Else Gabriel, Sie haben ab 1982 in Dresden studiert, sind dort zum Studium hingezogen. Wo sind Sie aufgewachsen?
In Halberstadt am Harzrand, im ostdeutschen Zonen-Randgebiet, spiegelbildlich gegenüber von Braunschweig, so ungefähr. Und das hatte zur Folge, dass man dort Westsender relativ gut empfangen konnte, sowohl TV als auch Radio. Und durch die Lage war auch häufig Westbesuch im Hause, durch den kleinen Grenzverkehr in den 1970er-Jahren. So kam es, dass die Autobahn für mich schon immer auch irgendwie ein Sehnsuchtsort war. Auch weil man darauf nach Berlin fuhr. Und Berlin, Hauptstadt der DDR, war quasi dann schon der erste Schritt in den Westen …
Ihr Vater war Pastor in Halberstadt. Sie kommen aus dem ostdeutschen Protestanten-Milieu.
Das Klischee schlechthin.
Die Kirche hatte ja tatsächlich eine andere Rolle in Ostdeutschland als in Westdeutschland, später auch für die Bürgerrechtsbewegung. War sie ein Zufluchtsort, wo mehr Freiheiten möglich waren?
Das war immer ein bisschen zwiespältig, weil auf der einen Seite, ostdeutscher Protestantismus - aber nicht "Luther-basiert" bei mir, sondern eher so die Schweizer Richtung von Calvin, mehr noch Zwingli, also eigentlich die Bilderstürmer und Bilderverweigerer schlechthin.
Strenger!
Strenger als Luther, also eigentlich gar kein Bild und nur das Wort. Und dann nimmt die Tochter den stumm gesetzten Trend, selber Pastorin zu werden, nicht auf und geht so weit weg, wie es irgendwie im Osten möglich war und studiert Kunst.
Und das in den 1980er-Jahren in Dresden. Was war das für eine Szene, in die Sie hineingekommen sind?
Wir hatten direkt Anschluss an eine sehr quirlige Szene, die schon auf dem Sprung nach Westberlin oder Westdeutschland war, also Ralf Kerbach, Conny Schleime, Helge Leiberg und viele andere. Die hatten da studiert, waren ein paar Jahre älter als wir und haben es dann nicht mehr ausgehalten. Die haben die Hochschule im Fachgebiet Malerei aufgemischt. Da gab es eine Ausstellung, ich kenne sie unter dem Titel "Türenausstellung", im Dresdner Leonhardi Museum. Man darf mich lynchen, wenn ich jetzt was Falsches sage, weil es auch schon ein Stündchen her ist, aber daraufhin war quasi ganz große Aufregung an der Hochschule für Bildende Künste. Sogar mit Exmatrikulationen? Genau weiß ich das nicht mehr. Aber das war die legendenbildende Ausstellung mit den ebenso legendären bildenden Künstlern, die dann auch sehr zügig schon in den Westen verschwanden. Und wir saßen in einer Art Vakuum, zudem im Fachbereich Bühnenbild, also nicht in der Malerei, wo nun ein spezielles Interesse daran herrschte, jeden Anflug von Aufmüpfigkeit im Keim zu ersticken. Wir saßen bei den Bühnenbildnern, wo niemand jemals darauf gekommen wäre, dass sich dort ein Hort des Aufruhrs bilden könnte.
Der Maler und Professor Johannes Heisig hat mir erzählt, dass damals immer nur fünf Studierende in einen Kunstjahrgang aufgenommen wurden, und Thomas Scheibitz begründete es damit, dass man nicht so viele Verrückte und Querköpfe in der Stadt haben wollte.
Da bin ich mir nicht so sicher. So wie ich die Geschichte kenne, hat das einfach was mit Planwirtschaft zu tun. Da jeder in der jungen Republik versorgt werden musste, auch die bildenden Künstler mit Aufträgen, die fast ausschließlich über den Verband Bildender Künstler erteilt wurden.
Echte Freiberuflichkeit mit Galerien und Kunstverkäufen existierte nicht. Man konnte nur eine begrenzte Anzahl von Gebäuden mit Mosaiken bestücken oder Brigaden Ernst Thälmann auf die Wand der Schulaula malen.
So ist es. Für uns Bühnenbildner gab es nur so und so viele Vakanzen an irgendwelchen Bühnen im Ländle und nur so viele Bühnenbildner wurden ausgebildet.
