Hören: Bruckners Sinfonien
Neulich habe ich Anton Bruckners monumentale 9. Sinfonie in Berlin live gehört, dirigiert von Teodor Currentzis, der im Westen gerade ziemlich unbeliebt ist, weil er Putins Angriffskrieg in der Ukraine nicht verurteilt. Das Konzert hat mich immerhin wieder auf den Geschmack gebracht. Ich habe die Box mit allen Bruckner-Sinfonien wieder aus dem Regal geholt: Günter Wand leitet das Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester – und nimmt seinen Bruckner rasant, feurig, kraftvoll. Großes Kino für die Ohren!
Anton Bruckner, Sinfonien 1-9, dirigiert von Günter Wand, 9 CDs, Sony
Lesen: Franz Kafka "Der Verschollene"
Klingt jetzt ein bisschen anti-sommerlich, stimmt aber immer: "Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns", schrieb Franz Kafka. Am 3. Juni vor 100 Jahren ist er gestorben, und dass wir seine Romane und Erzählungen lesen können, verdanken wir seinem Freund Max Brod, der sie nicht verbrannte, wie von dem ewig Unzufriedenen eigentlich verfügt. Wem "Der Process" und "Das Schloss" zu bedrückend sind, liest vielleicht "Der Verschollene" um den jungen Karl Roßmann, der sich in Amerika durchschlägt. Laut Max Brod sollte der – wie die beiden anderen nicht fertiggestellten Romane – ein Happyend bekommen, was man dem Fragment anmerkt, das sich unbeschwerter liest als andere Kafka-Texte. Schöne Reiselektüre!
Verschiedene Ausgaben
Sehen: "May December" von Todd Haynes
Hoher Besuch im Hause Atherton-Yoo. Das Ehepaar Gracie (Julianne Moore) und Joe (Charles Melton) empfängt die Schauspielerin Elizabeth (Natalie Portman), die sich auf eine schwierige Filmrolle vorbereitet. Elizabeth will Gracies jüngeres Selbst verkörpern, jene Frau, die vor 23 Jahren einen Skandal entfachte: wegen ihrer Beziehung zu dem erst 13-jährigen Joe, von dem sie im Gefängnis ein Kind bekam. Todd Haynes' "May December" greift auf eine wahre Geschichte zurück, die in den späten 1990ern Wellen schlug, und versetzt sie von der West- an die Ostküste, ins schwülheiße Savannah. Dort inszeniert Haynes das Psychoduell zwischen Gracie und der naiven und karriereversessenen Schauspielerin Elizabeth. Die Aktrice sucht nach der letzten Wahrheit im Fall Gracie Atherton, während Gracie ihr Selbstbild als treusorgende Hausfrau und Mutter zu halten versucht. Das Idyll zeigt natürlich bald Risse. Die Kinder sind fast aus dem Haus (und heilfroh darüber), Joe wirkt schwer depressiv. Als überfordert-jugendlicher Familienvater ist Charles Melton eine Entdeckung – in diesem fesselnden Vexierspiel um falsche und echte Gefühle.
Zurzeit im Kino und dann bei Netflix
Sebastian Frenzel, stellvertretender Chefredakteur
Hören: Erlend Oye & La Comitiva
Der Musiker Erlend Oye war seiner Zeit immer schon ein bisschen voraus. Als im Berlin der Nullerjahre alle in Techno-Afterhours versanken, wusste er schon, dass quiet das neue loud ist. Als Berlin dann noch ein bisschen tiefer versank, zog er vor 12 Jahren nach Syrakus auf Sizilien und löste eine kleine Abwanderungswelle gen Süden aus. In seiner neuen Heimat singt er mit seiner zarten Stimme mal Cover italienischer Sängergrößen ein oder jammt mit ortsansässigen Musikern. Jetzt ist daraus ein Album entstanden: La Comitiva klingt nach einem sorglosen Tag mit guten Freunden, nach Sonnenschein und Meersalz, Buffala, frischen Tomaten, Oliven, Cannoli und einem Glas Wein in einem verwilderten Garten vor barocken Ruinen - und was einem noch an "Bella Italia"-Klischees einfällt. Das perfekte Sommeralbum.
