Ausstellungs-Tipps

Highlights des Berliner Gallery Weekend, die weiterhin zu sehen sind

Galaxien aus Muttermilch, polemische Skulpturen und das Wolfgang-Tillmans-Gefühl: Das sind unsere Ausstellungs-Empfehlungen zum Berliner Gallery Weekend


Jonas Roßmeißl bei Klemms

Wer in die neuen Räume der Galerie Klemms gelangen will, muss ein bisschen suchen: Um den Plattenbau an der Leipziger Straße herum (im Fenster an der Schauseite, wo man eine Galerie eher erwarten würde, hängen reduzierte Braut- und Abendkleider), am Hauseingang klingeln und dann zwei Treppen nach oben. Die Räume, die dann doch einen Panorama-Blick aufs südliche Mitte bieten, sind noch nicht fertig renoviert. Der Künstler Jonas Roßmeißl fand die rohe Umgebung aber passend für seine Ausstellung. Auch in seiner Kunst bearbeitet er gesellschaftliche Baustellen und das, was er die "polemische Skulptur" nennt. In ersten Raum läuft ein Video mit bunten animierten Strichmännchen, das auf den ersten Blick spielerisch und poppig aussieht. Erst nach einer Weile wird klar, dass sich diese skizzierten Charaktere gewaltvolle Dinge antun und so etwas wie die Minimal-Version eines brutalen Computerspiels sind. 

Im Nebenraum wird es dann noch existenzieller. In einem sargähnlichen, glänzenden Kupfergefäß liegt ein Gefäß, in dem sich laut Aussage des Künstlers eine befruchtete Eizelle, ein sogenannter "verworfener Embryo" befindet. Potenzielles Leben, das aber nur in der Vorstellung lebendig werden kann und architektonisch auf ewig verschlossen ist. Anlass zum Streiten, und das in formal vollendeter Ausführung, liefert der Künstler damit allemal. 

Jonas Roßmeißl "Streitbildhauerei", Klemm's, bis 8. Juni


Rachel Harrison bei Konrad Fischer 

Das mit dem präzisen 3D-Druck ist irgendwie schiefgegangen. Statt eines perfekt geformten Gegenstands liegt auf der Produktionsfläche ein bunter Klumpen, der an die Knet-Skulptur eines leicht aggressiven Kindergartenkindes erinnert. Am Sockel, auf dem das grobschlächtige Werk thront, baumelt außerdem eine Küchenschere. Beherztes Handwerk schlägt neueste Technologien. 

Rachel Harrison, geboren 1966 in New York, ist eine Bildhauerin mit Humor und Lust an verspielten Formen. Bei der Galerie Konrad Fischer sind neben dem überwältigten 3-D-Drucker auch noch ein alienartiges Felsenwesen mit Golfschläger und VR-Brille und ein Meteorit aus neongrellem Plastikschaum und Zement zu sehen. Man weiß nicht, was da genau auf der Erde gelandet ist, aber es nimmt sich viel Raum und es macht viel Spaß. 

"Rachel Harrison: Bird Watching", Konrad Fischer, Berlin, bis 27. Juli


Trisha Baga und Helen Chadwick bei Société

Trisha Baga kennt keine Grenzen, auch wenn die multimedial arbeitende Künstlerin hier eine klassische Malerei-Ausstellung vorlegt. Das Universum, die Computertastatur, Kabelanschlüsse, Farbpaletten und schwarze Löcher überlagern sich und greifen in ihren hauptsächlich großformatigen Gemälden ineinander. Das war schon immer so, Entropie und Abgrund, aber auch Privates, Technik und das Kunstmachen selbst spielen immer wieder eine Rolle in ihren Werken. Aber auch eine neue Thematik ist aufgetaucht: "The Milky Way" zeigt eine Galaxie von der Sorte, wie sie mit technischen Hilfsmitteln zum Absaugen von Muttermilch erzeugt wird. Die beidseitige Pumpvorrichtung schwebt im All wie eine Raumstation, dazwischen erscheint die Anzeige eines digitalen Weckers mit der unerbittlichen Uhrzeit 02:33. Ein kleineres Gemälde zeigt einfach nur den Hinterkopf eines Kindes. In der Mitte ein Wirbel, um den sich ein Strudel aus Haaren legt, nicht unähnlich einer kosmischen Spirale. Das sagt eigentlich schon alles über Bagas Referenzrahmen, von feiner Intimität bis zu den Rändern des Universums.

