ALEX MÜLLER | Der Anfang steht schon fest
"Alles, was wir tun, beruht auf dem, was vorher war. Wenn wir zur Kunst gehen, betreten wir – ästhetisch betrachtet – einen schon vollständig möblierten Raum und bringen unser vollständig möbliertes Selbst mit. Für ihre erste Einzelausstellung in der Galerie, Der Anfang steht schon fest, hat sich die Künstlerin Alex Müller für die Beletage eines Charlottenburger Altbaus des 19. Jahrhunderts, mit ihren klassischen Proportionen und hohen Decken, etwas ausgedacht, das einem sonderbaren Neueinzug gleicht. (Eine Ausstellung in einer Galerie ist eine Art Zusammenwohnen oder atmosphärische Besetzung, eine – wenn auch temporäre – Beanspruchung der Räume von anderen.) Die Zusammenstellung der unterschiedlichen Werke durch die Künstlerin weckt die Vorstellung von einem subjektiven, bruchstückhaften, familiären Raum, der viele Vergangenheiten hat und zahlreiche Geschichten erzählen kann. Eine Reihe figurativer Malereien (darunter einige freistehende mit „dicken“, gepolsterten und bestickten Oberflächen), seltsame Skulpturen (wie Der Ursprung [2024], die an ein merkwürdiges Geschlechtsorgan erinnert) und Interventionen (darunter Wandzeichnungen aus Mohnsamen) sind ein – durchaus eigentümlicher – Nachhall von Erfahrungen, die aus den Erinnerungen der Künstlerin an ihre Familie und aus ihrem mit Symbolen aufgeladenen Unbewussten aufsteigen. Produktion und Reproduktion, Samen und Reflexionen sind im Überfluss vorhanden.
In der Ausstellung stoßen sich Müllers Arbeiten auch auf unbequeme Weise an dem Grundsatz, dass die Eltern von Künstler*innen in den Galerien oder bei den Ausstellungseröffnungen ihrer Kinder – persönlich oder thematisch – selten spürbar präsent sind (sofern sie nicht selbst der Kunstwelt angehören). Es wird als peinlich, wenn nicht gar als Tabu empfunden. Selbstverständlich gibt es berühmte Ausnahmen (wie etwa Louise Bourgeois), doch es ist vielsagend, dass dieses Prinzip noch allgemein gilt. Ich denke, Müller war sich dieser Tatsache intuitiv bewusst und geht absichtlich an die Schmerzgrenze, wenn sie uns durch ihre Kunstwerke mit ihren Eltern bekanntmacht, um zu sehen, was passiert. Der wiedergutmache Engel (2024) ist beispielsweise eine Skulptur aus einem Kleidungsstück; sie besteht aus einer Lederjacke, die die Künstlerin von ihrem geliebten Vater erbte, der unlängst während der Corona-Pandemie an den Folgen einer Krebserkrankung starb. Zur Vervollständigung dieser Arbeit bedeckte die Künstlerin die Oberfläche mit Briefmarken aus der ehemaligen DDR – mit Motiven aus dem Tierreich sowie Darstellungen sozialistischer Denkmäler und Fahnen schwingender Jugendlicher … Dem Vater der Künstlerin wurde nahezu sein Leben lang vorgehalten, dass er als junger Mann seine Familie im Osten verlassen hatte. In einem Essay für den Katalog Bis die Zeit vergeht (2023), der kürzlich zu ihrer institutionellen Einzelausstellung in der Kunsthalle Nürnberg erschien, habe ich die Bedeutung von Müllers Familiengeschichte für ihr Werk untersucht. Mir war klar, dass es mehr als lohnenswert sein würde, über eine Familie aus der Arbeiterklasse zu sprechen, deren Leben sich in der Nachkriegszeit zwischen der Bundesrepublik und der DDR abspielte – eine Geschichte, die alltäglicher war, als allgemein anerkannt wird. Doch in der bedeutenden deutschen Gegenwartskunst wird sie merkwürdigerweise kaum thematisiert. Manche Geschichten und Narrative werden erzählt, andere nicht.