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Lesen: Percival Everett "James"
Mit "James" erfindet Percival Everett einen Klassiker der amerikanischen Literatur neu – und erzählt Mark Twains "Huckleberry Finn" statt aus Hucks Sicht aus der Perspektive des Sklaven Jim. Everetts Buch ist als Auseinandersetzung mit den strukturellen Rassismus der USA gefiert worden, als philosophische Auseinandersetzung mit Fragen der Identität und Freiheit. Aber sein eigentlicher Geniestreich besteht darin, dass "James" dabei immer noch jene Abenteuergeschichte ist, die man als Kind so geliebt hat: Ein Ausreißerbuch mit Floßfahrten und Verstecken auf Inseln; ein Buch über die Dummheit und Gewalt der Erwachsenen – der man nur mit Freundschaft entkommt.
Hanser Verlag, 336 Seiten, 26 Euro
Sehen: "Die Zweiflers"
Symcha Zweifler, Oberhaupt einer jüdischen Familie in Frankfurt am Main, will das Delikatessenimperium der Familie veräußern, was bei seinen Kindern und vor allem Enkeln zu allerlei Problemen führt: Vor dieser Grundidee erzählt die Serie "Die Zweiflers" vom jüdischen Leben dreier Generationen, von der Schönheit der jüdischen Kultur und der Last mancher Traditionen, vom Trauma des Holocaust, dem auch die Jungen nicht entkommen können. "Die Zweiflers" ist eine liebevolle Familiengeschichte und ein cooler Krimi, tottraurig und superwitzig und von einer beiläufigen psychologischen Tiefe, wie ich es bislang nur von den "Sopranos" kannte.
ARD-Mediathek
Hören: Podcast "The Art World – What if…?!"
Was ist zu tun, damit Kunst weiter relevant bleibt? Der Podcast "The Art World – What if…?!" lädt Gesprächspartner aus der Kunstwelt ein, um der Frage nachzugehen, ein paar vermeintliche Gewissheiten in Frage zu stellen und ein paar neue Szenarien zu entwerfen. Einer Zustandsdiagnose folgt, und das ist das Schöne, eine große neue Idee. "Was wäre, wenn wir Erfolg nicht länger über finanziellen Wert definieren würden?", fragt zum Beispiel die Kuratorin Cecilia Alemani, Biennale-Direktorin 2022. Die Hosts sind die Journalistin Charlotte Burns und der Kunstberater Allan Schwartzman, die Gäste breit gefächert: Kunstmarkt-Insider Schwartzman und Interview-Profi Burns sprechen mit führenden Kuratorinnen und Kuratoren, mit der Leitung von gigantischen Stiftungen, von denen man noch nie gehört hat, aber auch mit der allerersten Reihe herausragender Galeristen wie der gerade verstorbenen Barbara Gladstone und Künstlerinnen und Künstlern wie Paul Chan, Alvaro Barrington und La Toya Ruby Frazer. Spekulativ und anregend!
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Lesen: Calla Henkel "Ein letztes Geschenk"
Calla Henkels zweiter Roman ist ein bisschen Krimi und ein bisschen Gesellschaftsstudie mit Sinn fürs Komische: Die Künstlerin Esther Ray wurde von ihrer Partnerin verlassen und nimmt den Job an, für eine Multimillionärin ein Familienalbum zusammen zu stellen. Unter strengster Geheimhaltung, sie darf nur über ein mitgeliefertes Mobiltelefon kommunizieren. Während sie beim Durcharbeiten der Materialien immer tiefer in ein Leben mit viel zu viel Geld eintaucht, entdeckt sie einige Ungereimtheiten. Der Plot ist gut, witziger noch sind aber Henkels treffsichere Formulierungen aus der Welt der Superreichen, in der die Kunst eine zwiespältige Rolle einnimmt. "Trumps Tochter posierte gekünstelt vor einem von Memphis' älteren Gemälden, was diese – betrunken und emotional erschöpft nach der Ausstellungseröffnung – als Demütigung aufgefasst hatte. Aber so war nun mal das Spiel. Sobald ein Kunstwerk vom Kapital davongespült worden war, hatte man keinen Einfluss mehr darauf, wo es landete. Bei Tränengas-Produzenten, Bauunternehmern, die erschwinglichen Wohnraum plattwalzten, den verwöhnten Urenkeln von Nazi-Kollaborateuren, Rassisten. Oder allen gleichzeitig."
