Man klettert eine enge Treppe hinunter in einen düsteren, feuchten Keller. Diese Mauern unter dem Rathaus von Arles haben die Römer errichtet. Ein guter Ort, um etwas zu begraben, dachte Sophie Calle – in ihrem Fall kontaminierte Fotoabzüge, die sie hier ein letztes Mal zeigen will, bevor sie entsorgt werden. Während der Vorbereitung zu ihrer großen Retrospektive, die im vergangenen Herbst im Pariser Picasso Museum eröffnete, war ihr Atelier von einer Überschwemmung heimgesucht worden. Die Serie "Die Blinden" war nass geworden und danach von einem Pilz befallen, der nicht einzudämmen ist. Sie konnte nicht gezeigt werden. Jetzt ist sie hier, pilzverseucht. Ein Schild gibt den guten Rat, kein Werk zu stehlen, denn es könnte einem die ganze Einrichtung zerstören.
Dramatisch angeleuchtet stehen die Werke an den groben Mauern. Calle hat dafür blind geborene Menschen gefragt, wie sie sich Schönheit vorstellen, und zeigt Bilder, die zu den Antworten passen. Grün müsse schön sein, sagt ein kleiner Junge, denn er liebe Wiesen und Bäume. Blau wie das Meer müsse schön sein, lautet die Aussage eines Mannes, der gern am Wasser ist. Und eine Frau wird zitiert, der muskulöse Körper ihres Mannes sei schön – sein Gesicht bedeute ihr nichts. Dieser melancholischen Arbeit über Verlust und Sehnsucht hat Calle einige Objekte aus ihrem Besitz an die Seite gestellt: ein altes Abendkleid, rote Cowboystiefel, ein Bett. Es sind Dinge, die die Künstlerin eigentlich nicht mehr haben will, die sie aber nie wegwerfen konnte. Jetzt komplettieren sie diese Ausstellung – die leider etwas pathetisch wirkt.
Dafür gerät eine andere zentrale Schau der diesjährigen Rencontres de la Photographie in Arles für keinen Moment unter Kitschverdacht. Die großartige Retrospektive der amerikanischen Fotografin Mary Ellen Mark, die in Kooperation mit dem C/O Berlin produziert wurde, führt in ungeschönten Schwarz-Weiß-Bildern in das Amerika der Armut, eine Welt voller schwangerer Teenager und chancenloser Kinder.
Eine erfolgreiche Kooperation ist auch die Gruppenausstellung über Grafitti "All In The Name Of The Name", die in Zusammenarbeit mit dem Palais de Tokyo entstand. Ein populäres Thema, aber die Umsetzung überrascht mit historischer Tiefe. Hier hat nicht nur Keith Haring seinen Auftritt, sondern wir sehen Gordon Matta-Clark seinen Grafitti Truck bemalen, und bei Martha Cooper rennen die lebensmüden Kids über S-Bahn-Dächer. Lisa Kahane zeigt die Schriften an den Wänden der Stadt und auf den T-Shirts seiner Bewohnerinnen: Auch das sind urbane Zeichen. Und auch Sophie Calle taucht wieder auf, mit einer frühen, rauen Arbeit, für die sie zufällig ausgewählte Menschen in der Bronx an einen für sie bedeutsamen Ort folgte. Es geht um den Namen, den tag, aber auch, unter die Haut der Stadt zu kommen.
Seit 1970 existiert das Fotofestival in Arles, und es belebt im Sommer die Stadt, genauso wie es von ihrem historischen Charme profitiert. Die über 40 Ausstellungen plus das reiche Off-Programm bespielen nicht nur Museen und Ausstellungshäuser, sondern auch Kirchen, Fabrikhallen und anderen interessanten Locations. Dokumentarische Fotografie kommt hier durchaus vor, aber der Schwerpunkt des seit 2020 von dem in Frankreich aufgewachsenen Deutschen Christoph Wiesner geleiteten Festivals liegt auf Fotografie mit künstlerischem Anspruch.
Das kann auch ganz abstrakt und technologisch experimentell sein, wie beim Künstler Mustapha Azeroual, der gemeinsam mit der Kuratorin Marjolaine Lévy auf Einladung des "BMW Art Makers"-Programm auf dem Festival ausstellt. Für die Schau "The Green Ray" haben die beiden einen Seemann zahlreiche Fotos von Sonnenauf- und -untergängen machen lassen. Aus der Summe dieser Bilder hat Azeroual ein Bild destilliert, das er auf zwei mehrere Meter breite, schillernde Lenticularbilder aufgebracht hat. Nach Art eines Kippbildes (nur viel größer) sieht das faszinierende Farbfeld aus jeder Perspektive des Raumes ein bisschen anders aus. Doch die meditative Schönheit ist nicht ungetrübt – auch die Spuren der Umweltverschmutzung sieht man in der farbigen Bildwand, so die Macher.
Zwischen Fiktionen und Realitäten
"Beneath the Surface", unter der Oberfläche lautet das Motto des diesjährigen Festivals – was weit genug ist, um die unterschiedlichsten Projekte zu fassen, von Arbeiten über Japan nach Fukushima bis zu Reportagen über Ghanas menschenverachtende Elektroschrott-Industrie. Unter die Oberfläche des sich rasant wandelnden Chinas wollte auch MoYi schauen, dessen bemerkenswertes Werk in einer der vielen Ausstellungshallen der Luma Foundation ausgestellt wird, Arles neuem Powerhouse der zeitgenössischen Kunst.
Der Autodidakt begann in den 1980er-Jahren mit Straßenfotografie und radikalisierte bald seine Perspektive zu der eines streunenden Hundes, wenn er die Kamera in Fußhöhe befestigte. In einer anderen Serie lässt er sein ausgemergeltes Gesicht mit dem schütteren Bart konsequent ins Bild ragen, wenn er urbane Tableaus oder Straßenszenen aufnimmt – nicht sich selbst als Person will er damit zeigen, sondern seine Zeugenschaft.
Subjektiv ist die Fotografie, die in Arles ihren Platz findet, mit Raum für Fiktionen, auch wo es um harte Realitäten geht. Wenn der junge libanesische Künstler Randa Mirza in "Beirutopia" den verzweifelten Zustand des von politischen, ökonomischen und sozialen Krisen geschüttelten Beiruts zeigt, fügt er den Bildern der realen Zerstörung KI-generierte Collagen hinzu, lässt Fakten und Erinnerung verschwimmen.
Liebesbeziehungen mit KI
Noch sind die Projekte, die die Möglichkeiten der KI in der Fotografie ausloten, hier selten. Doch bei den Nachwuchsprogrammen, die über einer Monoprix-Filiale eine originelle Location gefunden haben, zeigt die junge Künstlerin Marilou Poncin trotzdem die technologische Zukunft der menschlichen Beziehungen. In drei Filmen werden Liebesbeziehungen zu Objekten imaginiert: ein Mann findet sich in einer Art Sado-Maso-Beziehung zu einem Hightech-Auto wieder, dessen Oberflächen seltsame Flüssigkeiten absondern. Ein anderer hat Gefühle für einen weiblichen KI-Avatar, der auf einer Art textilem, anschmiegsamen Screen auch mit ins Bett darf. Und eine Frau erlebt in einem pulsierenden Ganzkörper-Anzug offenbar Berührungen, die direkt in die Ekstase führen.
Noch liebt das Publikum in Arles vor allem die klassische Kamera, die hier deutlich mehr Menschen um den Hals hängt als anderswo. Aber wer weiß, welche technologischen Gadgets die alten Mauern der Stadt noch sehen werden.