Wobei ich das gar nicht so ganz glaube. Die DDR hat einfach anders funktioniert. Der freiheitliche Gedanke war der rein sozialistisch-freiheitliche. Das war das eingesperrte Dasein und auf Linie folgen. All diese Kinder und jungen Leute der neuen Generation wurden ja auch ganz anders auf Staatsräson gebracht, durch ihre Erziehung, durch die Parolen und Lieder. Da wurde versucht, eine ganz andere Gesellschaft zu formen, was es so im Westen nicht gab. Das ist also ein gravierender Unterschied. Du bist anders aufgewachsen. Ich konnte schon gewisse Kindergeburtstage nicht feiern, weil an diesen Tagen Schwimmwettkämpfe waren. Dann kam der Sportlehrer nach Schöneweide zu meiner Mutter und sagte, wir können die nicht alle einladen, weil dann das halbe Schwimmteam fehlen würde. Dann macht man das halt nicht. Das sind feine Nuancen, aber der Staat hat eine ganz andere Kraft und Macht. Vieles hat sich im Stillen und Verborgenen abgespielt, was am Ende natürlich auch immer ein guter Antrieb für die Kunst war.
Ich habe den Eindruck gewonnen, diese Autokratien, Diktaturen, diese Von-Oben-Herab-Gesellschaften sind sehr ängstliche Gesellschaften - zumindest, was das Oben betrifft. Die haben Angst davor, dass unten was passiert: Kultur, Künstler, freie Denkerinnen. Warum?
Angst ist doch das beste Instrument, um ein Volk auf Linie zu bringen und zusammenzuhalten. Und gleichzeitig ist sie wunderbar geeignet, ein Vakuum entstehen zu lassen, in dem Subkultur und Andersdenkende viel präziser arbeiten, wo es um die Arbeit und um Inhalte geht und nicht um Darstellung und Performance.
Sie haben sich mit den Kanzlern und der Kanzlerin, mit Adenauer, mit Schmidt, mit Merkel beschäftigt. Sie haben sich der RAF genauso wie dem NSU genähert. Was spannend ist, weil Sie die teilweise analog setzen. Sie waren am Obersalzberg, also Hitlers Ferienresidenz in den Alpen. Sie waren in der Semperoper und haben da die Dynamo-Hools von Dresden fotografiert. Ihr Thema ist tatsächlich immer wieder und fast ausschließlich Deutschland. Warum?
Es ist einfach ein sehr interessantes Land. Und natürlich ist auch die Zusammenführung der beiden Länder 1989/90 unheimlich interessant. Was danach passiert ist, was versprochen wurde, wie das ging und wer wen eigentlich ausgeraubt hat. Und wie man jetzt auch Schritt für Schritt schaut, wo die Fehler waren. Für die Zusammenführung dieser zwei Staaten musste der Osten ja auch mit gewissen Leuten wieder neu besetzt werden. Da fängt schon mal der erste Fehler an, dass man vielen Ostdeutschen das nicht zugetraut hat und dann die Elite gekommen ist, die sich in diese großen, schönen Städte wie Leipzig, Dresden und Berlin gesetzt hat. Die jetzt im Rentenalter in den Weinbergen von Dresden abhängen und sich auf die Schulter klopfen, wie toll sie das alles gemacht haben. Sie haben aber vergessen, ein paar Leute mitzunehmen. Vielleicht liegt auch darin die Frustration. Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, was für ein diktatorischer Staat die DDR war. Es ist ja alles auf Messers Schneide hier, und es wird auch viel zusammengerührt in einem bunten Topf Ostdeutschland. Der muss aber viel genauer betrachtet werden. Man muss beide Seiten viel genauer betrachten, also auch NSU wie RAF.