Kein & Aber, 25 Euro, ab 12. Juli
Sehen: "Becoming Karl Lagerfeld"
Die Mini-Serie über die schwierigen Anfangsjahre des Modedesigners in Paris ist großartige Unterhaltung, weil sie die unwahrscheinliche Geschichte des Deutschen, der es in der elitären Luxusmode ganz nach oben schaffen will, nicht plakativ durchdekliniert. Statt den zackigen Weltbürger mit dem deutschen Akzent in seiner gepanzerten Rigorosität auszustellen, spielt Daniel Brühl weich wie nie einen fast schon tragischen Romantiker, der sich hinter äußerster Disziplin und Formvollendung verbirgt, und der auch immer wieder scheitert. In großartigen Kostümen und Set-Designs deutet die Serie in vielen Details ein interessantes Beziehungsgeflecht an, in dem unter jeder Intrige ein verletztes Herz schlägt.
Auf Disney+
Oliver Koerner von Gustorf, Kolumnist
Hören: Beth Gibbons und Jessica Pratt
Als ich meinen Freund Marc Brandenburg fragte, ob er sich schon auf den Herbst freut, wenn er nur noch Beth Gibbons neues Album "Lives Outgrown" hoch und runter hören kann, sagte er: In mir ist immer Herbst. Für genau solche Leute ist diese Platte. Geh zum Beach und mach Beth Gibbons an, am besten den Song "Floating on a Moment", mit dem tollen Chorus: "All going to nowhere (nowhere)". Und fühle dieses Leben, das wie Unkraut oder schlecht gefärbte Haare einfach aus dir herauswächst, im Wind weht und abstirbt. Diese Platte ist warm, komplex und harsch wie deine beste Freundin, bei der immer Herbst ist. Man könnte aber auch, was ich leider nicht mehr tun kann, harte Drogen nehmen, sich an einem heißen Tag, nur in Unterwäsche bekleidet, allein auf einen staubigen Holzboden legen und sich "Here in the Pitch", das hypnotische, unfassbare Album der Kalifornierin Jessica Pratt anhören – wie Julie Driscoll auf Bossa Nova. Es ist immer "Season of the Witch".
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Lesen: Mary Oliver "Thirst"
Ich lese und höre Bücher wie ich scrolle, total prekär. Nie nur ein Buch, sondern fünf oder sechs, von denen dann wieder über die Hälfte liegen bleibt. Ich versuche immer wieder zu Hannah Arendts "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" und Naomi Kleins "Doppelgänger" zurückzufinden und werde immer wieder abgelenkt. Sprache und Wissen bleiben in mir hängen, wie in einem Flusensieb. An einem schmalen Band halte ich allerdings wie an einer Boje fest: "Thirst" von Mary Oliver. Die US-amerikanische Poetin und Pulitzerpreisträgerin, die 2019 starb, ist in den USA ein Star. Aber sie wird von vielen Kritikern als etwas schlichte Self-Help-Dichterin verachtet, die ihre Follower auf Instagram und Pinterest findet. Oliver verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens auf Cape Cod, an der Ostküste. In ihren Gedichten geht es um Leben, Tod, Natur, spirituelle, sinnliche Erfüllung, vor allem aber um Einfachheit. Es gibt keine Windräder, Hochspannungsmasten, keinen Plastikmüll. Nur Seevögel und ihren Hund Percy – und Gott. Das kann man hassen. Für mich ist Oliver, die als Schulkind mit den Büchern von Thoreau und Whitman vor dem sexuellen Missbrauch durch ihren Vater in den Wald floh und dort begann zu schreiben, eine queere Visionärin. Ihr Band "Thirst" enstand 2006 nach dem Tod ihrer langjährigen Partnerin, der Fotografin Molly Malone Cook. In deren Buchladen in Provincetown arbeitete in den Sixties John Waters, mit dem auch Oliver über Jahrzehnte befreundet war. "Thirst" ist Trauerarbeit, der Durst, um den es hier geht, ist der absolute Durst nach Gott. Der aber ist in den Bäumen, Dünen, Wäldern. Ein Gott des Überflusses, des Gemetzels. Und er schickt Boten, Wildblumen, Libellen, Mäuse – und Füchse, die den Tod ankündigen. "Someone I loved once gave me / a box full of darkness / It took me years to understand / that this, too, was a gift." Für solche Sätze liebe ich Mother Mary. Und als John Waters auf einer Gedenkfeier erzählte, dass sie geflucht und getrunken hat, ihr in Gedichten vielbesungener Hund eine bissige Töle war, die auf den Teppich schiss, liebte ich sie noch mehr.
