Judy Lybke, letztes Jahr haben Sie das 40-jährige Bestehen der Leipziger Galerie Eigen + Art gefeiert. In dieser Zeit haben Sie erfolgreich Kunst gezeigt und Malerkarrieren befördert. Aber der Reihe nach, am Anfang steht eine inzwischen oft erzählte Anekdote: Sie haben tatsächlich in Ihrer Wohnung die Sammler und Sammlerinnen nackt empfangen?
Sammler und Sammlerinnen gab's damals nicht. Eher waren es Freunde, Freundinnen, irgendwelche Leute, die alle, genauso wie ich, eher außerhalb der Gesellschaft standen, nicht viel zu tun hatten und relativ jung waren, so zwischen 18 und 22 Jahren. Und die den ganzen Tag überlegt haben, was sie eigentlich machen können, wenn sie nicht studieren dürfen oder nicht arbeiten gehen wollen. Sagen wir es mal so: Das Beste, was man machen konnte, waren Partys. Das hat sich bis heute nicht geändert. Partys, lange schlafen, spät ins Bett gehen, alle möglichen Leute treffen. Aber nach ein, zwei Jahren ist das dann auch irgendwann mal öde. Und deswegen hat man sich überlegt: "Was machen wir jetzt? Wie sollen die Partys aussehen?"
Und, wie sollten sie aussehen?
Wir haben dann Themenpartys veranstaltet. Die erste war der "Prix de Jago". Wir haben umgeschwenkt auf meine Dachwohnung, mit Dachschrägen. Dort habe ich mit Thorsten Schilling zusammen gewohnt. Der hat damals noch Theologie studiert. Wenn wir uns in unserer 120 Quadratmeter zurückziehen wollten, hatte jeder jeweils ein Zimmer. Und der Flur und das andere Zimmer blieben für Ausstellungen frei. Wir haben alle zu einer thematische Party eingeladen und das Ganze "Die Neuen Unkonkreten" genannt. Wir wussten nicht wirklich, was wir wollten, deswegen haben wir das gleich als Titel genommen. Klingt doch gut. In einem Unkonkreten kann jeder alles sein. Und meine Aufgabe war es, Gastgeber zu sein. Jeder trat in dem auf oder machte das, was er konnte. Ich war in der Zeit Aktmodell an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, weil ich nicht Friedhofswärter werden wollte. So stand ich dort mit hochgebundenen Haaren nackt in der Tür. War eigentlich gar nicht so gedacht. Aber es hat die ersten Male zumindest geholfen, dass die Leute, die uns beobachtet haben - denn die waren ja immer mit dabei - sich vielleicht nicht direkt trauten, hochzukommen. Die ersten Male waren wir unter uns.
Warum durften Sie nicht studieren? Weil Ihre Eltern Akademiker waren?
Weil ich politisch divergent war. Am Anfang musste ich anderthalb Jahre zur Armee, wie alle anderen auch. Da habe ich dann "Macht Liebe, nicht Krieg!" mit Kreide draußen an die Kaserne geschrieben, sodass es alle lesen konnten. Das fanden die Offiziere nicht so gut. Deswegen wurde mir die Waffe entzogen, denn so einem Typen kann man keine Waffe anvertrauen. Ich wurde in die Bibliothek verdammt, und dort fristete ich dann den Rest meiner Zeit.
Ist ja keine Strafe!
Doch, für mich war es anfangs eine Strafe, weil du nicht mehr mit deinen Kumpels unterwegs bist. Du hattest da schon ein paar Freunde. Selbst in der Armee hat man ja versucht, sich zusammenzuschließen. Also war ich immer allein, und man konnte mir auch mit der Waffe nicht trauen.
Dann kann man doch endlich mal Clausewitz im Original lesen.
Nein, das war nicht so, denn ich konnte mir nicht mehr mit der Waffe Urlaub schießen. Wenn du gut schießen konntest, bekamst du Kurzurlaub. Also bekam ich auch keinen Urlaub mehr. Ich habe in der Zeit sonst auch keine Bücher gelesen, sondern habe einfach nur geschlafen, wochenlang. Irgendwann war es dann auch zu öde. Da habe ich mir halt ein Buch genommen. Bei Tsching Aitmatov habe ich angefangen, und bei Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" war die Zeit bei der Armee vorbei. Als ich wieder rauskam, hätte ich eigentlich Kraftwerkstechnik, Spezialrichtung Atomkraftwerkbau in der Sowjetunion, studieren können. Da ich aber von der Armee kam, war ich eigentlich nicht mehr bereit, wieder die ganze Zeit wegzugehen. Das war mir nichts mehr, denn das war ja auch wieder so eine "Closed-Club-Situation".