Wenn ich das richtig verstanden habe, war das technische Handwerk ein Schwerpunkt der Ausbildung?
Wir gründeten bald die Auto-Perforations-Artisten - vor allem als Performancegruppe. Performance existierte allerdings im Osten als Kunstform offiziell nicht. Deshalb haben wir alles Auto-Perforations-Artistik genannt, auch die Kunstform, das Genre. Insofern waren wir dadurch nie in dieser traditionellen Malereischiene drin. Was wir hatten, waren zwei Jahre anatomisches Zeichnen bei Gottfried Bammes, autoritär durchgezogen, von A bis Z, bis hin zur Benotung der Ordnung der Mappe. Also nicht nur das, was drin war, nicht nur die Zeichnungen, sondern auch, wie es da drin war, ob da ein Eselsohr dran war oder Ähnliches.
Eselsohren waren uncool?
Eselsohren waren natürlich ganz und gar uncool, man hatte das pingeligst ernst zu nehmen. Man hatte natürlich auch das Buch zu kaufen. Man hatte auch die Mappe vom Meister zu kaufen, die er im richtigen Format hatte binden lassen. Das war eine sehr straff durchorganisierte Angelegenheit, im Nachhinein aber auch ernsthaft nützlich, muss ich sagen. Auf anatomisches Zeichnen lasse ich tatsächlich nichts kommen. Im Gegensatz dazu waren wir bei Günther Hornig, der als Freigeist nicht bei den Malern in Dresden untergekommen war, sondern als profaner Dozent im Grundstudium Bühnenbild, also nicht als Professor. Der wurde sozusagen verbuddelt mit einem kleinen Posten, damit er Ruhe gibt mit seinen strukturalistischen Sachen. Aber der war das extreme Gegenteil zu diesem akademisch straffen Gottfried-Bammes-Anatomieprogramm. Und dieser Spagat zwischen dem Autoritären und diesem ganz und gar Unangepassten war für uns das beste Spannungsfeld für ein Kunststudium. Im Grunde genommen lag es auch an der Gunst der Stunde, dass wir eben nicht in der Malerei waren, sondern im Bühnenbild. Wo alle, die wirklich Bühnenbild machen wollten, mit den Augen rollten über dieses Gaga-Programm von Günther Hornig. Uns hat das allerdings auf eine Art und Weise befreit, dass selbst Günther Hornig später noch angst und bange wurde, wie wir da losgegangen sind. Das hatte einerseits viel mit den Einflüssen zu tun, die wir auch durch Westmusik und Westkunst hatten. Das Aufkommen des Dilettantismus: Wir sind keine Maler, also malen wir. Ich habe damals zwar nicht gemalt, aber es ging um die Ansage. Wir sind keine Fotografen, also fotografieren. Wir sind keine Theaterschauspieler, also gehen wir auf die Bühne. Das heißt: alles das machen, was wir eigentlich nicht können. Und das mit einem gewissen Selbstbewusstsein, mit einer Selbstermächtigung.
Da geht es auch um die Haltungsfrage. Dieses Element, das Punkrock und andere radikale Bewegungen in den 1970er-, 1980er-Jahren gebracht haben. Das haben Sie sich auch angeeignet und übersetzt?
Wir haben es übersetzt und dann Auto-Perforations-Artistik genannt, weil wir nicht sagen wollten, wir machen Performance oder wir machen jetzt Konzerte oder wir sind wie die genialen Dilettanten. Wir wollten uns nicht bewusst abgrenzen von den Entwicklungen im Westen, wir konnten da ja nicht hin. Wir konnten uns kein Bild davon machen, was da wirklich passiert. Und deshalb haben wir unser eigenes Genre gegründet.
Bands wie Die Tödliche Doris aus Westberlin hat schon im Westen der Großteil der Bevölkerung nicht gekannt. Wie haben Sie das mitgekriegt?
Das ging immer über Umwege. Irgendjemand kannte irgendjemanden, der irgendwen im Westen kennt und der auch die Leute von der Tödlichen Doris kennt. Und dann nimmt es Fahrt auf, und irgendwer bringt eine Kassette mit, und die wird dann vervielfältigt.
