MARIELE NEUDECKER
Nothing Ever Stays the Same
30. August – 12. Oktober 2024
Die Künstlerin Mariele Neudecker berichtet in der Ausstellung „Nothing Ever Stays the Same“ von ihren künstlerischen und tatsächlichen Forschungen zur und in der Natur, und heuert uns auf eine Entdeckungsreise an. Sie stellt uns vor Fragen, was Natur und Landschaft ist, was beides sein kann und was sie nicht sind. Was künstlicher, künstlerischer und menschlicher Eingriff sein kann, und wie alles zusammenwirken kann. Im Rahmen der Ausstellung werden gattungsübergreifende Fragen der Realitätsformung, Orientierungssuche und Richtungsfindung aufgeworfen. Die Ausstellung ist eine Kombination aus Gemälden und Skulpturen, alleinstehend oder in einem genreübergreifenden und -hinterfragenden Sinne, inhaltlich und formal. Globale und universelle Gesetzmäßigkeiten sind Teil der Untersuchungen.
Mariele Neudecker führt uns in ihren Werken und Ausstellungen immersiv in Forschungsstationen, meist im ewigen Eis, und bildet uns dabei unsere Umwelt, unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und vielleicht auch unsere Zukunft ab. Dabei geht es auch immer um die Natur des Menschen.
Ist der Mensch sich seiner Vergänglichkeit und der seiner Umwelt bewusst, so versucht er umso mehr sich selbst zu verstehen, als auch die Welt, auf der er lebt. Das untergehende Schiff der Menschheit will betrachtet werden, der Mensch will erobern und besitzen. Will besitzen, was er nicht besitzen kann. Setzt imaginäre Grenzen, bestimmt Länder und rammt seine Fahnen in die Erde. Diese Thematik zeigen einige neue Gemälde in der Ausstellung.
»Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch. Welchen Vorteil hat der Mensch von all seinem Besitz, für den er sich anstrengt unter der Sonne?«[1]
Die unser Leben bestimmende Vergänglichkeit bekommt vermeintlich weniger Macht, wenn man sie sich zu eigen macht, und wenn man sich selbst durch Hab und Gut unvergesslich macht, gefühlte Kontrolle über das Unausweichliche erlangt. Indem man Zeiten und Gezeiten durchschreitet, ein Erbe hinterlässt. Bestenfalls ein öffentliches Erbe, eines, das in die Geschichtsbücher für die Nachwelt eingeht, damit der Nachhall eines kleinen Lebens möglichst lange ein Echo erfährt. Erforschen und Entdecken sind wohl unter anderem deshalb menschliche Instinkte. Erobern und Besitzen wiederum ein Beweis dafür, dass ‚wir‘ hier waren, ein Fußabdruck unseres Schattens.
Fortitudine Vincimus – by endurance we conquer – so lautete der Leitspruch der Familie Shackleton, aus der der Polarforscher Ernest Shackleton stammte. Jener nahm an vier Antarktisexpeditionen teil und versuchte die Durchquerung des antarktischen Kontinents von Küste zu Küste über den geografischen Südpol hinweg zu meistern. Mit seinem Schiff, das er Endurance taufte, blieb er jedoch im Jahre 1925 im Packeis der Wedell-See stecken und kenterte.[2] In der Ausstellung „Nothing Ever Stays the Same“ repräsentiert Mariele Neudecker dieses Schiff durch ein Modell, das sie mit einhundertvier Farbschichten, Schicht um Schicht bedeckte.
Die Farbe wird Stück für Stück zum skultpurbildenden Moment, und zum sinngebenden Kriterium. Die Farbschichten erzählen die Geschichte vom ewigen Eis, von unserem Planeten, der durch die Schichtungen der Elemente funktioniert, und auf dem Zeit durch diese Schichten definiert werden kann. Der künstlerische Prozess, der über eine geduldige Prozedur des Farbauftrages bestimmt wird, wird sinnbildlich für die Ausdauer, die ForscherInnen und ihre etwaige Besatzung auf Expeditionen aufbringen müssen.
Die Farbe, die eigentlich bestimmend ist für Gemälde, wird hier zum raumerweiternden und zusammenhangsstiftenden Element für die Skulptur. Welche Natur liegt also hinter einer Skulptur? Mariele Neudecker verwischt Grenzen nicht nur im direkten Sinne, sondern auch im indirekten Sinne, indem sie die Gattungen Skulptur und Malerei kreuzt und vereinigt.
