Gewaltige Wellen prallen vor der Küste Schottlands gegen die Felsen. Genauso aufgewühlt wie dieses Wasser ist auch das Innere der jungen Frau, die an den steilen Klippen steht. Im neuen Film "The Outrun" von Nora Fingscheidt ("Systemsprenger") spiegeln sich seelische Abgründe auch in der rauen Landschaft wider. Die Geschichte basiert auf dem autobiografischen Bestseller der Autorin Amy Liptrot. In Fingscheidts Adaption ist Saoirse Ronan in der Hauptrolle der Rona zu sehen und verkörpert darin eine äußerst herausfordernde und vielschichtige Figur. Die 29-jährige Akademikerin ist aufrichtig, aufregend - und abhängig.
Ihr Alkoholismus, ein eher ungewöhnliches Thema bei einer so jungen Figur aus einem hippen Großstadtmilieu, ist in dem Drama ungeschönt gezeigt. Ronas Geschichte spielt in drei Zeitebenen: Einmal in ihrer Kindheit, in den Armen ihres Vaters, der während seiner manischen Phasen seine Wutausbrüche kaum kontrollieren kann. Dann ist da die Zeit als Londoner Biologiestudentin und verliebte Alkoholikerin, die gierig eine Schnapsflasche aus einem Handtuch hinter dem Waschbecken hervorholt. Und schließlich die Gegenwart, in der sie sich in die Einsamkeit der Orkneyinseln zurückzieht, und in der am Rand der Leinwand die Anzahl ihrer nüchternen Tage vermerkt wird.
Die Rückblicke auf ihr von der Sucht geprägtes und reizüberflutetes Leben in London sind erschütternd. In Clubszenen scheinen die Bilder zu zittern, der Sound wirkt doppelt so laut. Nachdem Rona im wahrsten Sinne auf dem Boden aufgeschlagen ist, macht sie einen Entzug und findet sich dann auf dem entlegenen Fleckchen Inselerde wieder, weit weg von den Versuchungen ihrer alten Muster und Routinen. Die Zeitsprünge verwirren und geben den Zuschauenden gleichzeitig Halt. Sie sorgen für die nötigen Konturen einer Handlung, die ansonsten ein wenig platt wirken könnte.
"Dass Jesus sie nicht gerettet hat"
Im Film ist durchgehend spürbar, wie wenig Rona sich selbst vertrauen kann, wie enttäuscht sie von sich selbst ist und wie wenig Macht sie über sich selbst hat. Sie kann kaum einschätzen, welche Situationen ihr Verlangen nach Alkohol triggern oder wie sie damit umgehen wird - ob sie den Finger, den sie bei einem Besuch apathisch in das Weinglas des depressiven Vaters steckt, nur ableckt, oder ob daraus ein unkontrollierbarer Rückfall wird.
Rona wirkt zuweilen wie ein verletzliches Kind. Nachdem sie in einer Dorfbar doch getrunken hat, weint sie auf dem Bett ihrer Mutter. "Dass Jesus sie nicht gerettet hat", jammert und lallt sie immer wieder mit weinerlicher Stimme. Das Jesus-Kreuz, mit dem ihre Mutter sie stets zum Glauben bekehren will, hat sie in den Küchenmüll gestopft. Die Zahl der nüchternen Tage springt erbarmungslos wieder auf null.
Schließlich entscheidet sich Rona für ein Leben in der Einöde. Sie sammelt Algen und starrt viel aus dem Fenster. Zweimal werden irische Märchen als Animation erzählt. Was diese jedoch der Geschichte hinzufügen, leuchtet nicht wirklich ein. Auch wiederholen sich einige Szenen: Es stürmt, Rona badet im eiskalten Atlantik, backt in ihrer Küche Brot. Es stürmt und stürmt, während sie sich im Kerzenschein unter Papierstapeln vergräbt und allein Weihnachten feiert.
Die Landschaft verspricht Freude und Ruhe
Die Dialoge wirken schonungslos und direkt, was zur stark emotionalen Grundstimmung beiträgt und die Zuschauerin immer wieder zusammenschrecken lässt. "I miss it", sagt Rona im Kreis ihrer Klinikgruppe. Sie vermisst das Gefühl, das ihr der Alkohol gab. Oft ist die Kameraeinstellung in entscheidenden Momente so gewählt, dass Saoirse Ronan nur minimal an der Kamera vorbeischaut. Das Publikum fühlt sich angeschaut und angesprochen.
Schottlands Naturschönheit und –gewalt sind in dem Film der Kitt zwischen Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit. Die Landschaft enthält das Versprechen auf Freude und Ruhe - genau den Zuständen, die Rona sucht. Im Entzug behauptet sie, sie wisse nicht mehr, was Glück ist. Sie fühlt die kleinen Erdbeben auf der Insel, sie tagträumt, versucht, Winde mit den Händen zu dirigieren. Schroffe Klippen und weitläufige Felder werden als lange, ungeschnittene Sequenzen gezeigt und lassen Dialoge und Ronas Unsicherheit nachwirken.
Alkohol betäubt, in mit Angst verbundenen Situationen wirkt er im Gehirn beruhigend. Donner und laute Schläge mischen sich mit harten Beats der Londoner Clubs, zu denen Rona sich unkontrolliert bewegt. Die Situation spitzt sich zu, immer wieder werden Szenen aus ihrer unruhigen, ja traumatischen Kindheit eingeblendet.
Feinfühligkeit für die Fragilität des Lebens
Im Rückblick schlägt der manische Vater Fenster ein, während Rona unter dem Tisch kauert. Nach ihrem Entzug werden die Szenen langsamer, das Licht ist heller - im Sonnenschein offenbart sie ihrer Mutter, dass sie London verlässt. Lange wartet man auf den Moment der Eskalation, ahnend, dass die ständig aufgerissenen Coladosen eine Bedeutung haben, dass sie Ausdruck einer wachsenden Gereiztheit sind.
Nach ihrem Ronas werden die Bilder mächtiger und wirken kompositorisch und farblich perfekt balanciert. Die letzten Szenen zeigen die Hauptfigur an einer Klippe, die Wellen brausen unter ihr, die Musik ist anschwellend. Das Kupfer ihrer frisch gefärbten Haare sticht aus der petrolblauen Szene heraus. Das Bild wirkt malerisch, sie steht da wie die Wanderin über dem Wogenmeer aus einem Caspar-David-Friedrich Werk. Mit jedem Schlagen der Wellen auf die dunklen Steine scheint sie mit der Wucht und Wildheit der Natur eins zu werden und lässt sie durch ihre Finger, ihren Körper hindurchfließen.
Schottland-Fans sollten diesen Film unbedingt sehen, lange Einstellungen der Vegetation und Unterwasserszenen mit bezaubernden Seelöwen gehen Hand in Hand mit Saoirse Ronans Eindringlichkeit als Rona. Man kann sich auch auf die oft wackelige Kameraführung einlassen, denn worum es geht, ist Instabilität. Der Film zeigt eine große Sensibilität für das Thema Sucht und dessen realistische Präsentation - eine Feinfühligkeit für die Fragilität des Lebens. "The Outrun" ist wie ein Beat, der direkt in den Körper fließt. Man kann ihn nicht nicht fühlen.