Mich erinnert das entfernt an Sven Regeners Roman "Herr Lehmann". Der hat als Westdeutscher in der BRD ja auch keinen Bock auf Militär, vergisst aber, zu verweigern und wohnt sonst in Bremen in der linken kommunistischen Hausbesetzerszene. Gab es in Leipzig, so wie in Ostberlin auch, diese Methode, einfach in leere Wohnungen einzuziehen? So, wie das angeblich auch Dr. Angela Merkel und ihr damaliger Mann gemacht haben?
Ja, das haben wir auch gemacht.
Sprung in die Leipziger Kunstszene der 80er. Sie kommen also zur Kunst wie die Jungfrau zum Kinde. Sie waren nicht an der Kunsthochschule, vielmehr ist das so ein learning by doing und ein Zusammenleben mit den Künstler-Freundinnen und -Freunden. Wie wurde das Ganze zum Geschäft?
Es war erstmal eher die alternative Szene, wie man das heute nennt. Wir haben alle in Häusern gewohnt, die wir nicht über Mieten zugesprochen bekommen haben, sondern waren im heutigen Sinne alle Hausbesetzer und -besetzerinnen. Nur, dass es damals etwas anders war. Man ist durch die Straßen gegangen, hat geguckt, wo noch irgendjemand in dem Haus wohnt. Einpersonenhauhalte waren immer gut, und diese Person war meistens eine ältere Dame oder ein älterer Herr. Die haben sich gefreut, wenn man geklingelt und mal einen Kaffee getrunken und dann gefragt hat: wie ist das mit den Wohnungen? Ach ja, die sind schon lange leer? Gut, perfekt. Dann hat man gesagt: Haben Sie einen Schlüssel für irgendeine Wohnung? Ja. Nein. Entsprechend hat man die Tür aufgemacht. Dann hat man sich die angeguckt, hat sie als gut oder nicht so gut befunden. Wenn sie gut war, ist man rein, hat die Dame oder den Herrn gefragt, wie die Kontonummer ist, auf die sie einzahlen. Dann hat man sich die Kontonummer gemerkt und hat einen Betrag von, sagen wir mal, 15 Mark monatlich eingezahlt. Und wenn sich niemand gemeldet hat - und es hat sich nie jemand gemeldet -, dann war man dort rechtmäßig eingezogen, weil das wie ein Mietvertrag galt.
So einfach?
Das haben einfach alle gemacht. Das war eine friedliche Besetzung. Vielleicht eher eine Hilfe, weil man im Winter dann auch die Kohlen für die Damen oder den Herren, die noch dort wohnten, hochgetragen hat. Es füllte sich das Haus, und plötzlich war da wieder Leben.
In Berlin-Mitte sind in den 90er-Jahren auch viele Galerien aus genau diesem Spirit entstanden. Da stand ein Ladenlokal oder eine Wohnung leer, dann hat man da Bilder von Freunden hingehängt. Oder man hat in den leeren Keller eine Anlage und einen Kühlschrank gestellt, und schon hatte man einen Club. Ihre Galerie kam dann auch hierher. Aber ging es da schon primär um den Verkauf von Kunst?
Also in der DDR sowieso nicht, denn wer verkaufte, gehörte nicht zu uns. Das waren die anderen, das waren die, die mit dem staatlichen Kunsthandel agierten. Die Künstler, die ich ausgestellt habe, waren meistens Amateure. Leute, die gar nicht studiert haben, oder die nicht studieren konnten. Und andere, die zwar studiert haben, aber nicht im staatlichen Kunsthandel zu Ausstellungen kamen, sich also nicht etablieren konnten. Aus vielen Gründen haben die bei mir ausgestellt. Ich durfte ja auch nicht verkaufen, offiziell hieß der Raum nie Galerie, sondern nur Eigen + Art.
Von denen, die dabei waren, wurde mir erzählt, dass es einerseits diese offizielle Welt gab, in der man Staatsaufträge gekriegt hat, und andererseits euch: also diese andere Szene, die wir wahrscheinlich heute als die eigentliche Kunstszene wahrnehmen.