Mit Gedanken über die weibliche Milchstraße geht man die Treppe zum ersten Geschoss hinauf, und findet bei Helen Chadwick sofort Anschluss. Die Britin starb schon 1996 und war eine der ersten für den Turner Prize nominierten Frauen. Ihre Fotoarbeiten "In the Kitchen" von 1977 zeigen, wie sie sich in Haushaltsgeräte wie Kühlschrank oder Waschmaschine einbaut, in ihrem Video "Domestic Sanitation" von 1976 sieht man die geistige Verwandtschaft und Zeitgenossenschaft mit Valie Export sowie die Bedeutung, die sie für die YBA gehabt haben muss ­­– Sarah Lucas oder Tracey Emin werden sie geschätzt haben. Bei Société ist sie nun erstmals zu entdecken. 

Trisha Baga "Contact" und Helen Chadwick, Société, Berlin, bis 6. Juli


"Territory" bei Sprüth Magers

Zum Gallery Weekend einfach eine Gruppenausstellung mit fünf jungen Künstlerinnen aus Asien zu zeigen, statt eines Stars aus dem Programm, das muss man sich leisten können. Shi-ne Oh, die Direktorin der Galerie Sprüth Magers für den asiatischen Raum, hat aus "Territory" eine Schau gemacht, die alle Etagen bespielt und jedes Museum schmücken würde. Unter anderem wurden dafür mal eben zwei Räume in den großen Hauptraum eingebaut, sodass man sich einer völlig anderen Galerie wähnen könnte. 

Es geht um Erinnerungen, Transformationen, Technologie, Migration, und die Ergebnisse sind originell. Gala Porras-Kim beispielsweise zeigt wachsende Bakterien aus dem Depot des British Museum als Wandgemälde und eine sich selbst dekonstruierende Betonwand. Tan Jing führt in eine Installations- und Video-Wunderkammer voller Erinnerungen (und auch Gerüche) an das Thailand, das ihr Großvater verlassen musste. Und im Obergeschoss lässt Mire Lee, die hierzulande bekannteste Künstlerin der Ausstellung, zwischen geisterhaften Skulpturen die Betonmischmaschinen rattern. 

"Territory", Galerie Sprüth Magers, bis 29. Juni


Jochen Lempert bei BQ

Vielleicht muss man einen wissenschaftlichen Hintergrund haben, um Natur so unschuldig und rein und zugleich völlig kitschfrei zeigen zu können wie Jochen Lempert. Der ausgebildete Biologe, der seine Fotografenlaufbahn erst mit Anfang 30 begann, verkündet in seiner Ausstellung bei BQ die "Ankunft der Mauersegler", also jenes Vogels, der als Vorbote des Frühlings gilt und nach neunmonatiger Reise jetzt auch wieder in Berlin eintrifft. 

Lemperts kleinformatige, direkt auf die Wand angebrachten Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen eine aufsprießende Natur: Den kleinen Mauersegler, der unbeeindruckt durch Wolken schießt; Pflanzen, die sich mit herkulischer Kraft aus dem Boden erheben, feinste Spinnfäden, die Perfektion einer Bienenwabe, eine Meeresoberfläche, die mit dem körnigen Fotopapier verschmilzt: als zeichnete die Natur sich in Selbstporträts. 

Jochen Lempert "Die Ankunft der Mauersegler", BQ, Berlin, bis 29. Juni


Renata Lucas bei Neugerriemschneider

Bei Neugerriemschneider kann man spielen, aber gewinnen kann man nicht. Renata Lucas hat einen Billardtisch in der Mitte des Ausstellungsraums platziert und so präpariert, dass die eingelochten Kugeln nicht im Inneren des Tisches landen, sondern auf den Galerienboden herausklackern, dann in die Wände und schließlich hinaus in den Innenhof. Von dort kugeln sie auf mysteriöse Weise weiter bis in die KW und den Neuen Berliner Kunstverein. Das halbe Scheunenviertel wird so zur surrealen Spielwiese, nach unbekannten Regeln und ohne Kontrolle, und so soll es ja schließlich sein in der Kunst.  

Renata Lucas "O Perde", Neugerriemschneider, bis 8. Juni

Renata Lucas "O perde", Installationsansicht Neugerriemschneider, Berlin, 2024
Foto: Courtesy Neugerriemschneider

Renata Lucas "O perde", Installationsansicht Neugerriemschneider, Berlin, 2024


Mircea Cantor bei Plan B

Ein großer Brunnen beherrscht den Hauptraum der Galerie Plan B, sein Titel "Thirst for Stillness" beschreibt ein Paradox: Das menschliche Verlangen nach Stille und Ausgeglichenheit, das durch Fortschrittsstreben und Konflikte immer wieder aus der Balance gebracht wird. So plätschert auch der Brunnen immer weiter; unser Durst nach Stille ist nicht zu stillen. In seiner so poetischen wie konzentrierten Ausstellung erzählt Mircea Cantor von der Suche nach Ruhe in einer sich ständig ändernden Welt. 