„People get addicted to the open space or frightened away and never come back. I long to go back.” – Mariele Neudecker. Sie ist Künstlerin und Forscherin zugleich und hat bereits Expeditionen in die Arktis absolviert. Doch ihr Ansatz bei Expeditionen ist ein anderer als jener der meist männlichen Entdecker in der Menschheitsgeschichte. Sie ist fasziniert vom ewigen Eis und seinem ewigen Weiß. Dem unendlichen Blick, der 360 Grad-Sicht. Sie will nicht erobern, sondern sehen, wirklich sehen – und wahrnehmen, welche Natur hinter einer Landschaft steckt. Welche Natur hinter dem Reizentzug von Farben und Objekten liegt, ohne den Anhaltspunkt eines Horizonts – und darüber hinaus, welche Antworten in der weißen Stille liegen, in einer klirrendkalten klaren Luft, die als eine der einzigen auf diesem Planeten noch nicht durch mobiles Netzwerk, Kommunikation und Signal durchströmt wird, unvoreingenommen ist, und rein. So ist Reinheit doch auch eine Seltenheit geworden in einer Welt, die sonst so eingenommen ist von ihren BewohnerInnen.
Eines der Schlüsselwerke im Œuvre Mariele Neudecker sind die Tanks, die Landschaften in einem mit Wasser befüllten Glasschaukasten nachbilden (hier: Cook & Peary). Sie bieten einen Blick auf verschiedene signifikante oder historische Landschaften, die fast unberührt erscheinen. Nur eine Spur von menschlichen Reminiszenzen und Beeinflussungen ist in diesen Landschaften erkennbar. Nahezu apokalyptisch anmutend, haben diese Landschaftsnachbildungen auch etwas Sinnliches und Mystisches. Beim Betrachten wirkt es, als begebe man sich durch den Blick in einen Schwebezustand, in einen zeitlosen Raum der Nichtdeutbarkeit. Spürbar wird, dass dieser Ort etwas bedeutet, oder bedeutet hat, jedoch nicht was. Es wird keine Zeitlichkeit lesbar, das Raum- und Zeitverhältnis verschwimmt. Verschiebung und Verzerrung wird spürbar, von dem Ort, an dem wir selbst uns physisch befinden, hinein in den, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt, sondern eine Imitation von dem ist, was es gibt – ein Ort also, den es zu geben scheint.
Eine ähnliche Wirkweise haben die Landschaftsmalereien auf verschobenen Holzpaneelen. Auch sie sind ausschnitthafte Aneignungen von bereits bestehenden und in der (Kunst-)Geschichte etablierten Gemälden, doch wurden in ihnen die Menschendarstellungen ausgelassen. Allein die romantische Abbildung der Landschaft wird von Neudecker fokussiert. Die Illusion der unberührten Natur in der Epoche der Romantik wird gebrochen durch ein subtil-bedrohliches Spiel mit der Nichtdeutbarkeit von Zeit und Ort. In beiden Werkreihen macht sich Neudecker Landschaften und Gemälde als Un-Orte zu eigen, um einen Ort nachzubilden und zu repräsentieren, jedoch gleichzeitig die Orientierung zu nehmen.
Zwei auf dem Boden platzierte Objekte, in der Größe von kleinen Felsen, hat Mariele Neudecker in die gleiche Form gebracht, jedoch mit Öl auf unterschiedliche Weise bemalt. So bekommen die gleichförmigen Skulpturen die Qualität von Gemälden, werden zu einem Stein und zu einem Busch. Das Gemälde wird um eine weitere Dimension ergänzt, die Skulptur durch Farbe ins Malerische erweitert. Es kommt die Frage auf, was Natur ist, was echt ist und was menschengemacht ist; was künstlich, künstlerisch oder illusorisch ist; und auch was das Genre Malerei und Skulptur ausmacht. Mariele Neudecker zeigt auf, dass auch die Illusion die Berechtigung hat, als echt anerkannt zu werden, sind die beiden großen Objekte im Ausstellungsraum doch nicht zu verneinen. Doch, was sind sie: Realität oder Illusion, Nachbildung oder Fantasie?
Wenn Grenzen verschwimmen, so verschwimmen auch Definitionen.
Und letztendlich ist doch alles eine Frage der Perspektive, eine Frage des Blickwinkels, und jede Repräsentation letztendlich subjektiv, schlussendlich verfälscht. Dies beweist das wiederholt auftauchende Motiv von Karten in Neudeckers Werk, die sie sich aneignet und mit eigenen Sujets und Symbolen bemalt, verformt, entfremdet, schlussendlich entlarvt. Sie erinnert uns daran zurück, dass Karten niemals die Realität der Welt, von Ländern und Territorien so weitergeben und wiedergeben können, wie sie tatsächlich sind. Sie sind nie ein Spiegel, sondern eine verzerrte Darstellung.
