Sarah Lucas ist aufs Land gezogen. Nachdem die Kunst der Britin lange von einer urbanen Londoner Hipness geprägt war – in Shoreditch betrieb sie zusammen mit Kollegin Tracey Emin einen legendären Art Shop – lebt die 61-Jährige heute mit ihrem Partner in der Grafschaft Suffolk zwischen Cottages, kleinen Pubs und Landwirtschaftsflächen. Und so beginnt Lucas' aktuelle Retrospektive "Sense of Human" in der Kunsthalle Mannheim dann auch mit einem eher ungewöhnlichen Anblick. Auf einer wandfüllenden Fototapete ("Stooks", 2023) sitzt die Künstlerin mit überschlagenen Beinen auf einem Stuhl, mitten auf einem abgeernteten Getreidefeld. Das Licht ist golden, die Ähren sind üppig, und auch Sarah Lucas selbst ist mit Strohhut und pragmatischem sandfarbenen Outfit ein harmonischer Teil der Szenerie. Sie scheint die Betrachterin direkt anzuschauen, auf ihrem Gesicht liegt ein zufrieden aussehendes Lächeln.
Das Bild zeigt ganz offensichtlich eine Künstlerin, die sich nicht mehr um kosmopolitische Coolness schert und nun vielmehr die Ernte einer fast 40-jährigen Karriere einbringt. Doch das Foto weckt unweigerlich auch andere Assoziationen: Ist dieser Strohhut nicht lupenreiner van Gogh? Sind diese Getreideschober nicht extrem Monet?
Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich Sarah Lucas hier mit ihrem Outdoor-Stuhl ganz bewusst ins Epizentrum der europäischen Kunstgeschichte setzt. Zumal an der Wand daneben eines ihrer früheren Werke prangt, auf dem sie ein Porträt von sich selbst mit Zigarette im Mundwinkel in der Manier eines Andy Warhol vervielfacht hat. Eine multiplizierte und mit Farbspritzern versehene Sarah ist sicherlich keine liebliche "Marilyn". Aber sie ist eben auch keine Künstlerin, die man ausschließlich - wie es immer wieder passiert ist - vor dem Hintergrund einer dezidiert weiblichen Kunsttradition lesen sollte.
Fundierte Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte der Bildhauerei
Natürlich finden sich auch in Mannheim einige ihrer feministischen Klassiker, die sich mit dem weiblichen Körper als semiotischem Kampffeld beschäftigen: Ihr berühmtes Selbstporträt mit zwei Spiegeleiern auf den Brüsten beispielsweise oder ihre "Chicken Knickers", bei der ein gerupftes, rohes Hühnchen als Vulva-Ersatz in einem nur mit Unterhose bekleideten menschlichen Schoß liegt. Auch ihre Serie von grotesk verknoteten Leibern aus Metall, ausgestopften Feinstrumpfhosen oder Kunststoff, die sich auf Bürostühlen räkeln, treiben Klischees weiblicher Sexyness auf unheimliche und fast erbarmungswürdige Weise auf die Spitze. Doch wenn man einmal über die ganzen Genitalien, Brüste und anzüglichen Pointen hinwekommt, kann man in Lucas' Werk auch eine zwar augenzwinkernde, aber durchaus fundierte Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte der Bildhauerei entdecken.
In der Mannheimer Schau, kuratiert von Luisa Heese, wird diese Dimension der Arbeiten nun ausführlich ausbuchstabiert. Schon vor dem eigentlichen Eingang wartet eine chromspiegelnde Skulpturengruppe aus den 2010er-Jahren, die man als Körper lesen kann, die aber so abstrakt sind, dass sie auch als Verweis auf die Hochglanz-Objekte eines Constantin Brâncusi durchgehen. Andere der Bürostuhl-Bunnys tragen Züge der Wurst-Skulpturen von Franz West. Vor der Fototapete mit dem Getreidefeld stehen außerdem zwei massive Arbeiten direkt auf dem Boden, die in Form eines Marmeladen-Sandwichs und eines Klumpens zartrosa "Spam"-Dosenfleisch daherkommen. Darin stecken Referenzen an die Esskultur der britischen Working Class (Monty Python und ihr "Spam"-Sketch lassen ebenfalls grüßen), aber gleichzeitig nehmen sie auch Elemente einer überwiegend männlich geprägten Tradition des geometrischen Minimalismus auf. Donald Judd, aber als Pastete.