Wir waren auch die Cooleren, für uns selbst sowieso, aber auch für außen. Das war einfach das Bessere, auch die besseren Partys.
Und wann ging das los mit dem Geschäft? Tatsächlich erst nach der Wende?
Eigentlich erst 2005. Was vor 1990 war, war zwar auch schon Geschäft, weil wir auf einer Messe waren. Wir haben dort das Geld genommen. Haben es wieder eingesetzt. Haben 1990 eine temporäre Galerie in Tokio auf- und wieder zugemacht. Wir waren '91 in Paris. Haben dasselbe wieder gemacht. 1992 in Berlin. Das war super. Haben die erste Ausstellung in den Kunst Werken überhaupt gemacht. Die KW eröffneten mit temporärer Galerie Eigen + Art. '93 waren wir zeitweise in New York mit einer Galerie am Broadway/Ecke Prince Street. Damals war dort das angesagte Galerienviertel. Das war ein Desaster, da war alles leer. Niemand war überhaupt in den Häusern. Wir und Leo Castelli waren die Einzigen im ganzen Princebuilding, ansonsten gähnende Leere. Man hätte viel Miete bezahlen können. Wir sind dorthin und haben gesagt: Geld haben wir keins. Aber wir machen euch das Licht an, wenn wir in die 16. Etage hochgehen und das Licht wieder aus, wenn wir runtergehen, dann denken die Leute, hier ist es voll. Das fanden die Jungs gut. Das ist quasi wie bei der alten Dame in Leipzig, der man die Kohle hochträgt. In die Richtung ging das.
Viele der Künstler und Künstlerinnen, mit denen Sie arbeiten, sind seit vielen, vielen Jahren in Ihrem Programm.
Carsten Nicolai und ich kennen uns, glaube ich, seit 1981 oder '82. Und sein Bruder Olaf Nicolai und ich auch. Neo Rauch, Uwe Kowski, Jörg Herold und Yana Milev kenne ich auch schon so lange.
Sie haben also in Tokio, in Paris und in New York temporäre Galerie betrieben und mussten wahrscheinlich immer alles selbst finanzieren. Und irgendwie selbst basteln - denn so viel Kohle, soviel Startkapital konnten Sie gleich nach der Wende nicht so schnell erwirtschaftet haben?!
Es war ein Risiko. Aber das Risiko sind wir eingegangen, weil es Spaß gemacht hat, und ich habe das weitergetragen. Die Situation, die wir schon damals in unserer externen Enklave von "Asozialität" in der DDR hatten, haben wir mit rübergetragen in die nächste Situation. Und da wir weder angekommen waren, noch ausgegrenzt wurden, hat das auch noch in so einer Parallelwelt funktioniert. Bis es dazu kam, dass zwischen uns erst langsam, dann immer mächtiger eine dritte Person getreten ist, die nicht zu unserem Club gehörte, die nicht zu unseren Freunden gehörte. Aber die wurde immer wichtiger. Und diese dritte Person ist die Realität. Das Geld. Genau diese Aspekte kann man sich sparen, wenn man jung ist, oder wenn man noch in einem System lebt, wo das Geld nicht so viel bedeutet.
Korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege! Ab Mitte der '90er gab es das Label der "Neuen Leipziger Schule", das bald auch international als Marke galt. Was ja bemerkenswert ist und als Signifikant dienen kann. An den westdeutschen Unis wurde in den '80ern, klischeehaft gesprochen, die Malerei für tot erklärt. Und Sie kamen auf einmal mit Künstlern wie Neo Rauch an, die nicht nur technisch gut malen konnten, sondern auch künstlerisch etwas mitzuteilen hatten. Und genau das ist in Amerika dann auf fruchtbaren Boden gefallen.
Wir hatten auf der gesamten großen Kunstmesse The Armory Show in New York die einzige figürliche Malerei überhaupt am Stand. Das war aber erst nach 2000, eine Arbeit von Neo Rauch. Niemand anderes hat gewagt, so etwas mitzubringen und zu zeigen. Das gehörte sich nicht. Und man muss schon sagen, dass Neo, und auch wir damit ins Risiko gegangen sind, weil es eigentlich eine Unverschämtheit war, so etwas zu zeigen.
War Ihnen bewusst, dass Sie ein Risiko eingehen?