Beacon Press, 88 Seiten, 18,99 Euro
Sehen: "Severance", Staffeln 1 &2
Wahrscheinlich ist der Sommer schon vorbei, wenn endlich die zweite Staffel von "Severance" auf Apple TV+ rauskommt, aber ich gucke mir die erste Staffel als Vorbereitung noch einmal an. In dem tragikomischen Thriller gehen Menschen in den unterirdischen, surrealen Labyrinthen der Biotech-Firma Lumon Industries völlig entfremdeter, sinnloser Arbeit nach. Dabei werden sie wie Meerschweinchen überwacht, mit Wellness-Sessions gefoltert, mit "Dance Experiences", Waffeln, Sex, Rollenspielen belohnt. Sie werden psychisch so gebrochen, dass manche von ihnen versuchen, sich umzubringen. Doch daran können sie sich aber nach Dienstschluss nicht mehr erinnern. Durch einen chirurgischen Eingriff ins Gehirn, das titelgebende Severance-Programm, werden die Erinnerungen an die Arbeit von den Erinnerungen an das Privatleben draußen getrennt. Im Job sind sie "Innies", in der Welt draußen "Outis". Dabei ist dies nur die Vorstufe zu einem großangelegten Corporate-Projekt, dass bis auf die ein Prozent alle zu Innies in einem totalitären Kapitalismus machen wird. Lustig, dass diese Warnung von Apple kommt. Für mich ist "Severance" (auch wegen der wunderbar zarten Liebesgeschichte zwischen John Turturro und Christopher Walken) eine der besten Reality-Shows aller Zeiten.
Apple TV+
Hören: Flavien Berger "Contrebande 02. Le Disque De L’Ete"
"Hey, was los? Warum siehst du auf einmal so cool aus, heh?", "Weil es Sommer ist." Die bestechende Logik dieses Dialogs, der auf dem neuen Album des Franzosen Flavien Berger einen langen "Summer Time Jam" einleitet, zieht sich durch die ganze Platte: Es ist Sommer, mehr Begründung braucht es nicht für gute Laune. Ein-Mann-Band Berger versteht sich auf träumerische Elektro-Pop-Melodien, endlos versponnene Umwege, Wortspiele, Ambientsounds und melancholische Witze. Zu dieser Musik lässt sich gut am Pool rumhängen und Cioran lesen.
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Lesen: Eric Pfeil "Ciao, Amore, Ciao"
Lesen, hören, schauen: Dieses gerade erschienen Buch passt in alle drei Kategorien. Der Kölner Autor und Musiker erzählt anhand von 100 Liedern die jüngere italienische Musikgeschichte, von den ersten Sommerhits einer nach Verdrängung lechzenden Gesellschaft nach dem Krieg über Italo-Disco und die rebellierenden "Cantautori"-Poeten bis zum Trap der Gegenwart. Mit Enthusiasmus, Anekdoten und niemals langweilenden Detailwissen packt Eric Pfeil auch gleich noch Landeskunde und Politik dazu, um den Beweis anzutreten, dass die Beschäftigung mit musica leggera ganz und gar nicht trivial sein muss. Dazu gibt es eine Playlist auf Spotify, und die mit Liebe beschriebenen Musikvideos und Auftritte beim Sanremo-Musikfestival will man sich natürlich auch sofort auf YouTube anschauen. "Ciao, Amore, Ciao" ist nach dem Bestseller "Azzurro" bereits Pfeils zweites Buch in diesem 100-Songs-100-Stories-Format. Warum es nur zwei Jahre später diese Fortsetzung (oder Ergänzung?) überhaupt braucht, erwähnt er seltsamerweise gar nicht im Vorwort, aber stimmt, Urlaub macht man ja auch jedes Jahr – und immer in Italien.
