Will man im Osten Londons die Themse mit dem Auto überqueren, gibt es nicht viele Möglichkeiten. Ist der Blackwall-Tunnel gesperrt, führt der nächste Weg über eines der bekanntesten Wahrzeichen der Stadt: Die Tower Bridge. Die am 30. Juni 1894 - vor 130 Jahren - eröffnete Brücke wird noch immer jeden Tag von Zehntausenden Fahrzeugen und Fußgängern genutzt. Damals wurde sie dringend gebraucht, denn die bestehenden Brücken waren hoffnungslos überlastet.
Die Bevölkerung Londons wuchs im Laufe des 19. Jahrhunderts um mehrere Millionen Menschen an. Täglich drängten sich Tausende auf den Brücken, um vom Norden in den Süden und vom Süden in den Norden zu kommen. Hinzu kamen Viehhändler, die ihre Tiere auf den Markt trieben.
"Es gibt Zeitzeugenberichte, wonach die Leute dann stundenlang auf der London Bridge standen", sagt Dirk Bennett. Der aus Deutschland stammende Historiker und Archäologe ist seit 2015 für die Kulturvermittlung und historische Recherche an der Tower Bridge zuständig. Doch eine weitere Brücke flussabwärts zu bauen, kam lange nicht infrage. Das Ufer der Themse in der Innenstadt, im sogenannten Pool of London, war im 19. Jahrhundert ein wichtiger Umschlagplatz für Waren: Baumwolle, Kakao, Tee und Zucker wurden per Schiff aus allen Teilen des Empires in die britische Hauptstadt gebracht.
Die Tower Bridge vereint mehrere Brückentypen
Als schließlich eine Ausschreibung gemacht wurde, waren die Anforderungen hoch. Die damals oft noch mit Masten versehenen Handelsschiffe mussten darunter durchfahren können. Zudem sollte sich die Brücke ins Stadtbild mit dem nahen Tower of London einfügen.
Etwa 50 Entwürfe wurden eingereicht. Darunter waren einige kreative Vorschläge, wie etwa den kompletten Verkehr über gigantische Aufzüge auf eine hoch gelegene Brücke zu transportieren und auf der anderen Seite wieder hinunterzulassen.
Der Vorschlag, der sich schließlich durchsetze, stammt vom Architekten Horace Jones und vereint gleich mehrere Brückentypen. Zwischen zwei knapp 64 Meter über dem Straßenniveau hohen Türmen wurde eine Klappbrücke über eine Länge von 66 Metern konstruiert. Zwischen den Türmen sind zum Ufer hin jeweils Hängebrücken gespannt.
"Nonplusultra viktorianischer Ingenieurskunst"
Populär bei Touristen ist die Brücke vor allem wegen ihres burgähnlichen Aussehens, das an den Tower erinnert. Doch hinter der neogotischen Stein-Fassade verbirgt sich ein Kern aus 10 000 Tonnen Stahl, der mit dem "Nonplusultra viktorianischer Ingenieurskunst und Technologie" ausgestattet ist, wie es Bennett ausdrückt. Nach acht Jahren Bauzeit war sie fertig.
Die Brückensegmente wurden früher mit einem dampfbetriebenen hydraulischen Mechanismus bis zu einer beinahe senkrechten Lage aufgeklappt. Seit Anfang der 70er-Jahre wird der Mechanismus elektrisch betrieben und die hydraulischen Elemente sind mit Öl statt mit Wasser befüllt.
Der pompösen Einweihung am 30. Juni 1894 im Beisein des Thronfolgerpaars folgte erst am 9. Juli die Übergabe an die Öffentlichkeit. Fotos, die das Ereignis sowie die letzten Tage vor der Fertigstellung zeigen, wurden erst vor wenigen Monaten wiederentdeckt und sind nun in einer Freiluft-Ausstellung auf der Brücke zu sehen. Etwa 140 000 Londoner strömten damals auf ihr neues Wahrzeichen - auch im Rückblick noch ein Gänsehautmoment, findet Bennett.
Doppeldeckerbus "hüpfte" über die sich öffnende Brücke
Damit sogar in aufgeklapptem Zustand Fußgänger die Brücke nutzen können, wurden die beiden Türme weit oben mit Fußgängerbrücken verbunden. Sie konnten über Aufzüge oder Treppen erreicht werden, wurden aber bald wieder geschlossen, weil sich der Umweg für Fußgänger kaum lohnte.
Es dauerte nur 60 Sekunden, bis die Brücke vollständig aufgeklappt war. Offenbar zu schnell für einen Doppeldeckerbus, der die Tower Bridge im Jahr 1952 überquerte und von den sich öffnenden Segmenten überrascht wurde. Der Busfahrer entschied, aufs Gas zu drücken und der Bus "hüpfte" über den sich auftuenden Abgrund auf die andere Seite. Noch immer wird die Tower Bridge für etwa 800 Schiffe im Jahr geöffnet. Die Passage selbst wie auch die Fahrt im Auto über die Brücke sind kostenlos. Betrieben wird das Bauwerk von der City Bridge Foundation, einer der ältesten Stiftungen des Landes.
Die größte Aufmerksamkeit in jüngerer Zeit erhielt die Tower Bridge während der Olympischen Spiele im Jahr 2012, als an den Fußgängerbrücken die olympischen Ringe angebracht waren. In einem legendär gewordenen Video für die Eröffnungsfeier war zu sehen, wie Queen Elizabeth II. und James-Bond-Darsteller Daniel Craig mit dem Helikopter scheinbar darunter hindurchflogen, um danach mit dem Gleitschirm über dem Olympiastadion abzuspringen.