"Orte wie die KW sind wertvoll, und sie verschwinden derzeit überall auf der Welt. Deshalb ist es extrem wichtig, sie zu unterstützen". Krist Gruijthuijsen findet auf seiner letzten Pressekonferenz als Direktor der Kunst-Werke Berlin mahnende Worte. Und es stimmt ja: Man mag sich wirklich nicht vorstellen, was Berlin ohne dieses Ausstellunghaus wäre, oder was aus ihm werden würde, sollte die AfD demnächst den Kultursenator stellen - eine Margarinefabrik mit urdeutschen Molkerei-Produkten?
Seinen Abschied begeht der Niederländer nicht mit spektakulärem Tamtam, sondern mit einer dreiteiligen Schau, die seine acht Jahre währende Amtszeit schlüssig zu Ende führt: Mit jungen, beziehungsweise übersehenen Positionen aus weniger beachteten Teilen der Welt; mit Ausstellungen zu Fragen der (Selbst-)Darstellung und zum Wechselspiel von Sehen und Gesehenwerden. Sie vereinen, und auch das zeichnet Gruijhtuijsens kuratorischen Stil aus, intellektuelle Schärfe mit formaler Prägnanz.
Es fängt gleich gut sinnlich an: mit einem House-Beat, der bis in den Hof der KW schallt. In Luiz Roques Video "Modern" tänzelt eine in schwarzes Latex gehüllte Figur in den Hallen der Tate Britain um Henry Moores Bronzeplastik "Recumbent Figure" aus dem Jahr 1938 herum. Aus dem Werk spricht mehr als Kritik am Kanon der Moderne. Die träumerisch-tastende Art, mit der sich der Performer, dessen Look sich auf die Londoner Schwulen- und Clubkulturikone Leigh Bowery bezieht, um die Skulptur bewegt, sie neugierig beäugt und zärtlich umspielt, betont sowohl die Gegensätze als auch die Anziehungskraft dieser beiden Körper. Die ekstatischen Schwingungen des Tänzers übertragen sich auf die liegende Figur und führen zu einem erstaunlichen pas de deux von Ikonografie und Fetisch, Underground und Hochkultur: Wie viel queeres Potential steckt eigentlich in Henry Moore?
Queere Biopolitik und Science Fiction
"Estufa", portugiesisch für "Gewächshaus", ist die erste Überblickausstellung zum Werk des 1979 geborenen Brasilianers Roque, der in seinen Videos Verweise auf die Moderne mit Popkultur, queerer Biopolitik und Science Fiction mischt. Im dystopischen "Ano Branco" wird eine Transfrau im Jahr 2030 von einem Roboter behandelt um die "Störungen" ihrer Geschlechtsidentität zu beheben; in "Zero" ist der Protagonist ein Hund, der in einem luxuriösen Privatjet durch eine Wüstenlandschaft fliegt.
Es sind spekulative und doch prägnante Allegorien auf den Konflikt zwischen technologischem Fortschritt und zeitgenössischen Machtverhältnissen, politischem Populismus und der Suche nach Freiräumen, die Roque auch durch die Verwendung verschiedener analoger und digitaler Aufnahmetechniken und dem Spiel mit der Architektur unterstreicht. Welche Formen wären denkbar, welche Alternativen wären erstrebenswert?
Ebenfalls eine institutionelle Premiere ist die Einzelschau von Pia Arke in den Obergeschossen der KW. Als Tochter einer Inuk-Mutter und eines dänischen Vaters beschäftigte sich die 1958 geborene und 2007 verstorbene Künstlerin mit Fragen von Identität und Repräsentation im Verhältnis von Dänemark und Grönland. In Fotografien, Videos, Performances, Texten und Skulpturen reflektierte sie, wie sich koloniale Machtstrukturen in der Bilderzeugung niederschlagen; sei es im Blick auf den weiblichen Inuit-Körper oder auf die Landschaft; sei es in der Medizin oder in der Erinnerungskultur.
Körperfotografie ohne Erotik
Den Körper – und zwar meist den eigenen – machte auch der 1949 in Detroit geborene Jimmy DeSana zu seinem wichtigsten Thema. In einem Video sieht man den Künstler lustlos masturbieren, in einem anderen parkt ein Auto in einer Auffahrt, ein Hund springt auf die Motorhaube und beginnt fetischpeitschenartig mit seinem Schwanz zu wedeln. Dass hinter den schmucken Fassaden Suburbias mehr steckt als christlich-spießiger Anstand, hatte der Künstler schon als Kind erfahren: Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, nachdem sein Vater mit einer Nachbarin fremdgegangen war. DeSana inspirierte dies später zur Fotoserie "101 Nudes", die mitten in der Vorstadtkulisse entstand – allerdings mit Aktfotografien von ihm selbst und seiner schwul-lesbischen Freunde und Freundinnen.
DeSanas Fotografien wurden bald darauf von der queeren Szene entdeckt, kursierten im Mail-Art-Netzwerk von Ray Johnson und im "File"-Magazin der Gruppe General Idea. "Ich habe versucht, mit dem Körper zu arbeiten, aber ohne die Erotisierung, die in der Fotografie häufig zu finden ist", sagte DeSana später einmal zu der Künstlerin Laurie Simmons, seiner Mitarbeiterin und engen Freundin.
In den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren wurde DeSana zu einem Protagonisten der New Yorker Punk- und No-Wave-Szene und etablierte sich als Musikfotograf: Seine Porträts der jungen Debbie Harry oder David Byrne sind jetzt ebenfalls in seiner Schau in den KW zu sehen. Vor allem aber veranschaulicht die Ausstellung die radikale Veränderung seines Werks, nachdem er sich Mitte der 1980er-Jahre mit dem HI-Virus infizierte. Er entfernte sich vom Thema des Körpers und wandte sich einer abstrakteren Bildsprache zu. Jimmy DeSana starb 1990.
Sex gleich Tod
Sein Werk wird in den KW nun gemeinsam mit den melancholischen Zeichnungen und Gemälden sowie Möbel-Skulpturen des Künstlers Paul P. gezeigt. Der Kanadier findet die meisten Motive für seine Porträts in Archiven von Schwulenmagazinen, insbesondere aus dem Zeitraum zwischen dem Anfang der Schwulenbewegung und dem Beginn der HIV-Krise. "Ich wurde 1977 geboren, und mein Selbstbewusstsein entwickelt sich parallel zur Aids-Krise. Wie viele meiner Generation waren Sex und Tod auch für mich untrennbar miteinander verbunden", sagt Paul P. im Begleittext zur Ausstellung mit dem Titel "Ruins of Rooms".
Was er künstlerisch verarbeitet, verfolgt Krist Gruijthuijsen auf kuratorischer Ebene: Sichtbarkeit für jene zu schaffen, die unter politischer Verfolgung sowie gesellschaftlicher und auch kunsthistorischer Missachtung litten. So spannt die DeSana-Ausstellung einen Bogen zu Künstlern wie David Wojnarowicz oder Martin Wong, denen Gruijhtuisen während seiner Zeit an den KW große Einzelpräsentationen widmete. In den Worten des scheidenden Direktors: "'Ruins of Rooms' ist eine Ode an eine verlorene Generation und der Abschluss meiner Programmarbeit in den KW, mit der ich versucht habe, mich für die Ausgegrenzten, die Übersehenen und die Radikalen einzusetzen."