Wellness als Industrie und Konzept ist auch in der Mode- und Kunstwelt angekommen. Laut einem Bloomberg-Report von 2022 ist dieser Zweig 5,6 Billionen US-Dollar wert und übersteigt somit, um einen Vergleichswert zu nennen, das Bruttoinlandsprodukt von Deutschland. Die Konsumenten navigieren dabei zwischen dem High-End-Bereich, der aus Detox Kliniken für 100.000 Euro pro Woche oder oxygeniertem Wasser mit einem Preis von 25 Dollar pro Flasche besteht, und dem low-end wie simplen Fitnesstrackern und Spa-Besuchen. Spätestens seit der Kolloaboration von Balenciaga mit dem Supermarkt Erewhon in Los Angeles und der darauffolgenden Social-Media-Viralität scheint das Phänomen auch im Mainstream präsent.
Martina Tiefenthaler, die als Chief Creative Officer für Balenciaga und als Designerin für Häuser wie Louis Vuitton und Maison Margiela gearbeitet hat, beschäftigt sich bereits seit Jahrzehnten mit dem Thema - spätestens, seit sie 1995 angefangen hat, sich vegetarisch zu ernähren. Hier erklärt sie, warum wir auf well-being statt Wellness und Selbstoptimierung setzen sollten
Martina Tiefenthaler, in der Ausstellung "Nowhere", die ich zusammen mit Shelly Reich in einem Pariser Kollagen-Café kuratiert habe und die sich mit dem Thema Wellness als abstraktes, theoretisches Phänomen aus der Perspektive der Kulturindustrie beschäftigt hat, haben Sie den Print "Self" gezeigt. Was ist der Hintergrund dieser Arbeit?
Die Arbeit ist Teil eines Prozesses, den ich vor zwei Jahren angefangen habe. Damals habe ich innerhalb eines Projektes das Thema Nahrungsergänzungsmittel aufgegriffen und in Zusammenarbeit mit der Fotografin Kristina Nagel eine Serie von Fotos entwickelt. Die Ausstellung "Nowhere" war dann der passende Moment, um daran anzuknüpfen. "Self" ist ein abstraktes Abbild der Kombination von supplements, die ich in der Phase vor der Ausstellung genommen habe. Mich interessiert well-being durch Ernährung, und Nahrungsergänzungsmittel gehören dazu. Es gibt zwar Argumente dagegen, aber bisher ist für mich der Stand, dass es mir gut tut, supplements zu nehmen, was ich durch Bluttests regelmäßig bestätigt bekomme. Ich identifiziere mich mit diesen Themen und die supplements, die ich einnehme, sind Teil von mir. "Self" ist ein Selbstporträt.
Wieso sprechen Sie eher von well-being als von Wellness?
Das Wort Wellness wurde in den letzten Jahrzehnten ausgeschlachtet. Well-being vermittelt klarer, worum es geht, nämlich um being well. Und der Begriff funktioniert gut mit dem Thema Ernährung. Well-being ist das Ziel, und mich interessiert, wie man das mit Hilfe von pflanzlicher Ernährung erreichen und halten kann.
Das Thema Wellness steht auch im direkten Zusammenhang mit neoliberalen Formen von Selbstoptimierung, die gesellschaftlich überall vorhanden sind, spezifisch aber in der Mode und der Kunst. Ist Ihr Interesse an dem Thema in Selbstoptimierung begründet?
Man kann Selbstoptimierung als Facette veganer Ernährung sehen, aber sie ist nicht mein Fokus. Ich habe mich in meinem Beruf viel mit Optimierungen beschäftigt. Umso älter ich geworden bin, und umso mehr Erfahrung ich gesammelt habe - im Privaten und Beruflichen -, desto mehr habe ich verstanden, dass diese ständige Idee, Optimierung erreichen zu wollen, nicht unbedingt klug ist. Mit Fokus auf Optimierung kann man übersehen, dass Fehler und nicht optimale Abläufe dazu gehören und sehr wichtig sind. Aus ihnen lernt man. Ich glaube, dass wir viel mehr über Selbstverantwortung anstatt Selbstoptimierung nachdenken müssten. Und mit Verantwortung überlegt Entscheidungen fällen: über das, was wir konsumieren wollen und wie wir unser Leben leben wollen. Das Selbst ist Teil eines großen Ganzen, das außerhalb jeder und jedes Einzelnen existiert.
Selbstoptimierung korreliert zu einem großen Teil auch damit, wie man als Subjekt extern wahrgenommen wird. In einem Text von Boris Groys mit dem Titel "Self Design and Productive Narcissism", den ich sehr passend zu dem Thema finde, schreibt er Folgendes: "Das Begehren nach dem Begehren erzeugt Selbstbewusstsein und sogar das Selbst als solches, aber es ist auch das, was das Subjekt zu einem Objekt der Bewunderung und Liebe der Gesellschaft und letztlich zu einem toten Objekt macht."
In diesem Text bin ich auch auf folgendes Zitat gestoßen, das ich sehr interessant finde: "Das Design hat die Gesellschaft selbst in einen Ausstellungsraum verwandelt, in dem der Einzelne als Künstler und selbst produziertes Kunstwerk auftritt." Nie war es so einfach möglich wie heute, Narzissmus zu zelebrieren und sich selbst zu produzieren und zu präsentieren, dank des Internets. Das ist beängstigend, dennoch mag ich die Idee von der "Gesellschaft als Ausstellungsraum". Die Balance zwischen dem Blick auf das Selbst und dem achtsamen Blick auf andere ist meiner Meinung nach die Basis für well-being.