Die Auto-Perforations-Artisten sind tatsächlich legendär. Thomas Scheibitz, der ein paar Jahre jünger ist als Sie, hat mit Hochachtung und mit einer gewissen Ehrfurcht davon geredet. Als er als junger Studierender aus der Provinz, aus Radeberg, nach Dresden kam, da waren Sie schon - so wie er das beschreibt - der heiße Scheiß in der Dresdner Szene. Was haben Sie gemacht? Was war an Ihnen so besonders?
Ah, danke, wie soll man das beschreiben? Es hat viel mit einer Gruppendynamik zu tun. Erstens: die Gunst der Stunde. Wir kamen zu einem Moment, in dem alle anderen weg waren. Das macht was. Und das schweißt auch zusammen. Wir waren Via Lewandowsky, Micha Brendel, damals noch Steffen Titus Bock und ich. Steffen ist uns irgendwann verloren gegangen und Rainer Görß kam dazu. Aber zunächst waren wir in dieser Kombination ein Jahrgang im Bühnenbild. Das macht auch was, wenn man zusammen einsteigt. Die Tatsache, dass Günther Hornig nur ein Semester bei uns war und sich danach mit einem eingeklemmten Ischiasnerv ins Krankenbett verabschiedete, bedeutete, dass wir im zweiten Semester vollkommen führungs- und betreuungslos in einem sehr großen Atelier unterm Dach waren. Als letzte Maßnahme zeigte Günther Hornig uns zwei Etagen tiefer drei 50-Liter-Fässer Nitrolack, "die keiner braucht". Die haben wir ganz emsig ins Atelier gerollt und alle erstmal aufgemacht. Da war dann schnell ein entsprechender Dunst im Raum. Es gab eigentlich noch zwei, drei Kommilitoninnen. Die haben wir damit ziemlich rabiat vertrieben. Jetzt kamen wirklich nur noch die späteren Auto-Perforations-Artisten dorthin zum Arbeiten. Das sind so Kleinigkeiten. Es wirkt wie ein Zufall. Jedenfalls schweißte sich aus diesen Umständen die Gruppe zusammen.
Sie haben Performances gemacht, Video ...
Video gab es in der DDR für Privatleute nicht. Wir haben Super-8-Filme gedreht, aber eigentlich waren wir am Ende dieses zweiten Semesters für das Theater noch nicht verloren. Wir wollten nur nicht in diese akademische Routine mit Trockenübungen an einem Stück aus dem klassischen Theaterrepertoire, also Modellbauen, Biedermeierstuhlbeine aus Streichhölzern schnitzen. Wir wollten gerne Bühnenbild machen, aber mit unseren eigenen Stoffen. Wir wollten selber auf die Bühne. Punkt. Wir wollten zusammenarbeiten. Als Gruppe. Muss doch gehen. Ging natürlich nicht. Das heißt, wir haben im Grunde genommen zwei Sorten von Studium absolviert. Einmal das offizielle, weil es ganz blöd gewesen wäre, wenn nicht. Das musste abgeliefert werden, Dienst nach Vorschrift. Und das andere war unsere Selbstausbildung in ziemlich anarchischer Art und Weise, gegenseitig in Konkurrenz und in einem ständigen Prozess des Brainstormings.
Wo haben Sie dann performt? War das im akademischen Hochschulrahmen oder in irgendwelchen Underground-Locations?
Es war immer eine Mischung. Man hat einfach irgendwo in diesen verfallenen Dresdner Neustadtgefilden eine Tür eingetreten und dann da drin was gemacht. Ich bin zum Beispiel in so eine alte Räucherei rein, die keiner mehr brauchte, die war vollgestellt bis unters Dach. Dort haben wir ein bisschen performt und ein bisschen Super 8 und Foto gemacht. Es gab aber auch durchaus Formate innerhalb der Hochschule, bei denen wir unter Duldung aufgetreten sind. Das hat Wellen geschlagen.
Sie wurden ja dann auch über Dresdens Grenzen hinaus wahrgenommen.
Na ja, das ging ja relativ schnell, weil alles klein war und wenig passierte. Also wenn man so eine Vakuole hat wie die DDR, ein Anhängsel, einen Wurmfortsatz, und dann innerhalb dieses Anhängsels noch eine Aussackung in dieser Elbschleife, wie ein Divertikel im Enddarm des Sozialismus, dann hat man wenig zu verlieren. Scheißegal. Der Letzte macht das Licht aus. Die gehen sowieso alle in den Westen. Ich will auch! Aber solange machen wir hier noch Rabatz, und zwar immer so, dass sie uns gerade nicht kriegen können, dass es keine Handhabe gegen uns gibt. Dafür entwickelt man ein Sensorium. Und dann immer weiter an die Grenzen heranarbeiten. Das war eine Art Gefängnissituation, bei der man mit den Wärtern spielt. Oder wie in der Grundschule: Wer wirft wann das Papierkügelchen, so dass der Lehrer natürlich weiß, wer es war und wo es herkommt, aber nichts in der Hand hat dagegen. Das ist ja dann auch der Spaß.