KiWi, 368 Seiten, 14 Euro
Sehen: "Challengers"
Sherlock Holmes vs. Professor Moriarty, Batman vs. Joker, Blur vs. Oasis: Ich liebe Erzählungen, in denen es um männliche Rivalität geht. Bislang waren Christopher Priests "Prestige" und Christopher Nolans Verfilmung dieses Romans über zwei konkurrierende Zauberkünstler das Größte, was mich eine solche toxische Figurenanlage gelehrt hat, zwei Jahre später getoppt von Nolans nihilistischem "Dark Knight". Doch jetzt haben Patrick Zweig und Art Donaldson in Luca Guadagninos Film "Challengers" den Platz betreten, zwei Freunde und Tennispartner, die über ihre Anbetung zur Tennisspielerin und späteren Trainerin Tashi (gespielt von Zendaya) zu eben jenen sich herausfordernden Gegenspielern werden. Zuerst sieht es so aus, als gehe es Guadagnino vor allem um die Homoerotik zwischen den beiden Sportlern, die sie sich nur über die Projektion auf Tashi gestatten, eine Art "Call me by your Name" in Tennis-Shorts. Aber dann wird schnell klar, dass Tashi hier eigentlich die Hauptfigur ist und nicht nur eine anbetungswürdige Muse. Sie begreift und fördert Rivalität als etwas, aus dem durch wundersame Ermergenz etwas Schönes und Erhabenes entsteht, nämlich großes Tennis. Wie der Sport hier filmisch inszeniert wird, wie die Kamera und Handlung umherspringt wie ein Ball, wie die pumpende Musik von Trent Razor und Atticus Ross nicht nur den Schlagabtausch auf dem Feld unterlegt, sondern auch den der Dialoge, ist wiederum großes Kino.
Läuft aktuell im Kino
Lesen: Knut Hamsun "Hunger"
Sommer, die Zeit lauwarmer Nächte und leckerem Essen mit Freunden. Dass es leider auch anders geht, zeigt Knut Hamsuns Roman "Hunger" aus dem Jahr 1890, in dem ein freischreibender Feuilletonist versucht zu überleben. Fasziniert und doch zutiefst erschüttert verfolgt man den trostlosen Abstürzen, den manchmal umwerfend komischen, manchmal grotesk sich selbst überschätzenden Geschichten des Ich-Erzählers. Ein Zerrbild einer fremden Welt, die sich für den identitätssuchenden Protagonisten als Labyrinth erweist. Auch heute noch ein Must-Read der Fin-de-Siècle-Literatur.
Reclam Philipp Jun., 211 Seiten, 12 Euro
Hören: Lana Del Rey "Honeymoon"
Es gibt nichts Schöneres als eine Sommerromanze. Wein trinken am Seeufer, luftige Kleider beim Date und endlose Draußen-Nächte. Den perfekten Soundtrack dafür liefert Lana Del Reys "Honeymoon". Tracks wie "High by the beach" oder "Salvatore" vermitteln einem das Gefühl von romantischer Leichtigkeit und Unbeschwertheit, das jede und jeder von uns gut gebrauchen kann – vor allem im Sommer.
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Sehen: Handy aus, Augen auf
Diesen Sommer wünsche ich mir, versteckte Strände und unterirdische Buchten zu finden und fernab der Großstadt-Hektik meine Umgebung bewusst zu beobachten. Denn während eines ganzen Tages am Strand gibt es vieles zu sehen: Die Familie, die mit ihrem süßen Nachwuchs auch noch Leute fünf Liegen weiter unterhält; die Muscheln, die mit ihrer perlmuttfarbenen Schale die unendlichen Weiten des Ozeans symbolisieren und natürlich der Sonnenuntergang, wenn das warme Rot das kalte Meeresblau küsst.
Lisa-Marie Berndt, Social-Media-Redakteurin
Hören: Angie McMahon "Salt", 2019
Die australische Sängerin Angie McMahon sinniert in ihren Songs über das Leben, die Liebe, Einsamkeit und Essen zum Mitnehmen. Eines ihrer ersten großen Konzerte spielte sie mit 19 Jahren als Opening Act für Bon Jovi, dann wurde es erstmal wieder ruhig um die Künstlerin. 2019 kam das Debütalbum "Salt", das mal nach romantischer Herzschmerzverarbeitung, mal nach einer Mischung aus Folk, Rock und Blues klingt – immer aber zeitlos und erfrischend ehrlich. In ihrem Song "Pasta" heißt es beispielsweise: "I spend so much time eating Pasta, although I'm probably allergic and other people seem to move so much faster." Im dazugehörigen Musikvideo liegt sie lethargisch auf der Couch herum, trinkt Kaffee, starrt aus dem Fenster. Kennen wir wahrscheinlich alle, diese Tage. Aber im Sommer ja zum Glück egal. Da zelebrieren wir das einfach als italienisches Lebensgefühl.