Man kann natürlich Wellness auch noch viel weiter denken, wenn man beispielsweise auch invasivere Eingriffe dazuzählt, bei denen es ebenfalls um Selbstoptimierung geht. Und je nach Individuum kann sich dies auch ins Extreme entwickeln.
Ja, und die Gefahr besteht, dass man sich darin vergisst und man den Bezug zu sich selbst verliert.
Sie betreiben den Instagram Account Vegan4000, auf dem Sie unter anderem vegane Rezepte und Restaurants posten. Wie kam es dazu?
Ich habe den Account zur gleichen Zeit eröffnet, als ich auch privat einen Account bei Instagram angelegt habe. Davor habe ich mich lange dagegen gewehrt, mich bei Instagram anzumelden. Ich hatte Angst, zu sehr in diesen Sog von Narzissmus, Selbstdarstellung und Voyeurismus zu geraten. Seit 1995 esse ich vegetarisch, ab 2006 habe ich vermehrt vegan gegessen, dann ab 2011 nur noch vegan. In dieser ganzen Zeit fühlte ich mich oft wie ein Alien. Eine der Fragen, die mir immer wieder gestellt wurde: Was bleibt dir denn überhaupt zum Essen? Ich wollte mit dem Account zeigen, dass veganes Essen reichhaltig und vielseitig ist. Anfangs teilte ich ganz casual gezoomte Fotos von meinem Essen, ohne Captions und ohne große Überlegungen. Mittlerweile hat sich alles weiterentwickelt, und das Projekt existiert auch außerhalb von Instagram. Es ist meine Passion, und ich freue mich, wenn ich andere damit inspiriere.
Würden Sie das Thema Veganismus in den Bereich Wellness einordnen? Bei Veganismus stellt sich oft die Frage, ob es einfach nur eine Ernährungsform ist oder immer auch politischer Aktivismus.
Veganismus ist absolut Teil von well-being. Ernährung ist neben Bewegung und ausreichend Schlaf essenziell für unser Wohlbefinden. Durch meine Ernährung kann ich beeinflussen, wie glücklich und ausgeglichen ich bin. Hippocrates sagte: "Let food be thy medicine". Ich liebe dieses Zitat und habe es ständig in meinem Kopf. Daher bin ich auch immer sehr unzufrieden mit mir, wenn ich einknicke und ungesund esse. Denn rein pflanzlich zu essen, heißt nicht automatisch, gesund zu essen. Ich bin aber davon überzeugt, dass Veganismus eine Lösung für chronische Krankheiten und das Klimaproblem sein kann. Laut Studien ernähren sich in Europa im Schnitt zwei Prozent der Bevölkerung pro Land vegan, in den USA sind es mittlerweile fünf Prozent, das ist nicht viel. Veganismus ist eine Form von Aktivismus, da man als Teil dieser Minderheit viel erklären und sich rechtfertigen muss.
Wie sehen Sie Veganismus in der Modeindustrie vertreten? Gibt es hier Dinge, die Sie stärker durchsetzen oder ändern würden? Es gibt ja bereits Ansätze, wenn man beispielsweise an Kunstleder oder -pelz denkt.
Meine berufliche Erfahrung liegt im Luxussegment, wo das Thema vegane, beziehungsweise tierfreie Produkte und Materialien bisher nur eine kleine bis gar keine Rolle spielt. Neben Pelz, Leder, Wolle und Seide gibt es auch versteckte tierische Komponenten wie zum Beispiel Klebstoff aus tierischem Abfall, der unter anderem für die Produktion von Sneakers verwendet wird. Ich denke, es ist wie in anderen Industrien auch: Man macht weiter wie gewohnt, und in neue Materialien und Herstellungsmethoden wird nur dann investiert, wenn sie profitabel sind. Und da beim durchschnittlichen Luxuskunden Leder für Qualität steht, ist die Nachfrage scheinbar noch gar nicht da.
Warum sträuben sich vor allem Häuser im Luxussegment gegen vegane Materialien?
Es gibt einige Gründe dafür, ich kann auf drei eingehen. Viele vegane Alternativen für Leder werden aus Plastik, wie zum Beispiel PVC, hergestellt. Diese sind schädlich für die Umwelt und für uns Menschen und absolut nicht recyclebar. Während Firmen versuchen, nachhaltiger zu sein, ist die Umstellung auf Leder aus giftigem Plastik keine Lösung. Das andere ist, dass neue, nachhaltige Lederalternativen meist nicht in großen Mengen produzierbar sind; besonders am Anfang der Entwicklung und der Markteinführung, was dazu führt, dass beispielsweise eine Tasche aus veganem Leder teurer sein kann als die gleiche Tasche aus echtem Leder. Zudem sind manche dieser modernen Materialien weniger robust und verhalten sich anders als echtes Leder, dadurch wäre diese Tasche womöglich schneller abgenutzt. Der klassische Luxuskunde oder die Kundin, der oder die darauf trainiert wurde, dass Leder hochwertig und langlebig ist, wundert sich, warum er oder sie für eine Kunstledertasche mehr bezahlen soll als für die aus Kuhhaut und möchte nichts Neues probieren. Es benötigt die Einsicht, dass wir bessere tierfreie Materialien brauchen, gute Kommunikation, um das Wissen und die Nachfrage zu verstärken und einen Phasenplan für die Umstellung auf mehr tierfreie Produkte. Möglich wäre es.