Müllers Werk zeigt, bei aller Begeisterung, dem geräuschvollen, freudigen Tun und dem gelegentlichen pointierten Oversharing, keine Angst zu ergründen, wo der Schmerz herkommt. Mir ist eine Kunst verdächtig, die vorgibt, dass alles gut geklappt hat und die perfekt abgestimmt auf den Markt kommt. Vergleichen Sie diese in Ihrer Vorstellung mit Das Ja (2016), einem berührenden Tuschegemälde auf Leinwand. Das Bild zeigt in verwaschenen, dunklen Blautönen die Mutter der Künstlerin im Rollstuhl, auf den sie nach einem Schlaganfall zwölf Jahre lang angewiesen war. (Ich kann die Bilder von Rollstühlen in der zeitgenössischen Malerei wahrscheinlich an einer Hand abzählen. Die Kunst möchte bestimmte Dinge sehen und andere nicht.) Das Gemälde appelliert an die Empathie und testet zugleich ihre Grenzen, sogar die zwischen Mutter und Kind. Und, in einem weiterem Sinne, die Kluft zwischen der Kunst und den realen Lebenserfahrungen, nicht nur denen der Künstlerin, sondern auch denen des Publikums.
So begrüßt als Auftakt der Ausstellung ein Spiegelkabinett, die Installation Ihr bei mir (2024), die Besucher*innen. Auch sie sind für die Künstlerin der Anfang, der schon feststeht. Danach bietet eine Abfolge von Räumen und Türen, über die verschiedene Werken verteilt sind, Wahlmöglichkeiten. Rechts befindet sich ein surreales „Badezimmer“, dessen absurde Hauptattraktion die mit getrockneten Erbsen bedeckte Badewannenskulptur Der Anfang steht schon fest (2024) ist. Bei einem Atelierbesuch erklärte die Künstlerin:
„Das Badezimmer ist für mich immer der Ort gewesen. Jetzt nicht mehr, weil ich rauche. Jetzt ist es der Balkon. Aber als ich noch zu Hause gewohnt habe oder als ich bei meiner Großmutter war, in der DDR war die, war das Badezimmer immer der Ort, wo ich mich zurückgezogen habe. Immer. Und selbst wenn ich nicht auf die Toilette musste, habe ich mich auf das Klo gesetzt. Und wo habe ich draufgeschaut? Auf die Badewanne, auf die Badewanne und immer nur. Und dann gingen da draußen die Diskussionen los. Die DDR, die Mauer, wieder Pakete machen und du hörtest es schon von Weitem. Also es war ja jeden Tag Thema.“
Auch an anderer Stelle beweisen Müllers Arbeiten ihren Sammlerinnenblick für das Bewegende und Absurde in den Alltagswelten der Dinge und Bilder, Materialien und Produktionsweisen. So überrascht es nicht, dass viele ihrer Arbeiten aus Sammlungen kurioser Erinnerungstücke und Andenken (wie den letzten Resten eines Seifenstücks) stammen, die noch einmal nützlich werden könnten. Sie lassen an die Sensibilität einer Klangkünstlerin denken, die Feldaufnahmen von ihrem (Gefühls-) Lebens macht. Dabei nimmt ihr Werk großzügige Anleihen bei bedeutenden künstlerischen Traditionen, vom Surrealismus bis zu Fluxus und den feministischen Bewegungen, ohne sich jedoch allzu große Sorgen um die reine Lehre zu machen. In der Luft, die ihre Arbeiten umgibt, liegen die allgegenwärtigen Fragen: Wer schätzt was, wer bewahrt und sammelt was? Und der wahre Wert der Kunst ist nichts Geringeres als die ständige Entwicklung ihrer Bedeutungen."
-- Dominic Eichler
(Übersetzung Barbara Hess)
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