Gisèle Vienne in den Berliner Sophiensaelen

Eine Umarmung, ein Kuss, innig und dann schon wieder vorbei

Gisèle Viennes Performance "Crowd" ist ein Rave in Zeitlupe: Das Stück, das jetzt in Berlin Premiere feierte, porträtiert eine Mikrogesellschaft auf der Suche nach Gemeinschaft. Und das ist ganz politisch gemeint

Es ist schon merkwürdig, dass auch Jahrzehnte, nachdem House und Techno ihren globalen Siegeszug angetreten haben, es noch immer so wenig gelungene Übertragungen der Cluberfahrung in andere Kunstformen gibt. Was Millionen junge Menschen auf und neben der Tanzfläche erlebt haben, was für viele eine prägende, intensive Phase ihres Lebens ausmachte, haben gefühlt kaum mehr als ein Dutzend Bücher und Filme glaubhaft wiedergeben können. Was auch seine gute Seiten hat, denn so behält die Nacht ihr Geheimnis.

Aber umso fantastischer ist es, wenn ein Rave dann tatsächlich einmal in ein anderes Format wechselt – so wie es Gisèle Vienne mit ihrem Stück "Crowd" gelingt, das am Donnerstag in den Sophiensaelen in Berlin Premiere feierte. Die Bühne der Performance ist ein Clubraum, auf dem Boden liegen leere Flaschen und der übliche Partymüll. Während sich ein Elektro-Track (die Playlist des Musikers Peter Rehberg versammelt Klassikern der Technokultur von Underground Resistance, KTL und Jeff Mills) in die Höhe schraubt, betritt von hinten links eine erste Figur die Tanzfläche, langsam, mit federnden Schritten. Eine zweite Figur folgt, dann ein kleines Grüppchen Feiernder, dann weitere Tanzende, bis der Raum gut gefüllt ist. Sie begrüßen sich, driften wieder auseinander, formieren sich neu; bewegen sich so virtuos wie energiegeladen, doch in Slow-Motion.

Zwischen Sehnsüchten und Spannungen

"Crowd" ist ein Rave in Zeitlupe, und dieser Effekt allein versetzt einen in Trance. Da ist eine unglaubliche Stimmigkeit in den Bewegungen und Gesten, Ausdruck jener kristallklaren Gewissheit des Moments, die den Rausch ausmacht. Die Lichtregie lenkt den Blick immer wieder auf andere Tänzer, eine Umarmung, ein Kuss, innig und dann schon wieder vorbei, ein Lächeln, die herübergereichte Wasserflasche, doch in die Momente der Euphorie und Zuneigung mischt sich auch Kaputtheit und Aversion; ein Typ mit schwarzem Hoodie – ist er schlecht drauf, ist er ein Arsch? – macht Stress, wird schließlich abgedrängt von einer Tänzerin, am anderen Ende wird schon wieder getanzt, vereinen sich Körper in skulpturaler Schönheit, weiter geht's.

Hin und hergerissen zwischen Sehnsüchten und Spannungen, Liebe und Gewalt ist diese "Crowd" eine Mikrogesellschaft auf der Suche nach Gemeinschaft, und wie politisch Vienne ihr Stück versteht, wird spätestens dann deutlich, als die österreichisch-französische Choreografin und Künstlerin nach dem Stück auf die Bühne tritt und ansatzlos auf die geplanten Sparmaßnahmen im Kulturhaushalt in Berlin und anderswo zu sprechen kommt. Solche Kürzungen gingen Hand in Hand mit dem Abbau des Bildungs-, Verkehrs- und Gesundheitssystems, die auf Ramschniveau heruntergespart und schließlich an Investoren verscherbelt würden. Und damit nichts weniger bedeuteten als ein Raubbau an der Demokratie. Die Intensität der Gefühle, die Klarheit der Gedanken – sie lagen an diesem Abend sehr nahe beieinander.