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Lesen: Bonnie Bremser "Troia: Mexican Memoirs"
Die US-amerikanische Schriftstellerin Brenda Frazer bricht in "Troia: Mexican Memoirs" mit dem Roadtrip-Idyll von Kerouac und Co.: Die unter dem Pseudonym Bonnie Bremser veröffentlichte Autobiografie handelt von ihrer Beziehung zu dem Beat-Dichter Ray Bremser, den sie kurz nach ihrem Kennenlernen bei einer Lesung in Washington, D.C., heiratet. Gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter Rachel fliehen sie nach Mexiko, um Rays Haftstrafe für einen Raubüberfall zu entgehen. Hier schreibt er Gedichte, während Bonnie sich abmüht, Geld für Reisen, ihre Familie (und deren Drogenkonsum) zusammenzukratzen. Sie prostituiert sich, verliert ihre Tochter – und bald auch sich selbst. "Troia: Mexican Memoirs" liest sich wie ein Bewusstseinsstrom im besten Sinne der Beat Generation und wie ein verzweifelter Kampf gegen ihre misogynen Protagonisten, den man nicht gewinnen kann.
Dalkey Archive Press, gebraucht auf Amazon ab 10 Euro
Sehen: François Ozon "Sommer 85"
Sommer, Sonne, 80er: In einem kleinen Badeort in der Normandie trifft der 16-jährige Alexis bei einem Unfall mit seinem Segelboot auf den etwas älteren David. David rettet ihn, Alexis verliebt sich – und die tragische Sommerromanze nimmt ihren Lauf. François Ozon hat sich für sein 2020 in den französischen Kinos erschienenes Coming-of-Age-Drama den Roman "Tanz auf meinem Grab" des britischen Schriftstellers Aidan Chambers zum Vorbild genommen, ihn aber vom englischen Southend an einen kleinen nordfranzösischen Küstenort verlegt. Für einen Sommerflirt weitaus passender, mit der Tiefe von Chambers' Roman kann der Film leider nicht mithalten. Egal, allein der fabelhafte Soundtrack und die Super-16mm-Filmaufnahmen, die einen direkt in die 80er-Jahre zurück katapultieren, lohnen sich.
Arte Mediathek, ab 26. Juni
Lesen: Dana Vowinckel "Gewässer im Ziplock"
Man hört schnell auf, über den rätselhaften Titel dieses Buches nachzudenken, weil einen diese Coming-Of-Age-Story eines Mädchens auf der Suche nach ihrer jüdischen Identität schnell in ihren Bann zieht. Die 15-jährige Margerita lebt mit ihrem Vater, Kantor in einer Synagoge, in Berlin und wird von den amerikanischen Großeltern nach Jerusalem geschickt, wo sie die Mutter wiedertreffen wird, die die Familie vor vielen Jahren verlassen hat. Während man gespannt Margeritas mal wütendem, mal tastenden Navigieren durch die Untiefen ihrer Familiengeschichte folgt, taucht man gleichzeitig in ganz verschiedene Versionen jüdischen Lebens in Israel, Deutschland und den USA ein.
Suhrkamp Verlag, 304 Seiten, 23 Euro
Hören: Nichtseattle "Haus"
"Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk", sangen Tocotronic 1995. Da war Katharina Kollmann aus Berlin-Karlshorst zehn Jahre alt. Heute ist sie als "Nichtseattle" als Singer-Songwriterin unterwegs, und ihr neues Album "Haus", das gerade beim Label Staatsakt erschienen ist, ist eine heiße Empfehlung. Kollmanns Texte sind eigenwillig, berührend, rau, emotional, und wenn man nicht aufpasst, treibt sie einem mit der trotzigen Schönheit ihres Gesangs die Tränen in die Augen. Die Tocotronic-Referenz passt, und sie passt nicht, denn Nichtseattle steht zwar fest in der Gitarren-Indie-Tradition, andererseits quer zum Dandytum eines Dirk von Lotzow. Sie singt über die Liebe zu den verstockten Ostberliner Müttern und das Hadern mit dem Frausein, über die brutale Gentrifizierung Berlins und die Heimat, die sie trotzdem dort noch findet, über Freundschaft, Trauer, Sehnsucht. Leichte Strandmukke ist das nicht, aber zuhören lohnt sich.