Sie haben sich das in Ihren Arbeiten genauer angeguckt und haben die Terrorgruppen analog gesetzt. Die RAF, die nach '68 in den 70er-Jahren eine militante Verirrung einer eigentlich progressiven Szene war und die zu Mördern geworden ist. Und den NSU, der aus einem braunen Milieu kommt, losgeht und vor allem im Westen, in Nürnberg, Köln und so weiter migrantisch-deutsche Leute ermordet. Die einen morden sozusagen nach oben, die Elite, und die anderen morden nach unten. Wo sehen Sie die Parallelen zwischen diesen Gruppen?
Mörder sind Mörder. Das ist das absolute Gegenteil von allem, was den demokratischen Gedanken hegt. Da setzt der Fehler schon ein. Grundsätzlich, aus '68 heraus auf diesen Staat zu schauen - das ist jetzt eine Anmaßung von mir, weil ich ja in dieser Zeit noch nicht geboren bin – und zu sehen, dass sich kaum was verändert hat und dass die Spitzen immer noch kackbraun sind …
… obwohl, das waren die Willy Brandt-Jahre, der war ja tatsächlich im Widerstand, im Exil.
Aber der Apparat des Staates ist nicht die Spitze und ihr Leuchtturm, ihr leuchtender Punkt, Willy Brandt und Co, sondern das sind die Staatsdiener, eine Form von Elite. In dieser Zeit dann machtlos zu sein und zu sehen, dass das alte System die neuen Lichter nicht erkennt, da finde ich ja sogar Radikalisierung in gewisser Weise nachvollziehbar. Die Hilflosigkeit einer gewissen Gruppe ihrem Staat gegenüber, das verstehe ich. Dass Demos nicht reichen, okay. Aber was ist dann das Maß der Dinge? Diese Hilflosigkeit gibt es auch heute. Um den Schlusspunkt zum NSU zu finden: Das sind für mich teilweise die verlorenen Kinder der 90er-Jahre. Sie sind in einer Zeit des Umbruchs aufgewachsen, in der sich ihre Eltern mit Arbeitslosigkeit, bevorstehender Arbeitslosigkeit, mit Verwahrlosung konfrontiert sahen, auch wenn die zum Teil aus "guten" Elternhäusern kommen. Das alte System fiel zusammen, und im neuen sind sie nicht angekommen.
Der Vater des NSU-Terroristen Uwe Mundlos war Hochschullehrer.
Na ja, wer hat sich denn eigentlich um diese Kinder gekümmert? Ich sage immer, wenn ich über die 90er-Jahre in Berlin spreche, in denen ich groß geworden bin: Wir hatten die absolute Freiheit in dieser Stadt, weil keiner auf uns guckte. Die Erwachsenen waren mit sich, mit ihrer Arbeit, dem neuen System beschäftigt. Die mussten selber erst mal klarkommen. Das war für mich und für Teile meiner Generation eine wunderbare Freiheit, aber für andere halt vielleicht auch nicht.
Für diejenigen, die bei der Wende 14, 15, 16 Jahre alt waren, bestand die prägende Erfahrung darin, dass für sie etwas weggebrochen ist, also in der Pubertät, dem Alter, wo man Orientierung sucht und sich als Identität selbst schreibt. Auf einmal waren alle Autoritätspersonen, die Orientierung hätten geben können, mit sich selbst beschäftigt. Alles, woran diese Lehrerinnen noch gestern geglaubt hatten, war obsolet. Alles, was gestern noch erzählt wurde, war eine Lüge. Diese Jugendlichen waren unglaublich wütend.
Es wurde sich zu wenig um diese Kinder gekümmert, sowohl von der Elternschaft als auch vom Staat. Hier in Berlin hat allerdings gefühlt an jeder Straßenecke ein Jugendklub aufgemacht. Warum eigentlich? Die haben schon gesehen, dass Sozialarbeit ein wichtiger Punkt ist, um das abzufangen. Es gab bei uns auch Klubs im Prenzlauer Berg, wo ich groß geworden bin, da kamen auch mal kurz die Rechten rein, genauso wie die Linken. Das hat sich über die Jahre ein bisschen eingependelt. Die Jugend war auf der Suche. Ein Teil wurde vom Feiern abgezogen. Die anderen haben sich in härtere Kanäle verwandelt.