Handabdrücke in Stein, in denen Wasser ruht und Pflanzen wachsen, lassen ein harmonisches Miteinander zwischen Individuum und Welt aufscheinen, Zeichnungen eines zerbrochenen Kruges fragen nach Schuld und Schicksal. Meditatives Flötenspiel erfüllt die Säle – es stammt aus einem Video, in dem ein Soldat in einem Wald sitzend auf dem Instrument spielt. Plötzlich beginnt die Flöte zu brennen, kommt mehr Rauch als Musik aus dem Instrument, doch der Soldat spielt immer weiter, als gelte seine einzige Dienstpflicht der Kunst.

Mircea Cantor "Thirst For Stillness", Galeria Plan B, Berlin, bis 1. Juni


Akeem Smith bei Heidi

Den genau gegenteiligen Ansatz des stillen Mircea Cantor verfolgt der Künstler Akeem Smith bei der Galerie Heidi - und man macht sich ein bisschen Gedanken um die psychische Gesundheit der Angestellten, die das Klanggewitter in den nächsten Wochen ertragen müssen. Smith interessiert sich für Lärm als Phänomen, das die Normalität zerreißt und Gewohntes in Frage stellt. Aus Lautsprechern und gefunden Teilen von Gebäuden hat er Soundskulpturen gebaut, die nun im Galerieraum verteilt sind. Zusammen erzeugen sie eine "Wall of Sound", die rhythmisch, aber auch etwas bedrohlich klingt und an Straßenproteste und Ausnahmezustände denken lässt. Manchmal klingt "Soundclash" aber auch nach Paraden und Festen. Danach kommt einem sogar die Potsdamer Straße erstaunlich ruhig vor.

Akeem Smith "Soundclash", Heidi, Berlin, bis 1. Juni


Iman Issa bei Carlier Gebauer

Im Eingang hängt zweimal das gleiche Foto, in unterschiedlicher Größe abgezogen und mit unterschiedlichen Titeln. Zu sehen ist ein arabischer Abreißkalender, die Daten kann man nicht genau erkennen. Das erste Bild trägt den Titel: "See No Evil, Hear No Evil, Germany 2024". Das zweite: "See No Evil, Hear No Evil, Egypt 2013". Und schon läuft die Assoziationsmaschine an. 

Ägypten 2013, das war der Militärputsch, der allen Hoffnungen, die der arabische Frühling entfacht hatte, endgültig ein Ende bereitete. Und Deutschland 2024? Ein Land, in dem arabischstämmige Menschen misstrauisch beäugt werden, Kampf gegen Antisemitismus in antimuslimischen Rassismus umschlägt, meint sie das? Doch explizit wird all das nicht gesagt – es ist alles im Kopf der Betrachterin. 

Auch der Rest der Ausstellung der 1979 in Kairo geborenen Künstlerin funktioniert auf ähnlich subtile Weise. Am eindrücklichsten ist die Serie der "Doubles: Photograph-(Un)Like (M)Any Other(s)". Aus Draht geformte, an Oskar Schlemmers Figurinen erinnernde Skulpturen stehen an der Wand. Sie sind, so die Wandtexte, aus jeweils zwei Fotos generiert. Zum Beispiel: "Wissenschaftler, Gaza Streifen, 2024" und "Wissenschaftler, Ort unbekannt, 1993". Und schon rattert das Gehirn wieder los. In welchem Kontext zeigen uns Pressebilder gerade Wissenschaftler im Gaza-Streifen? Wie unterscheidet sich die Art, wie sie dargestellt werden, von irgendeinem beliebigen Wissenschaftler 20 Jahre vorher? Was zeigen uns Fotografien von der Welt, zu welchem Zweck werden sie gemacht und gezeigt? Und schon ist man mittendrin in einem Diskurs, der potenziell hochpolitisch ist und trotzdem absolut offen. 

Iman Issa "Photograph—(Un)Like (M)Any Other(s)", Carlier Gebauer, Berlin, bis 22. Juni


Haley Mellin bei Dittrich & Schlechtriem

Geht man die Treppe in den Ausstellungsraum von Dittrich & Schlechtriem an der Linienstraße herunter, erwartet einen alles andere als eine Materialschlacht. Im ersten Raum Sessel, Tische, ein Stapel Bücher, Romane und Sachbücher, die meisten über ökologische Themen. Im zweiten einige kleinformative Gemälde und große, skizzenhafte Zeichnungen auf Leinwand. 

