Die Komikerin Hannah Gadsby hat in ihrem grandiosen Netflix-Special "Nanette" genauso gut soziologischer Vortrag wie witziges Stand-up, unter anderem von ihrer Jugend als lesbische Frau in der australischen Provinz erzählt. Sie fühlte sich ziemlich allein. Endlich sah sie im Fernsehen Bilder vom wilden CSD-Umzug. Das sind irgendwie meine Leute, dachte sie, aber irgendwie auch nicht. Wo sind denn bitte die stillen Menschen, die so sind wie ich?
Ähnlich mag es der 1990 geborenen Luxemburgerin Mary-Audrey Ramirez mit Gaming gegangen sein. Immer schon war sie fasziniert von diesem erzählerisch-interaktiven Kulturgenre, vom Eintauchen in erfundene Szenarien. Doch fühlte sie sich in der meist schnellen, lauten und teleologischen Gamer-Welt auch verloren. Wo sind die entspannten Spiele, fragte sie sich. Was zockt die, die keinen Bock hat auf "FIFA", "Grand Theft Auto", irgendein Ego-Shooter-Ding?
Ramirez sehnte sich nach Games, bei denen die Immersion nicht Bluthochdruck, sondern Meditation erzeugt. Dass es ein paar davon tatsächlich gibt, das erzählt sie beim Besuch in ihrem Atelier in Berlin-Charlottenburg, ein altes Ladengeschäft: "Journey", das musikalisch starke, vollkommen ohne Sprache auskommende Indie-Spiel für PlayStation 3 von 2012 – oder "The Last Guardian" von 2016, ein eher ruhiges Action-Abenteuer von dem ehemaligen Kunststudenten Fumito Ueda, der bereits 2001 mit der Liebesgeschichte "ICO" eigentlich ein Spiel für Nicht-Gamer entworfen hatte. Doch das war es dann auch schon fast.
Die Schönheit von nicht spielentscheidenden Momenten
Als Ramirez etwas später einmal das Western-Abenteuer "Red Dead Redemption 2" spielte, ihre Figur mit einer Laterne durchs Dunkle ritt, durch nächtliches Schneegestöber, hatte sie eine Erleuchtung: Könnte ich doch nur diese Lampe sein, die so fein in die Nacht scheint! Wenn dieser kurze Moment, der gar nicht wichtig oder spielentscheidend ist, einfach andauern könnte … Doch dann Wolfsgeheul, Wolfsattacke, Action. Sie galoppierte davon, auch weil sie keine Lust hatte, ständig nebenbei irgendwelche Tiere zu töten, wie in solchen Spielen oft Usus. So oder so, die Ruhe war hin.
Ramirez wusste da schon, dass sie es ganz eigensinnig und nochmal ganz von vorne machen muss. Sie musste jedes Element eines von ihr erdachten, viel stilleren Spiels neu und selbst gestalten. Dabei sollte auch ihr frischer, origineller künstlerischer Blick fürs Stoffliche helfen, der sie seit ihren ersten Stickbildern als junge Kunststudentin mit 20 auszeichnet. Die Stickbilder wirkten gerade anfangs Edvard-Munch-artig, melancholisch und düster. 2013 begannt sie mit mehr oder weniger biologisch korrekten, stofflichen Tierskulpturen, so entstand unter anderem ein traurig-lustiger Rochen, "Stingray so so sad" (2016), den man auch als Kleid tragen kann.
Dann ging es bald in eine andere Richtung, in die Ästhetik von Sci-Fi. Formalästhetisch blitzen bei den skulpturalen Wesen, die sie seit 2019 herstellt, Klassiker wie Ridley Scotts "Alien" auf, in der Erzählung der Ausstellungskonzepte eher neuere, durchgedrehtere Weltentwürfe, vergleichbar mit Sci-Fi-Autorinnen- und -Autoren wie Elvia Wilk oder Mark von Schlegell. Doch Ramirez ist der bildenden Kunst verpflichtet, erzählen reicht da nicht. Sie stellt fantastische, seltsam-schön-schauerliche Wesen her, Objekte, deren Oberflächen manchmal rough und manchmal spiegelglatt, immer aber anziehend sind. Teils tendieren ihre Wesen ins Gruselige zum Beispiel der "The Fly"-Ikonografie eines David Cronenberg, teils ins Freundliche, Süße, inspiriert vom japanischen "Kawaii"-Prinzip, das "niedlich, kindlich" bedeutet und Anime und Manga prägt.
Jump and run? Meditate and stare!
Und diese Ästhetik, eher die freundliche Variante, findet sich auch in Ramirez' seit 2023 endlich entwickeltem Game "Forced Amnesia", ein work in progress, das man in der jetzigen Fassung noch bis zum 15. September im Rahmen der Ausstellung "Unsolicited Awakening" in Kai 10 / Arthena Foundation in Düsseldorf spielen kann, vom 30. August bis zum 12. Oktober bei Ramirez' Galeristin Petra Martinetz in Köln – und vom 9. Oktober bis 10. November 2024 in Arles in der Trinitarierkirche, im Rahmen des Virtualitäts-Festivals Octobre Numérique Faire Monde.
Bei "Forced Amnesia" geht es, wie der Name suggeriert, um 'forcierten Gedächtnisverlust', um nichts also, besser: um das Nichts. Natürlich spiele sie auch begeistert das neue "Black Myth: Wukong", vor allem weil sie sich von den glänzend gemachten Effekten inspirieren lassen will. Ihr Game sei dennoch ganz anders. "Ich will deep focus", sagt Ramirez, "dafür brauche ich weniger Informationen, weniger Action, überhaupt weniger Handlung." Um das umzusetzen, hat sie mit ihrem Generalisten-Team, unter anderem aus den Multimedia-Künstlern und Entwicklern Max Kreis und Jannis Szeder bestehend, eine neblig milchige Welt entworfen und digital realisiert, in der die Wesen eher wabern als fliegen, eher kriechen als laufen. Jump and run? Meditate and stare! Es ist eine Art Reise zum Licht, bei der man minutenlang einfach durch den Raum taumeln oder die textile, taktile Machart der Felsen und Bäume bewundern darf, die wie in Stoff eingewickelt oder aus Bronze gegossen erscheinen.
Doch achtete Ramirez darauf, dass ihre Szenarien nicht zu sehr an die Realität erinnern. "Weil dann gleich eine emotionale Bewertung einsetzt, die die innere Einkehr stört," findet sie. Am ehesten erinnert ihre Spiel-Wirklichkeit vielleicht noch an die uns allen gleichermaßen unbekannte, seltsame Welt der Tiefsee. Die allerdings ist vollkommen stumm. Bei "Forced Amnesia" gibt es zwar auch keine Sprache, doch einen Soundtrack von Simon Goff, der sich so langsam und entschieden über den Spielenden legt wie Nebel über eine Landschaft …
Als der Filmkritiker Roger Ebert 2010 sagte, dass "Videospiele niemals Kunst sein werden", war Mary-Audrey Ramirez 20 Jahre alt, begann gerade ihr Studium an der Berliner Universität der Künste bei Thomas Zipp. Falls nicht zum Beispiel das MoMA bereits 2012 mit dem Sammeln von Videogames angefangen hätte, würde spätestens "Forced Amnesia" Eberts verbale Fehlleistung entkräften. Das Spiel erfüllt alle bekannten Kunstkriterien: Es ist schön, zwecklos, autonom, relationell und wird in Museen und Galerien gespielt.