Neudecker erinnert uns, dass unsere Welt dreidimensional ist, und eine Karte der Versuch ist diese Dreidimensionalität in zwei Dimensionen darzustellen, auf Papier oder Karton, bestenfalls zum Falten für die Schublade oder zum Aufhängen an der Wand. Wir stoßen auf uns selbst und auf unsere Frage nach Orientierung. Unsere Frage danach, wie wir etwas lesen wollen, Zeichen und Symbole, Legenden lesen wollen, um zu wissen, in welche Richtung wir gehen müssen oder wo wir uns selbst lokalisieren können.
Und auch die Zeit ist ein Ort. Ein Jetzt hier, ein Damals dort und ein Bald da. Jedes Ereignis in der Vergangenheit und in der Gegenwart schreibt eine neue Geschichte für die Zukunft.
Alles, was geschieht, ist ein Ereignis einer Kette von Ereignissen, jedes Zukunftsszenario ist das erdachte Ergebnis von etwas, das bereits passiert ist. Alles, was da war wird wieder sein, bis vielleicht nichts mehr ist.
»Eine Generation geht, eine andere kommt. Die Erde steht in Ewigkeit. Die Sonne, die aufging und wieder unterging, atemlos jagt sie zurück an den Ort, wo sie wieder aufgeht. Er weht nach Süden, dreht nach Norden, dreht, dreht, weht, der Wind. Weil er sich immerzu dreht, kehrt er zurück, der Wind. Alle Flüsse fließen ins Meer, das Meer wird nicht voll. Zu dem Ort, wo die Flüsse entspringen, kehren sie zurück, um wieder zu entspringen. Alle Dinge sind rastlos tätig, kein Mensch kann alles ausdrücken, nie wird ein Auge satt, wenn es beobachtet, nie wird ein Ohr vom Hören voll. Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was getan wurde, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.«[1]
Generation um Generation der Menschheit kommt und geht. Die Erde ist geblieben. Mariele Neudecker beweist uns, dass alles miteinander verbunden ist, ein Kreislauf ist in dem Grenzen verschwimmen, subtil oder direkt. Ein Kreislauf, in dem alles geht und wiederkehrt. Alles ist verbunden, und alles, was lebt und existiert, ist den Naturgesetzen unterworfen. Wir sind den Gezeiten unterworfen, dem Wetter,
der Vergänglichkeit. Auch wenn wir versuchen, erhaben über diese Gesetzmäßigkeiten zu sein, sind wir doch nur temporäre BewohnerInnen.
Nichts bleibt, wie es ist – und doch kommt alles zurück.
Elisa Mosch, 2024
MARIELE NEUDECKER
Nothing Ever Stays the Same
August 30th- Oktober12th 2024
Mariele Neudecker sets us on a journey of discovery. In the exhibition "Nothing Ever Stays the Same" the artist reports on her artistic and actual research on and in nature. She asks us what nature and landscape are, what both can be and what they are not. What artificial, artistic, and human intervention can be, and how everything can interact. The exhibition raises cross-genre questions about shaping reality, seeking orientation, and finding direction. The exhibition is a combination of paintings and sculptures, stand-alone or in a cross-genre and questioning sense, in terms of content and form. Global and universal regularities are part of the investigations.
In her works and exhibitions, Mariele Neudecker immersively takes us to research stations, usually in the eternal ice, and depicts our environment, our past, our present and perhaps also our future. It is also always about human nature. If people are aware of their transience and their environment, they try harder to understand themselves and the world in which they live. The sinking ship of humanity wants to be observed, whilst man wants to conquer and possess. Wants to possess what they cannot possess. They set imaginary borders, define countries and stake their flags into the ground. This is the theme of several new paintings in the exhibition.
»Vanity of vanities! All is vanity. What does man gain by all the toil at which he toils under the sun?«[1]
The ephemerality that defines our lives supposedly becomes less compelling if we own it and if we make ourselves unforgettable through possessions and goods, gaining a sense of control over the inevitable. Leaving a legacy by passing through times and tides. At best, a public legacy, one that will be remembered in history books for posterity, so that the echoes of a small life will resonate for as long as possible. This may be one of the reasons why exploration and discovery are human instincts. Conquering and possessing, in turn, are proof that 'we' were here, a trace of our shadow.
Fortitudine Vincimus - by endurance we conquer - was the motto of the Shackleton family, from which the polar explorer Ernest Shackleton descended. He took part in four Antarctic expeditions and attempted to master the crossing of the Antarctic continent from coast to coast across the geographic South Pole. However, his ship, which he named Endurance, got stuck in the pack ice of the Wedell Sea in 1925 and capsized.[5] In the exhibition "Nothing Ever Stays the Same", Mariele Neudecker represents this ship with a model that she covered with one hundred and four layers of colour, layer by layer.