In dieser Gratwanderung unterscheiden sich auch Ostrock und Westrock der 70er und 80er. Im Osten wurden immer diese blumigen Metaphern bemüht und eine sehr romantische Sprache benutzt, während im Westen sehr klar benannt wurde, wo der Feind steht und was Sache ist. Das war vielen im Osten zu direkt.
Sagen wir mal so, manches war befremdlich, weil das Getexte im Westen sich meist antikapitalistisch aufführte, aber vom Kapitalismus profitierte. Der Ostrock war immer verklausuliert und fünfmal um die Ecke gedacht und unglaublich umständlich. Das ging mir auf die Nerven. Das war mir zu schwülstig und auch fast devot. "Wir wollen unsere Privilegien, wir wollen auch mal in den Westen fahren" – das war methodisch nicht mal dem unähnlich, was wir auch gemacht haben, nämlich so direkt an der Kante des Erlaubten schippern. Aber ich glaube, wir haben es dann schon doch noch ein bisschen radikaler betrieben als Karat oder City.
Wenn von der Kunst in der DDR gesprochen wird, dann oft von zwei Kunstszenen, der offiziellen und der inoffiziellen. Dabei würden sich wenige Künstler, die in der DDR tätig waren, damals oder heute noch als "DDR-Künstler" bezeichnen. Würden Sie diese Bezeichnung benutzen und wenn ja, wofür?
Ich bin in der DDR aufgewachsen und sozialisiert und kann das nicht abstreifen. Das hat eine Prägung zur Folge. Ich habe es mir nicht ausgesucht, so what? Aber kein Künstler hat sich als "DDR-Künstler" bezeichnet. Die fühlten sich immer alle auf Weltniveau!
Ich frage noch mal viel naiver und viel globaler: Gibt es eine Ostkunst?
Umgekehrt gefragt: Gibt es eine Westkunst?
Na ja, wenn wir darüber sprechen, was die Punks und die Kippenbergers gemacht haben, dieses haltungsbetonte Selber-Aufrühren und Selber-Schaffen, vielleicht sogar aus dem Dilettantismus, aus dem Nichtkönnen heraus etwas schaffen, dann ja. Das haben Sie parallel ja auch gemacht, siehe Auto-Perforations-Artisten in Dresden. Nur, dass es im Westen viel anerkannter war, weil die da große Karrieren draus machen konnten, während diese Art Kunst im Osten zum Nischendasein verdammt war.
Ja, es ist eine Spezifik drin, die immer wie eine heiße Kartoffel durch die Gegend gemurmelt wurde und wird. Das ist etwas, was sich doch bis heute durchzieht?
Sagen Sie, dass in jedem System diejenigen die interessanteren Künstlerinnen sind, die unkonventioneller sind, und dass sie es in jedem System auf ihren Karrierewegen immer schwerer haben, sich zu etablieren?
Kann sein, und dass es durch die Prägung in der DDR eine größere Schwelle gibt, sich auf eine Karriere, auf einen Westbetrieb oder auf eine Kapitalisierung einzulassen. Ja, es ist nicht so folgerichtig. Ist es für mich jedenfalls nicht gewesen, obwohl ich genügend Kapitalistenverwandtschaft habe.
Im einen System entscheidet ein staatliches Gremium darüber, wer Künstler werden darf und als solcher später einmal Arbeit finden kann. Im anderen System darf jeder, nur hier entscheidet der Markt, wer letztendlich davon leben kann. Mich hat mal einer genauso wie Sie gerade in einer Diskussionsrunde zurückgefragt, ob es denn besser sei, wenn der Markt entscheide, wer der gute Künstler wird?
Ja, es ist wesentlich besser, wenn der Markt entscheidet.
Das war auch meine Antwort.