Auf allen gängigen Plattformen
Sehen: "Ted Lasso"
Irgendwann wird die EM vorbei sein, Bundesliga und Champion’s League machen Sommerpause – wo soll dann der Fußball-Content herkommen? Ich frage für einen zwölfjährigen Mitbewohner. Die Antwort funktioniert für uns beide: Die preisgekrönte Apple-TV-Serie "Ted Lasso" über den unbedarften Football Coach aus Amerika, der wegen irgendeiner verqueren Racheidee der Besitzerin Trainer einer mittelmäßigen britischen Premier-League-Fußballmannschaft wird, ist wirklich lustig. Drei Staffeln gibt es, und dann startet ja auch schon wieder der Spielbetrieb.
Auf Apple TV+
Amina Zerourou, Grafik-Praktikantin
Hören: Parcels
Eine Mischung aus Elektro-Pop, Disco-Soul und modernen Klängen zaubert einem die australische Band Parcels auf die Ohren. Die fünf mittlerweile in Berlin ansässigen Jungs singen über die Liebe, das Leben, die Einsamkeit und verbinden dabei sehr elegant melancholische Zeilen mit treibenden Beats. Klingt nach einer wilden Mischung? Ist es auch, funktioniert jedoch erstaunlich gut. Mit ihrer Single "Overnight", die sie 2017 mit dem Musiklabel Daft Punk produzierten, nimmt ihre Karriere so richtig Fahrt auf. Seitdem ein must hear für den Sommer!
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Lesen: Benedict Wells "Vom Ende der Einsamkeit"
Der vierte und wohl bekannteste Roman des deutsch-schweizerischen Autors Benedict Wells ist für mich ein melancholischer Klassiker, in dem man sich an warmen Sommertagen verlieren kann. Ein schreckliches Ereignis in der Kindheit verändert das Leben dreier Geschwister. Als Erwachsene werden sie unerwartet von ihrer Vergangenheit eingeholt. Ein wunderbar berührender Roman, den ich regelrecht verschlungen habe.
Diogenes Verlag, 253 Seiten, 14 Euro
Sehen: "Die Zweiflers"
Delikatessen, Traditionen, Jüdischsein: In der sechsteiligen Mini-Dramaserie geht es um die leidenschaftliche Liebesgeschichte von Samuel und Sabba - aber auch um Familie die oft unglaublich kompliziert sein kann, um Vergangenheit, um Essen, um Vertrauen und Religion. Regt zum Nachdenken an, ist erfrischend und komisch zugleich.
ARD Mediathek
Saskia Trebing, Online-Redakteurin
Hören: Maustetytöt
Wenn man den Bandnamen Spice Girls auf Finnisch übersetzt - und warum auch nicht? -, landet man beim schönen Wort "maustetytöt". So nennen sich auch die beiden Schwestern Anna und Kaisa Karjalainen, ihre Musik ist aber alles andere als "Zig-a-zig-ah"-Empowerment-Hymne. Maustetytöt, die auch einen Gastauftritt im aktuellen Aki-Kaurismäki-Film "Fallende Blätter" haben, kombinieren vielmehr eine melancholisch-lakonische Aura mit Indie-Pop-Riffs, unwiderstehlichem Harmoniegesang und nordischem Understatement. Songs wie "Maailman onnellisin kansa" (Das glücklichste Volk der Welt), "Viidestoista päivä" (Der 15. Tag) oder "Ei niin kovin suuri city" (Eine nicht ganz so große Stadt) sind Sommerhymnen für die, die bei Strandpartys in langen Hosen am Rand sitzen und tiefgründige Unterhaltungen führen, weil sie wissen, dass der nächste Winter schon auf dem Weg ist.