Das Referenz-Spiel lässt sich noch weiter treiben. Eine verdreckte Badewanne mit rosa Latexboden könnte man als etwas schmuddelige Hommage an Marcel Duchamp und sein "Pissoir" lesen. Gefundene Objekte aus dem Sanitärbereich sind schließlich seit über 100 Jahren nicht mehr ohne den Übervater des Readymades zu denken. In einer Schrankinstallation mit Kleiderbügel-Skulptur kann man wiederum dem surrealistischen Geist Rene Magrittes kaum entkommen. Und auf einem der Böden des Möbelstücks aus dem Jahr 2000 hat Sarah Lucas eine besonders vielsagende Referenz untergebracht: In einem Einweckglas mit rötlicher Flüssigkeit schwimmt der Kadaver eines echten Hasen. Moment: eingelegte Tiere? Ein kunsthistorischer Schelm, wer dabei an Damien Hirst und seine Haie, Schafe oder Kühe in Formaldehyd denkt. Zusammen mit dem heute 59-Jährigen war Sarah Lucas Anfang der 1990er-Jahre unter dem Label "Young British Artists" auf der internationalen Bühne erschienen.
Bildsprache voller Humor und Menschlichkeit
Nun ist es weder besonders schmeichelhaft noch geistreich, die Ausstellungsbesprechung einer Künstlerin vor allem mit Verweisen auf berühmte männliche Kollegen zu bestücken. Doch Lucas hat sich nie vor symbolischem Armdrücken mit den Platzhirschen ihrer Disziplin gescheut und provoziert die Vergleiche in Mannheim nun mit Vehemenz. "Ich mag Kerle", sagt sie im Katalog zur Ausstellung.
Diese Inszenierung produziert eine ziemlich große Fallhöhe, doch folgt man der Künstlerin durch die Räume und die Jahrzehnte, entsteht der Eindruck eines vielschichtigen Werks, das nicht nur im Bezug auf Gender-Diskurse, sondern auch in seiner formalen Vielfalt überzeugt. Und das bei allen Anklängen an die Granden der Kunstgeschichte eine ganz eigene, unverwechselbare Bildsprache hervorgebracht hat, die von Humor und Menschlichkeit geprägt ist. Die Arbeiten sind keine Parodien – sie scheinen aber die These zu vertreten, dass ein wenig Selbstironie es leichter macht, eine unmittelbare Beziehung zu einer Skulptur aufzubauen, bevor man sich in ihre ästhetischen Qualitäten versenkt.
Obwohl meist über Sarah Lucas' Verhältnis zum weiblichen Körper gesprochen wird, wirkt ihre Kunst heute viel queerer, als sie meist rezipiert wurde. Das Vorkommen von Brüsten und Phalli hält sich in den gezeigten Werken ungefähr die Waage, oft kommen sie gleichzeitig in einer Arbeit vor. Ob die "Chicken Knickers" wirklich auf einem Frauenkörper liegen, lässt sich anhand des Bildes eigentlich gar nicht sagen. Und in ihrer Serie, bei der sie Erotik-Seiten aus britischen Revolverblättern vergrößert, interessiert sie genauso die Sexualisierung von jungen Mädchen wie die von entblätterten Männern. Dass diese Arbeiten weit weniger bekannt wurden, liegt vielleicht daran, dass sich auch der Kunstbetrieb mit seinem kritischen Anspruch dann doch wieder auf die Werke stürzt, die am deutlichsten mit einer konventionellen Form von Sexyness spielen. In Mannheim hängen sich die nackten Frauen und Männer dagegen als gleichberechtigte Schicksalsgenossen gegenüber.
Effekt statt Beiläufigkeit
Man kann sich nun fragen, ob diese Demonstration von Sarah Lucas' kunsthistorischer Relevanz unbedingt mit einem monumentalen Ausstellungsdesign einhergehen muss. So sind viele ihrer Selbstporträts zu Riesenformaten aufgeblasen, die ganze Wände bedecken – beispielsweise ihre irritierende Serie "Got A Salmon On" von 1997, in der sie einen toten Fisch mal wie ein Baby und mal wie ein Mode-Accessoire durch die Londoner Straßen trägt. Die Beiläufigkeit und vermeintliche Improvisiertheit der Fotografien wird dadurch zugunsten des Effekts im Raum geopfert.
Aber das Recht auf die große Geste ist schließlich auch etwas, das sich eine Künstlerin erst erkämpfen muss. Lucas erscheint in Mannheim zuweilen überlebensgroß, doch balancieren ihre Werke diese Wucht dann wieder durch ihre trockene Verschrobenheit aus. Wer seine eigene Retrospektive so lässig von einem britischen Getreidefeld beobachtet, macht nicht den Eindruck, als könnte er so schnell die Bodenhaftung verlieren.