Ein Markt entsteht über Bedürfnisse und auch über individuelle Entscheidungen. Natürlich ist die Beeinflussung und Indoktrination im Kapitalismus brutal, aber letztendlich und im besten Fall entscheide ich und nicht ein weltanschaulich genormtes Kollektiv. Das war damals das Verrückte, wenn die Westgermanen einfielen in ein DDR-Randgebiet oder sich manchmal sogar Richtung Dresden wagten und die mir dann erklärten, dass ich eigentlich im besseren System sitze und mich nicht so anstellen soll, weil keine Arbeitslosigkeit, keine Drogentoten und so weiter. Wo ich mir dachte: Na, ihr Früchtchen! Keiner von euch hat jemals Anzeichen gezeigt, länger da bleiben zu wollen, als nur für einen begrenzten Urlaub. Die sind alle mit großer Erleichterung wieder abgefahren. Das fand ich unredlich.
Einen, auf den das aber sicherlich nicht zutrifft, ist derjenige Westgermane, den Sie geheiratet haben, nämlich Max Goldt. Wie kam es dazu?
Max Goldt war Musiker, damals zusammen mit Gerd Pasemann als Foyer des Arts, und hat dann seine große Karriere als Schriftsteller hingelegt. Anfang der 1980er-Jahre hatte er auch echte Hits, "Wissenswertes über Erlangen", zum Beispiel. Und ich erzählte vorhin, wie über dunkle Kanäle westdeutsches Liedgut, internationales Musikschaffen und Bücher über bildende Kunst, aber auch natürliche Personen in nicht zu großer Stückzahl in den Osten diffundierten. Dazu zählte auch Max Goldt. Der kam über Leonhard Lorek, Schriftsteller im Osten, in einen Zirkel von mehreren Schriftstellern eher unangepasster Natur. Der hatte ihn, glaube ich, einfach mal angeschrieben. Da gab es auch musikalische Zusammenarbeiten mit La Deutsche Vita oder Teurer Denn Je, wo ja zeitweise Christoph Tannert gesungen hat.
Der bis unlängst das Künstlerhaus Bethanien in Kreuzberg geleitet hat.
Es gab also immer wieder Querverbindungen zwischen allen Bereichen. Max Goldt kam da wie so ein Fabergé-Ei in den Osten, und irgendeine innere Stimme sagte mir: Der wird's. Das klingt albern, aber ich habe versucht, das irgendwie so hinzustricken, dass ich dem über den Weg laufe.
Und wo haben Sie dann diesen schwulen und westdeutschen Mann geheiratet? In Dresden? In Ostberlin?
Jedes Mal, wenn ich nach Weißensee fahre, fahre ich dort vorbei: Fröbelstraße, Standesamt im Prenzlauer Berg. Es hatte anderthalb Jahre Vorlauf. Es hatte viele Einbestellungen im Ministerium des Inneren. Auch die Frage natürlich, warum Max Goldt nicht in den Osten zieht, weil es da doch viel schöner ist. Es wurde auch deutlich nach der Begründung gefragt, weshalb wir jetzt für immer füreinander bestimmt sind. Meine erste, etwas lapidare Antwort reichte offensichtlich nicht aus. Dann habe ich da in der Dunckerstraße im Prenzlauer Berg gesessen, an meiner alten Reiseschreibmaschine und habe mir eine Liebesgeschichte aus dem Gehirn gesaugt.
Gibt es die noch?
Natürlich. Ich saß am offenen Fenster und bin selber in Tränen ausgebrochen vor Rührung.
Durften Sie denn als mit einem Westler verheiratete Ostlerin auch hin und her über die Grenze?
Wir reden über den Spätsommer, Frühherbst und Herbst 1989. Da wurde alles auf einmal komplizierter. Es sollte eine Ausstellung mit junger Kunst aus der DDR in Westberlin geben, da stand ich auf dem Speisezettel. Alle hatten schon ein Reisevisum und ich noch nicht. Als ich nachfragte, wie das denn kommt, kam das Stichwort: "Frau Gabriel, reisen Sie doch endlich aus". Das hat bei mir zu einem Wutausbruch geführt, weil die mich so im Kreis gejagt haben. Meine Verwandten kränkelten und starben während der 1980er im Westen. Ich durfte nie reisen. Dann musste ich zwei Jahre lang immer wieder diese Ausreisehochzeit begründen. Und plötzlich heißt es: "Na ja, ein Visum kannst du nicht kriegen, aber reise doch aus." Da habe ich tatsächlich Stühle herumgeworfen auf dem Flur. Ich wollte jetzt diesen Reisepass!