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Lesen: Camille Laurens "Es ist ein Mädchen"
Für den Vater der Erzählerin Laurence ist der Satz der Hebamme eine Niederlage: Es ist ein Mädchen. Nur ein Mädchen. In diesem intensiven, teils fast unerträglichen Buch beschreibt Camille Laurens, was es bedeutete, in den 1960er-Jahren als Tochter in eine patriarchal geprägte französische Familie geboren zu werden und sich Liebe, Freiheit und ein eigenes Leben zu erstreiten, aber auch Gewalt zu erfahren und mit Verlust umgehen zu müssen. Die Autorin erzählt die generationenübergreifende Geschichte in scharfen, präzisen Sätzen, die man so schnell nicht mehr vergisst.
Dtv, 256 Seiten, 22 Euro
Schauen: "Liebe, D-Mark und Tod - Aşk, Mark ve Ölüm"
Gerade nehmen sich Ausstellungshäuser wie das Frankfurter MMK oder das HKW in Berlin - endlich - der Kultur der sogenannten Gastarbeiter an, die Deutschland seit 1960er-Jahren in Ost und West geprägt haben. Die beste Vor- oder Nachbereitung zum Kunstprogramm ist Cem Kayas Dokumentarfilm "Liebe, D-Mark und Tod", der lustig, traurig und fesselnd von der Entwicklung der türkischen Musik in Deutschland erzählt. Von der Mehrheitsgesellschaft wenig beachtet entstand in der BRD eine ganz eigene Subkultur, in der sich die türkische Community ein Stück Heimat schuf, aber auch Themen wie Rassismus und Armut thematisierte. Einen fantastischen Soundtrack von Volkslied bis Hip Hop liefert der Film gleich mit - und bietet damit auch weitere Inspiration zum Hören.
Zum Streamen auf verschiedenen Plattformen
Hören: Podcast "Serial Season 4: Guantánamo"
Die Welt ist bekanntlich umfassend am Arsch und die Stimmung bestenfalls mittel, davon können auch die Ferien nur bedingt ablenken. Aber wenn schon schlechte Laune, dann wenigstens aus exzellenter Quelle. In der vierten Staffel des US-amerikanischen Podcasts "Serial" erzählen die Reporterinnen Sarah Koenig and Dana Chivvis in Interviews mit ehemaligen Insassen, Wärterinnen und Übersetzern die wirklich haarsträubende Geschichte des Gefangenenlagers Guantánamo Bay. Dort sitzen 23 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September immer noch 31 mutmaßliche Terroristen ohne Gerichtsprozess fest.
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Lesen: Joy Williams –"Taking Care"
Ich kann mir selbst kaum erklären, warum ich Joy Williams bis vor Kurzem nicht kannte. An einem Mangel an prominenten Fans (Truman Capote, Raymond Carver, Jonathan Franzen) kann es nicht gelegen haben, dass die 1944 geborene US-Amerikanerin in Deutschland lange nahezu unbekannt (und unübersetzt) war. Der Band "Taking Care" von 1982 versammelt elf angenehm altmodische, weirde, rührende und stellenweise sehr lustige Kurzgeschichten. Ihr Personal besteht aus frühreifen, tendenziell vernachlässigten Kindern und mehrfach geschiedenen und neu verheirateten Erwachsenen, die aus heutiger Sicht erstaunliche Mengen an Alkohol konsumieren und oft irrationale Dinge tun. Allein diese zwei Sätze: "He had eaten three peas separately in the course of an hour. He had told her fortune in a glass of water and then taken a bite out of the glass." Ich lese so gut wie kein Buch ein zweites Mal, dieses hier ist eine Ausnahme.
Vintage Contemporaries, 256 Seiten, 15,90 Euro
Schauen: "Girls", alle Staffeln
Im vergangenen Jahr schrieb ich an dieser Stelle, dass ich mich auf die Fortsetzung der Gastro-Serie "The Bear" freue. Daran hat sich nichts geändert, die dritte Staffel kommt Ende Juni heraus. Ansonsten spiele ich seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, alle 62 Folgen von Lena Dunhams "Girls" noch einmal zu schauen. Ich vermute, dass seit der Erstausstrahlung zwischen 2012 und 2017 vieles – etwa der offensichtliche Mangel an Diversität unter den Protagonistinnen und das Kostümbild – eher ungut gealtert ist, vieles andere aber einem erneuten Schauen mehr als standhält.