Piece by piece, the colour becomes a sculptural moment and a criterion for meaning. The layers of colour tell the story of eternal ice, of our planet, which functions through the layering of the elements, and on which time can be defined through these layers.
The artistic process, which is determined by a patient procedure of colour application, symbolizes the endurance that researchers and their possible crew have to muster on expeditions.
The colour, a determining factor for paintings, here becomes a space-expanding and cohesive element for the sculpture. What nature lies behind a sculpture? Mariele Neudecker blurs boundaries not only in a direct sense, but also indirectly by crossing and uniting the genres of sculpture and painting.
"People get addicted to the open space or frightened away and never come back. I long to go back." - Mariele Neudecker
Not only as an artist, but as an explorer too, she has already completed expeditions to the Arctic. Her approach is different to that of the mostly male explorers in human history. She is fascinated by the eternal ice and its endless whiteness. The infinite view, the 360-degree view. She doesn't want to conquer, she wants to see, really see - and realize what nature lies behind a landscape. What nature lies behind the stimulus withdrawal of colours and objects, without the clue of a horizon - and beyond that, what answers lie in the white silence, in a bone-chillingly clear air, which is one of the only ones on this planet not yet permeated by mobile networks, communication and signals, unbiased and pure. Purity has thus also become a rarity in a world that is otherwise so engrossed by its inhabitants.
One of the key works in Mariele Neudecker's oeuvre are the tanks that recreate landscapes in a glass display case filled with water (here: Cook & Peary). They offer a view of different significant or historical landscapes that appear almost untouched. Only a trace of human reminiscences and influences can be recognized in these landscapes. Almost apocalyptic in appearance, these landscape reproductions have something sensual and mystical about them. When looking at them, it is as if one enters a state of suspension in a timeless space of ambiguity. It becomes palpable that this place means something, or has meant something, but not what. No temporality becomes legible, the relationship between space and time becomes blurred. Displacement and distortion become perceptible, from the place where we ourselves are physically located into a place that does not actually exist but is an imitation of what exists - a place that seems to exist.
The landscape paintings on shifted wooden panels have a similar effect. They are excerpted appropriations of paintings that already exist and are established in (art) history, but the depictions of people have been omitted. Neudecker focusses solely on the romantic depiction of the landscape. The illusion of unspoilt nature in the Romantic era is broken by a subtly threatening game with the ambiguity of time and place. In both series, Neudecker uses landscapes and paintings as non-places in order to recreate and represent a place, but at the same time to take away orientation.
Mariele Neudecker places two objects on the floor. They have the size and shape of small rocks but have been painted with oil in different ways. In this way, the similar sculptures take on the quality of paintings, becoming a stone and a bush. A further dimension is added to painting, the sculpture is extended into the painterly through colour. The question arises as to what nature is, what is real and what is man-made; what is artificial, artistic or illusory; and also, what constitutes the genre of painting and sculpture. Mariele Neudecker shows that illusion also has the right to be recognized as real, as the two large objects in the exhibition space cannot be denied. But what are they: reality or illusion, replica or fantasy?
When borders become blurred, so do definitions.
Ultimately everything is a question of perspective, a question of point of view, and every representation is conclusively subjective, finally distorted. This is demonstrated by the repeated motif of maps in Neudecker's work, which she appropriates and paints with her own subjects and symbols, deforms, alienates, and ultimately exposes. She reminds us that maps can never convey and reflect the reality of the world, countries, and territories as they actually are. They are never a mirror, but a distorted representation.
Neudecker reminds us that our world is three-dimensional, and a map is an attempt to represent this three-dimensionality in two dimensions, on paper or cardboard, at best to be folded for the drawer or hung on the wall. We come up against ourselves and our question of orientation. Our question of how we want to read something, read signs and symbols, legends, in order to know in which direction we have to go or where we can localize ourselves.
And time is also a place. A now here, a then there and a soon to come. Every event in the past and in the present writes a new story for the future.
Everything that happens is an occurrence in a chain of events, every future scenario is the imagined result of something that has already happened. Everything that was there will be again, until perhaps there is nothing left.
Generation after generation of mankind comes and goes. The earth has remained. Mariele Neudecker proves to us that everything is connected, a cycle in which limitations are blurred, subtly or directly. A cycle in which everything goes and returns. All is interconnected, and everything that lives and exists is subject to the laws of nature. We are subject to the tides, to the weather, to impermanence. Even if we try to rise above these laws, we are only temporary inhabitants.
Nothing remains as it is - and yet everything comes back.
Elisa Mosch, 2024
External sources for the text:
[1] Aus der Bibel / From the Bible, Buch / Book Koh. 1,2-1,3 & 1,4 – 1,9.
[2] Vgl. National Geographic, Link: https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/ernest-shackleton, Stand: 9. Juli 2024