Was für ein mieses System. Wir sind jetzt mitten im Jahr 1989 angekommen. Sie pendeln zwischen Dresden und Ostberlin?
Ich wohnte schon in Ostberlin. Ich hatte eine Wohnung - das war ja alles strategisch und von langer Hand vorbereitet. Dass man sich so langsam vorarbeitet in den Westen.
Sie waren damals auch bei den großen Demonstrationen in Ostberlin dabei. Sie sind verhaftet worden und saßen im Pritschenwagen der Volkspolizei neben dem Dichter Durs Grünbein.
Man fuhr uns ein paar Stunden durch die Gegend, ohne ein Haus zu finden, was nicht schon mit Demonstranten bis unters Dach vollgestopft war. Um Mitternacht guckt Durs auf die Uhr und meint: "Übrigens, ich habe heute Geburtstag." Da haben wir mal so richtig schön reingefeiert. Wir saßen zwar auf dem Laster, aber dann standen wir zehn Stunden.
Wofür standen Sie auf der Straße? Wofür haben Sie damals demonstriert?
Ich muss ganz profan und ganz dekadent sagen: Ich für gar nichts, ich war auf dem Sprung in den Westen. Mir bedeutete die DDR an sich nichts. Ich wollte die auch nicht reformieren. Ich hielt es für absolut unmöglich, aus dem Ding noch irgendwas zu machen. Ich bin auf die Straße gegangen, weil mich interessiert hat, wie das funktioniert. Also man könnte wirklich sagen, "zu Studienzwecken".
Es gab andere, die auf die Straße gegangen sind, um einen alternativen Sozialismus zu schaffen. Was war das für eine Stimmung 1989?
Im Juni '89 gab es etwa in der Galerie Weißer Elefant die "Permanente Kunstkonferenz". Das war innerhalb der Ausstellung "Junge Kunst in der DDR" erstmalig eine Untersektion Performance, initiiert von Christoph Tannert und Eugen Blume. Der Weiße Elefant war seit 1987 eine kommunale Galerie auf Initiative und Leitung von Ralf Bartholomäus und Gabi Ivan. Und zeitgleich gab es die Aufstände in Peking, am Platz des Himmlischen Friedens. Es war wie eine Mischung aus Mehltau und Aufbruch, so ganz kribbelig. Eine ganz kribbelige, merkwürdige, vorgewittrige Stimmung insgesamt, die schwierig zu beschreiben ist.
Wenn es diese Szene gab, die solche Vibes produziert oder mitgetragen und in Kunst umgesetzt hat: War die DDR vielleicht gar nicht so repressiv, sondern nur provinziell, weil Trends erst später ankamen?
Sie war natürlich wahnsinnig provinziell, wahnsinnig ängstlich. Andererseits natürlich auch immer neidisch. Man wusste bis nach Wandlitz, dass der Westkram besser ist als der Ostkram, sonst hätte es die Läden da nicht gegeben.
Sie meinen Produkte, Kleidung?
Ja, natürlich. Nahrungs- und Genussmittel, Konsumgüter. Ich glaube, in Wandlitz wusste man von Kunst überhaupt nichts. Da lebte man geistig auch noch in den 1950er-Jahren. Das war schon damals mein Spruch: "In der DDR haben wir die 1950er bis in die 80er." Wir waren in einer Vakuole, die obendrein ökonomisch am Ende war.
Die Proteste, die nach mehr Freiheit gerufen haben, eventuell nach einem alternativen Sozialismus gerufen haben, waren nicht der alleinige Grund für den Zusammenbruch der DDR, sondern es war der Staat selbst, der pleite war und nur noch durch den Kredit des CSU-Politikers Franz Josef Strauß am Leben gehalten wurde.
Gerade ein System mit dem Rücken zur Wand ist zu allem bereit und gefährlich! Und 1989 war nach Definition eine Revolution. Eine Revolution ohne Blutvergießen ist eine extrem Ausnahmeleistung. In diesem Vorgang steckt ein enormes Potenzial. Warum konnte man, insbesondere in Westdeutschland, nicht mehr ernsthaftes Interesse und Anerkennung für die Leute aufbringen, die das hinbekommen haben? Den strategischen und auch spielerisch subversiven Ideenreichtum und die Tatkraft, betonierte Strukturen aufzubrechen, hätten wir schon in den 1990ern gut gebrauchen können. Stattdessen wurde, ziemlich satt, westliche Überlegenheit ausgelebt. Und nun setzt sich zum Beispiel die AfD darauf. Quittung kommt.
