Durchdringen: Das U/unheimliche s/Sehen
Die zweiteilige Ausstellung des Künstlers und Kurators Michael Müller, die im Rahmen der Berlin Art Week 2024 am 11. September eröffnet hat und bis zum 8. Dezember 2024 in der Stiftung Kunstforum Berliner Volksbank zu sehen ist, befasst sich unter dem Titel Durchdringen: Das U/unheimliche s/Sehen mit der Kunstsammlung der Berliner Volksbank. Sie untersucht (Gegensatz-)Paare: „Durchdringen (Verstehen)“ vs. „Durchdringen (Durchlöchern)“ sowie das von dem Psychoanalytiker Sigmund Freud in seinem 1919 erschienenen Aufsatz Das Unheimliche behandelte Verhältnis von „Heimlich“ vs. „Unheimlich“. Was sich auf den ersten Blick auszuschließen scheint, ist doch im Wechselspiel aufeinander bezogen, durchdringt einander und changiert oft von einem zum anderen.
Im ersten Ausstellungsteil, in dem Michael Müller Werke der Kunstsammlung der Berliner Volksbank präsentiert, werden vertraute Modelle des Sehens durch die Ausstellungsarchitektur und Inszenierung verwehrt: Besucher:innen müssen ihre Perspektiven und Positionen in den abgedunkelten und niedrigen Räumen verändern, da ihnen die gängige Praxis der Annäherung an Kunstwerke verweigert wird. Das Selbstverständliche und Altbekannte der einzelnen Arbeiten kehrt in veränderter Weise wieder und fordert, mit einem neuen Blick durchdrungen zu werden. Es wird fremd, bleibt vage und lässt so tiefere Schichten und Leerstellen der jeweiligen Kunstwerke erscheinen, die zuvor verdeckt waren durch das vermeintlich Bekannte, bereits Durchdrungene.
Im zweiten Teil der Ausstellung tritt Michael Müller zunehmend als Künstler auf: Er reagiert mit eigenen künstlerischen Beiträgen auf die Sammlung und durchdringt sie (in der zweiten Wortbedeutung) mit ästhetischen Mitteln. Er verhindert die Möglichkeit, Künstler:innen und Werke nach gängigen – ästhetischen, stilistischen, historischen, inhaltlichen – Kategorien einzuordnen. Stattdessen wird eine eigenständige Erzählung geschaffen, die jeweils zwei Werke gegenüberstellt und in ein Gespräch bringt.
Dieser Teil der Ausstellung orientiert sich dabei eng an der Beschreibung des Unheimlichen, die Freud in seiner Untersuchung Das Unheimliche liefert. Nach Freud geht das Unheimliche nicht etwa auf das Unbekannte und Fremde zurück, sondern vielmehr auf das Altbekannte, längst Vertraute, das jedoch verdrängt und ins Unsichtbare gebracht wurde. Freud verdeutlicht dies an dessen Gegenteil, dem Heimlichen, das zwei ambivalente Bedeutungsebenen besitzt („heimelig“ sowie versteckt/verborgen). Unheimlich ist das, was eigentlich im Verborgenen und heimlich bleiben sollte, aber hervorgetreten ist. Auf Kunst übertragen: Unheimlich wird ein Kunstwerk, wenn jene Sinnschichten hervortreten, die in gewöhnlicher Präsentation und Einordnung nach kunsthistorischen Kriterien durch eben diese verborgen und verdeckt werden, nun jedoch durch korrespondierende Kunstwerke oder unerwartete Erzählmöglichkeiten plötzlich freigelegt werden.
Müllers Konzept löst die Werke der Kunstsammlung der Berliner Volksbank aus ihrem bisherigen Ausstellungskontext und unterzieht sie einer Rekontextualisierung. Skulpturen, Gemälde und Papierarbeiten erscheinen in neuem Licht, durchdrungen von literarischen Anekdoten und eingebettet in ungewohnte Farben und Formen. Die Werke werden Teil eines neuen zeitlosen Narrativs, das inmitten von Müllers eigenen Arbeiten und Leihgaben entsteht.
Für die Besucher:innen bedeutet das Durchdringen der Ausstellung, sich auf neue Perspektiven einzulassen, Realitäten zu hinterfragen und verborgene Bedeutungen zu entdecken. Die Stiftung Kunstforum Berliner Volksbank wird so zum Ort künstlerischer Verdichtung, wo Bekanntes und Unbekanntes auf faszinierende Weise aufeinandertreffen.
Die Ausstellung zeigt u. a. Werke von:
Gerhard Altenbourg, Armando, Roger Ballen, Hans Bellmer, Asger Carlsen, Rolf Faber, Galli, René Graetz, Hans-Hendrik Grimmling, Bertold Haag, Martin Heinig, Hirschvogel, Ingeborg Hunzinger, Leiko Ikemura, Aneta Kajzer, Max Kaminski, Henri Michaux, Michael Müller, Michael Oppitz, Cornelia Schleime, Stefan Schröter, Werner Tübke, Max Uhlig.