Danach schon. Weil dann alle ankamen und gesagt haben: Was ist das? Malerei existierte in der Zeit nicht. Da waren gerade Fotografie und Video auf dem Siegeszug. Auch berechtigterweise, weil es nie gesehen worden ist. Und Malerei war eigentlich nicht mehr existent, weil sie auch nicht mehr unterrichtet wurde.
Haben Sie so stark an die Position geglaubt? Waren Sie so mutig? Oder haben Sie es nicht besser gewusst? Man sagt ja auf Englisch: Ignorance is bliss.
Beides. Man hat es nicht besser gewusst in der Form. Und wir waren überzeugt davon, dass das, was wir mitbringen, geil ist. Und auf der anderen Seite war es natürlich auch ein Risiko, weil man schon mitbekommen hat, dass es etwas Besonderes war. Spätestens dann, wenn man die Messe aufmacht und alle gucken und denken sich: "Huch, was haben die da mitgebracht?" Wir haben es dann einfach durchgezogen. Und man muss sagen: Neo Rauch hat in dem Moment, und auch in den Jahren danach, die Tür für Malerei weltweit wieder aufgemacht. Ohne ihn wäre das so nicht passiert. Für niemanden. Es war ein game changing moment.
Das ist doch oft so, wenn was Neues losgeht. Es machen meist Leute eine neue Tür auf, die nicht geplant haben, was dahinter kommt. Die vielleicht wirklich ignorant und naiv losgelaufen sind, dabei aber so fest von dem überzeugt sind, was sie machen, dass sie gar nicht anders können, als so zu agieren.
Schon. Arno Rink war ja der Professor in Leipzig, der einfach weitergemacht hat. Er hat niemandem gesagt, dass es das eigentlich nicht mehr gibt. Oder anders gesagt, hat er so für Malerei gebrannt, dass er die Künstlerinnen und Künstler darin bestärkt hat, das zu tun. Das Leipziger Umfeld hat auch erlaubt, dass man Malerei macht, ohne dass es irgendwie peinlich war. Das war gut. In jeder anderen Stadt wäre es vielleicht unangenehm geworden.
Sie haben schon zweimal erwähnt, dass sich 2005 das game änderte, für Sie selbst, für Ihre Galerie und auch für viele andere. Warum?
In Berlin war es zum Beispiel nach der Wende so, dass man für Veranstaltungen keine Tickets kaufen konnte. Man musste in rumlaufen, selber aktiv sein. Und zwar so aktiv, dass jemand anderes, der oder die auch aktiv war, dich wahrnahm und dir einen kleinen Zettel mit der Einladung zur Party in die Hand drückte. "Heute Abend dort". Flyer nannten wir das. Dann gehörtest du dazu, und dann ging die Sache los. Aber du hättest niemals für Geld eine Eintrittskarte kaufen können. Es gab keine Eintrittskarten. Und dann professionalisierte sich das.
Sie sich auch?
Wir uns als Galerie auch. Und natürlich auch die Stadt an sich. 1990 gab es kaum Straßenbeleuchtung in der Auguststraße. Wenn die Sonne unterging, blieb es dunkel. Das änderte sich. Plötzlich wurden Veranstaltungen gemacht, und es gab Karten zu kaufen. Man konnte plötzlich mit Geld etwas anfangen. Also wurde es ein wichtiges Handlungs-Accessoire. Eines, das man hatte oder nicht. So begann auch eine Zeit, wo man überlegte, wenn man essen ging: Was hat der andere verdient, kann der mitkommen oder nicht? Es ging also die Differenzierung untereinander los. Vorher hat man einfach eine Galerie gemacht. Oder man ist aufgewacht und wurde Journalistin oder Radiosprecher. Man konnte sich jeden Morgen überlegen, was man wird, und dann hat man das behauptet. Man teilte das jemandem mit, sich selbst und anderen, und dann war man das. Irgendwann ging das nicht mehr. Ab dann hatten auch wir als Galerie Professionalisierungsnöte und mussten das auch machen.
Das haben Sie dann auch gemacht. Sie haben also quasi die Zeichen der Zeit gelesen und erkannt: "Okay, dann jetzt all in. Dann gehen wir jetzt den Weg des Kapitalismus"?
Ja. Es kam noch dazu, dass dann plötzlich andere Galerien auch nach Leipzig und nach Berlin-Mitte kamen. Auch die Kölner kamen auf einmal nach Berlin. Und die kamen oftmals auch mit dem Auftrag der Eltern: "Ich sag‘s ja, handle lieber mit Kunst und nicht mit Drogen."