Sie haben mir mal in einem früheren Gespräch gesagt, dass diese Typen, die auf Pegida-Demos montags an der Frauenkirche in Dresden stehen und "Wir sind das Volk!" rufen, damals, 1989, nicht mit auf der Straße standen. Dass das vom Typus eher die Leute von der Stasi gewesen seien, die Sie damals fotografiert haben. Was ist im Jahr 35 nach dem Mauerfall los im Osten?
Ich meinte damals, dass "Ruhe-und-Ordnung-Bürger", die es in jeder Gesellschaft gibt, in der DDR aber als ganz besonders spießigen Phänotyp, jetzt die Formeln der DDR-Opposition gekapert haben. Aber auch hier hilft keine westdeutsche Arroganz und auch nicht, alle, die da mitlaufen, von oben herab als dumme Trottel abzustempeln. Das befeuert deren Gemeinschaftsgefühl nach dem Motto: "Nerv getroffen, jetzt erst recht!"
Ist da eine Verletzung?
Es ist vielfach beschrieben: Man muss sich vorstellen, was da an Umbruch passiert ist. Allen Fluchtbewegungen und Sozialismusänderungsillusionen zum Trotz hatten sich die meisten Leute in der DDR in irgendeiner Weise eingerichtet, haben da ganz normal ihr Leben geführt, die Kinder haben die Schule und Berufsausbildung absolviert. Die weitaus meisten waren keine straffen Sozialisten. Die haben sich durchgewurstelt, in idyllischer Bescheidenheit die volkseigenen Betriebe beklaut und mit Tauschwirtschaft Datschen ausgebaut. Fast überall mit West-TV als Sehnsuchtsort. Und dann werden die Abschlüsse downgegradet, die Betriebe geschlossen, Häuschen und Grundstücke an Westler rückübertragen … Ideen und Initiativen werden abgebügelt, und wer was kann, zieht weg. Die in dieser Zeit sozialisierten Kids kriegen das als Prägung mit. Vom herbeigesehnten Westpaket bleibt für die Ostgermanen plötzlich nur der Verpackungsmüll. Und im Westen wird das jahrzehntelang entweder gar nicht oder mit Herablassung wahrgenommen. Es ist nicht von mir und vielfach gesagt: im Osten hat sich alles geändert und im Westen nichts.
Das ist so.
Wer jetzt moralisch "nicht nur sauber, sondern rein" in Köln gegen die AfD demonstriert …
… sie werden auch in Köln gewählt.
Natürlich werden sie auch in Köln gewählt. Und die AfD ist eine Westerfindung mit Führungspersonal vor allem aus dem Westen. Aber die Inszenierung des höheren Westgermanen, der auf die Ostler herabschaut, hat doch gerade wieder Fahrt aufgenommen? Jetzt allerdings unterlegt mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und echter Angst.
Dann ist das vielleicht auch ein Trotzverhalten.
Bei den unzufriedenen Ostlern? Als Unterströmung mittlerweile sicher. Und Trotzverhalten ist zwar kindisch, aber praktisch, weil man damit jede ernsthafte Diskussion unterläuft, nur um dann zu konstatieren: Mit uns redet ja keiner. Es ist eine Methode, Aufmerksamkeit zu generieren nach dem Motto: "Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich‘s völlig ungeniert." Dass man sich dabei instrumentalisieren lässt von Leuten - aus dem Westen - mit dicken Taschen und einer zerstörerischen Agenda, ist dann auch egal. Aber es geht noch tiefer und hat auch eine künstlerische Komponente: Das Problem an der ostdeutschen Revolution 1989 ist ihr Erfolg! Ohne Blutvergießen und Märtyrer keine heroische Erzählung. Kasperhafte harmlose Komödien? Ja. Großes Hollywoodepos? Nein. Das hat es den Westdeutschen zusätzlich leicht gemacht, die rotznasigen Brüder und Schwestern nie als ebenbürtig zu betrachten. Ja. Es ist Trotz. Und verschmähte Liebe. Aber Schluss mit Kitsch und Trivia.