Sie stammen aus einer Künstlerinnenfamilie. Ihre Mutter war Intendantin, Ihr Vater Schauspieler, Ihre Schwester ist Schauspielerin. Die Stiefmütter sind auch alle im Theater gewesen. Sie haben das auch in einer Arbeit reflektiert. Ich erinnere mich an plastische Miniaturszenen, die darstellen, wie das bei Ihnen am Küchentisch und um das Klavier herum aussah. Was liefen da in den Wendejahren für Diskussionen am Küchentisch? Mit zehn ist man ja schon alt genug, um das mitzuschneiden.
Gute Frage. Erstmal müssen wir ja zusammenfassen: Im Frühjahr '89 ist der Aufstand am Platz des Himmlischen Friedens in Peking, China, gewesen, der wurde brutal niedergeschossen. Dann gingen bei uns im Spätsommer die ersten Flüchtigen aus der DDR, über Ungarn, Budapest. Die sind ja auch alle Teile dieser Bewegung. Auch die Flüchtigen haben dazu beigetragen, dass sich am Ende der Knoten gelöst hat.
Man sagte damals, die stimmen mit den Füßen ab.
Genau. Und das führt ja dann alles bis in den November, hier in Ostberlin, in Dresden. Und auch nicht zu vergessen: im Dezember in Rumänien die Absetzung von Nicolae Ceaușescu. Also '89 ist, glaube ich, eines der bedeutendsten Länderjahre auf der Welt.
1989 war, ähnlich wie 1968, so ein Jahr, wo überall gleichzeitig etwas passiert, ein Weltgeist am Werk ist. Karl Jaspers spricht von der "Achsenzeit", wenn so etwas an verschiedenen Orten zeitlich simultan passiert. Was waren das für Diskussionen am Küchentisch der Familie Mühe?
Meine Mutter, Annegret Hahn, arbeitete im Theater und lehrte an der Ernst Busch Hochschule. Gerade in dieser heißen Phase im Oktober und November ging sie immer in die Kirchen und überall dorthin, wo was los war. Sie war auch immer auf der Suche nach ihren Studenten, dass sie die irgendwie beisammen hält. Das kam uns Kindern immer komisch vor. Sie prägte bei uns, also bei meinem Bruder und mir zu Hause, diesen Satz: "Jungs, wenn ich jetzt nicht nach Hause komme, dann macht ihr euch morgens was zu essen und dürft zu Hause bleiben." Und wir haben dann immer gehofft, dass die Mutter im Zweifel nicht nach Hause kommt. Die Übersetzung würde heißen, dass sie für eine Nacht oder zwei weggesperrt würde. Das haben wir damals nicht so wahrgenommen. Wir hätten es gut gefunden, einen Tag nicht in die Schule zu gehen und uns selbst die Butterbrote zu machen.
Erinnern Sie sich an Diskussionen Ihrer Eltern? Ihr Vater Ulrich Mühe, ein berühmter Schauspieler, hat ja auch über diese DDR-Geschichte gearbeitet und in dem berühmten Film "Das Leben der Anderen" in der Hauptrolle brilliert. Was liefen für Diskussionen zwischen Ihren Eltern?
Meine Eltern waren zu diesem Zeitpunkt schon getrennt, aber man hat einfach die Stimmung mitbekommen. Man hat die Demos mitbekommen. In Berlin war ja immer der Vorteil, dass du die "Aktuelle Kamera" gucken konntest und auch SFB. Du konntest das schon als Kind miteinander vergleichen. Wir wurden in dieser Zeit dann auch an den Wochenenden zu meinem Großvater gebracht. Da gab es nur "Tagesschau", und so hast du schon Dinge im Fernsehen mitbekommen, die nicht in der Schule oder beim Lehrer verhandelt worden sind. Und ich kann mich auch noch an eine Lehrerin erinnern - das ist jetzt eine ganz banale Story -, die meinte: "Wenn man rübergeht, darf man nichts essen, da vergiftet man sich mit."