Die Malereien habe es allerdings in sich: Mit überwältigender Detailfülle stellt die Künstlerin Haley Mellin den Urwald dar, die Bilder entstehen vor Ort, graben sich tief in die verschlungene Wildnis hinein. Doch noch viel mehr von Mellins Energie geht in ihr Motiv selbst. Die Amerikanerin ist gleichzeitig Künstlerin und ökologische Aktivistin, die von ihr gegründete Organisation "Art into Acres" hat bereits viele Hektar Land gekauft, um Urwälder zu retten und mit ihnen die dort angesiedelten unzähligen Tier- und Pflanzenarten. Ihre Gemälde unterstützen Biodiversität und zeigen Hoffnung im ganz konkreten Sinne. 

"Haley Mellin: Biodiversity and Betadiversity", Dittrich & Schlechtriem, bis 29. Juni


Dan Lie bei Barbara Wien 

Dan Lie, demnächst auch in der Ausstellung zum diesjährigen Preis der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof zu sehen, ist bekannt für aufwendige Installationen, in denen es grünt und wächst, Dinge aufblühen und vergehen und viel organisches Material mitspielt. Wie diese Praxis in eine Galeriausstellung übersetzt werden kann, ist jetzt bei Barbara Wien zu sehen. 

Wunderbar leichte Installationen aus naturgelben Stoffen hängen wie Mobiles von der Decke und an den Wänden, halb Kleid, halb ephemere Skulptur oder dreidimensionales Wandbild. Keramikvasen und andere Objekte aus den Inszenierungen nehmen den Raumdialog auf. Und in den wunderbaren großformatigen Zeichnungen, die Dan Lie hier erstmals zeigt, finden sich beider Formen wieder. Was von den Werken nicht verkauft wird, benutzt Dan Lie im Übrigen hinterher wieder für andere Arbeiten – hier ist alles Kreislaufwirtschaft und alles Transformation.

Dan Lie "Remains Remembering", Barbara Wien, Berlin, bis 9. August


Santiago de Paoli bei Meyer Riegger

Wie schreibt man über Sinnlichkeit und Körperlichkeit in der Kunst, ohne dass es klebrig klingt? Santiago de Paolis Bilder verfügen intensiv über beides, aber nichts daran ist aufdringlich, zu viel oder etwa pornografisch. Seine Figuren – gerade noch als solche zu erkennen – sind in verschiedenen Rosa- und Hauttönen gemalt, sie lassen Körperöffnungen und Geschlechtsmerkmale ahnen, sie sind nicht picassohaft kannibalistisch ineinander verschlungen, aber beziehen sich physisch aufeinander. Dabei ist nichts ist brutal durchdekliniert, aber es wird auch nichts verschwommen im Ungefähren gelassen. 

De Paoli, 1978 in Buenos Aires geboren, beherrscht die feine Balance zwischen Abstraktion und Ausformulierung. Auch eine gewisse Naivität spielt eine Rolle, sie ist anrührend auf eine Weise, wie man sie in der Kunst selten erwartet oder zulässt. Malerei ist das eine, über das man bei Santiago de Paolis Kunst sprechen und auch staunen kann, das andere ist die entwaffnende Offenheit seiner Bilder. Sie sind verletzlich wie eine geknackte Muschel. Nein, wie eine, die sich von selbst geöffnet hat.

Santiago de Paoli "Lieber Nebelkopf, die Blaue Brücke is open", Meyer Riegger, Berlin, bis 15. Juni


Wolfgang Tillmans bei Buchholz

Man ist sofort wieder drin in dieser besonderen Wolfgang-Tillmans-Atmosphäre: Dieser Offenheit und Freundlichkeit, dieser Neugier und prinzipiellen Empathie für die Welt, die die Bilder des deutschen Fotografen auszeichnen. In seiner neuen Ausstellung bei Buchholz mischt Tillmans Beobachtungen seiner Umgebung mit den gefalteten chromogenen Prints seiner "Lighter"-Werkreihe. Und gerade im Zusammenspiel tritt Tillmans' besonderes Interesse an der Materialität und Körperlichkeit seiner Sujets zutage. 

Die Wirklichkeit ist nicht eindimensional, sondern (mindestens) dreidimensional, und so sind Tillmans Fotos nie flach, sondern entfalten im Zusammenspiel von Größe, Farbe, Form und Licht körperliche Präsenz, sei es die Wucht eines riesigen Frachtcontainers, die Textur der Meeresoberfläche oder die Spiegelung in einer Glassfassade. Dazu kommen Porträts, die mal in Clustern zusammengestellt, mal einzeln gehängt sind, von Freunden oder Künstlerkollegen. Möglicherweise sind auch Prominente darunter, aber Tillmans fotografiert sie so menschlich, dass man sie manchmal kaum erkennt (ist das da Jodie Foster?).

Wolfgang Tillmans, Galerie Buchholz, bis 15. Juni