Sie sind heute Professorin an der Kunsthochschule in Berlin Weißensee. Können Sie in der jungen Generation noch diesen gesellschaftlichen Split im künstlerischen Ausdruck finden? Gibt es bei den Nachwendekindern eine besondere Sensibilität? Oder ist das alles gesamt-deutsch, gesamteuropäisch, überhaupt universell zusammengewachsen?
Ach je, ach je. Die Westdeutschen starren wie die Karnickel auf die Schlange, was das boshafte Wahlverhalten der Ostdeutschen anlangt, mit noch größerem Entsetzen auf die Jungwähler. Und Sie fragen, ob künstlerisch beim Nachwuchs alles universell zusammengewachsen ist? Nun sind natürlich Kunststudenten, von wo auch immer, zu 99 Prozent international orientiert. Aber ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und sage, dass ich noch immer nach spätestens zehn Minuten weiß, ob ein Jungtalent einen ost- oder westdeutschen Familienhintergrund hat. Meine westdeutschen Kollegen haben schon vor 25 Jahren abgestritten, dass das geht oder überhaupt eine Rolle spielt. Reflexhaft wird die Existenz von Unterschieden abgewehrt, undenkbar, eventuell nur selbst nicht über das Sensorium zu verfügen, diese zu erkennen. Als würde man sie unsittlich an einer empfindlichen Stelle kneifen mit der Erkenntnis, dass es etwas gibt, das der Westdeutsche nicht besser kann, weiß oder wahrnimmt. Aber wäre der Chirurg nicht ein Quacksalber, wenn er am eigenen Leib operiert und behauptet, ein jahrzehntealter multipler Bruch sei phantastisch zusammengewachsen, obwohl da der eine Arm schlaff herunterhängt oder - Gott sei bei uns! - unerlaubt immer schräg nach rechts oben geht?
Er wäre kein guter Arzt, nein.
Ich versuch's nochmal andersrum: Seit drei Jahrzehnten lebe ich im Brennpunktbezirk Berlin-Neukölln. Meine Kinder sind hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. Es ist eine einfache Beobachtung auf der Straße und ein Allgemeinplatz unter Soziologen, dass die hier geborenen Sprösslinge der vielen völlig unauffälligen Migrantinnen und Migranten häufig die Werte der Herkunftsregionen vehementer vertreten als die Eltern und Großeltern, die diese noch aus eigener alltäglicher Anschauung kennen und wissen, warum sie weggegangen sind. Aus der Entfernung erscheint vieles verheißungsvoller als es sich in der Lebensrealität anfühlt. Das ist bei den ostdeutschen Wende- und Nachwendekindern nicht anders.
Wie zeigt sich das in der Kunst der Wende- und Nachwendekinder?
Wollen sie künstlerisch im finanziell lukrativen Betriebssystem Kunst reüssieren, hilft es, bestimmte Klischees zu bedienen, etwa handwerklich mit erkennbar ostdeutscher Meisterschaft malen oder den Tristesse-Exotismus von Ostmoderne, Plattenbauten oder Neonazis so aufbereiten, dass es auch ein westdeutscher Kurator, Galerist oder Sammler versteht. Oder frühzeitig im Westen studieren und die Ostsozialisation hinter Überassimilation verschwinden lassen. Wenn sie hingegen als Ostler die Ostler adressieren oder die Widersprüche im deutsch-deutschen Gefüge, oder einfach machen, was sie machen müssen, ohne sich im Rollenspiel zuordnen zu lassen, landen sie nach wie vor im Ghetto der Habenichtse, die um die Töpfe der soziokulturellen Förderung rangeln. Das sind Strategien. Jede davon hat ihren Preis. Ich respektiere auch die unterkomplexen und erfolgreichen, sofern sie nicht auf Kosten anderer gehen. Originäre künstlerische Qualität schält sich in der Klarheit sowieso erst mit zeitlichem Abstand heraus. Sofern man dann noch Wert legt auf Individualität, Eigensinn und Ausdruckskraft.
Jan Kage ist Autor, Moderator, Kurator und Musiker. Seit 2010 leitet er den Kunstraum Schau Fenster und seit 2018 die Galerie Kanya&Kage in Berlin. Kage hat mehrere Bücher und Schallplatten veröffentlicht und Ausstellungen im In- und Ausland kuratiert. Seine Sendung Radio Arty wird seit 2009 wöchentlich sonntags auf FluxFM ausgestrahlt. Jan Kage hat an der Humboldt Universität Berlin Soziologie und Politikwissenschaften studiert