Auf der Berlinale gewann Matthias Glasner den Silbernen Bären für das Drehbuch von "Sterben". Jetzt kommt das von ihm geschriebene und inszenierte Familiendrama ins Kino, das mit Lilith Stangenberg, Robert Gwisdek oder Ronald Zehrfeld glänzend besetzt ist. Großartig vor allem auch Corinna Harfouch und Lars Eidinger als Mutter und Sohn. Ein Gespräch mit den beiden über Familienverhältnisse, gutes und schlechtes Publikum und darüber, wie man am überzeugendsten stirbt.
Corinna Harfouch und Lars Eidinger, in Matthias Glasners Familiendrama "Sterben" spielen Sie Mutter und Sohn – wie schon in "Was bleibt" (2012) von Hans-Christian Schmid. Haben Sie von den damaligen Dreharbeiten etwas mitgenommen für den aktuellen Film?
Corinna Harfouch: Man nimmt ein grundsätzliches Vertrauensverhältnis mit. Ich habe das Gefühl, Lars in gewisser Weise intim zu kennen. Da wusste ich vor Drehbeginn von "Sterben" bereits, dass wir sehr gut miteinander spielen können. Ich habe mir da gar keine Sorgen gemacht.
Lars Eidinger: Das ging mir ebenso. Im Film "Sterben" ist Ambivalenz ein großes Thema. Ellen, die von Lilith Stangenberg gespielte Schwester meiner Figur Tom, sagt an einer Stelle: "Ich bin das Gegenteil von allem. Ich bin das Gegenteil vom Gegenteil". Das ist paradox und entbehrt jedweder Logik, und genau deshalb ist es interessant, denn auch ich habe das Gefühl, Corinna ist mir wahnsinnig vertraut und doch ganz fremd. Ich hatte den Eindruck, wir treffen nochmal völlig neu aufeinander. Weil wir uns ja auch beide verändert haben. Zum ersten Mal haben wir 2003 an der Berliner Schaubühne zusammen gespielt...
...in "Phaidras Liebe" von Sarah Kane. Da war Corinna Harfouch als Lady Phaidra in Sie, ihren Stiefsohn, verliebt.
LE: Das ist 21 Jahre her. Auf der einen Seite baut man auf dieser Vertrautheit auf und tritt sich doch neugierig und als Veränderte gegenüber.
Für das Publikum auch ein sehr befremdliches Zusammentreffen. Ich denke an das unheimliche, aber auch komische Zwiegespräch von Mutter und Sohn nach der Beerdigung von Tom Lunies’ Vater. Sie essen Kuchen und gestehen sich gegenseitig, dass sie sich nie mochten. Die Szene liegt genau in der Mitte des Films und sie ist für mich die stärkste.
LE: Das ist auf jeden Fall ein Kulminationspunkt. Ich war ganz überrascht, als Matthias Glasner mich anrief und mir erzählte, dass "Sterben" im Berlinale-Wettbewerb läuft. Mein erster Gedanke war: Wieso wird in diesen politisch aufgeladen Zeiten ein Film über eine Familie eingeladen? Dann dachte ich an Luchino Viscontis "Die Verdammten", in dem der Nationalsozialismus anhand einer Familie erzählt wird, als Kammerspiel in einer Industriellenvilla. Tom sagt am Ende der Szene in "Sterben": "Jetzt verstehe ich, warum wir sind, wie wir sind". Matthias hat in einem Interview gesagt, er hätte den Film so persönlich wie möglich angelegt, um ihn so universell wie möglich zu machen. Partnerschaft und Familie bilden die kleinste gesellschaftliche Zelle. Daran können wir alle gesamtgesellschaftlichen Konflikte ablesen und hochrechnen. Wenn wir ihre Struktur verstehen, können wir Gesellschaft begreifen.
Haben Sie die gemeinsame Szene intensiv geprobt?
LE: Im Gegenteil, wir sind komplett unvorbereitet in die Szene gegangen, außer dass wir den Text gelernt hatten. Alles was im Film zu sehen ist, stammt aus dem ersten Take. Es wurde mit zwei Kameras in beide Richtungen gedreht. Wir haben uns nichts vorgenommen. Es war, als hätten Corinna und ich an einem Abgrund gestanden, uns an der Hand genommen und wären gemeinsam ins Ungewisse gesprungen. Dann haben wir uns gefreut, dass wir unten angekommen sind.
Corinna Harfouch, sie haben schon mehrmals mit Matthias Glasner gearbeitet. Was mögen Sie an diesem Regisseur?
CH: Dass er mir immer interessante Rollen gegeben hat. Sozusagen nicht Weißbrot, sondern Schwarzbrot. Schwierige Aufgaben eigentlich, aber gleichzeitig hat er einen Raum ringsum eröffnet, in dem man diese Rollen ganz leicht spielen konnte. Auf der schauspielerischen Ebene musst du dich gar nicht wahnsinnig anstrengen, sondern es kommt ganz von selbst. Ich muss mir bei Matthias Glasner gar nichts ausdenken.
Die Lissy Lunies lächelt immer so viel. Ein abgründiges Lächeln.
CH: Sie bittet um Vergebung. Sie ist, wie sie ist. Keine durchtriebene Frau, ganz und gar nicht. Ich liebe ja die Figuren, die ich spiele, und ich nehme sie immer sehr ernst. Und die Lissy, die möchte natürlich geliebt und als eine Gute erkannt werden. Sie steckt in einer Art von persönlichem Gefängnis, und dieses Lächeln ist, denke ich, einfach eine Bitte um Verzeihung oder entspricht dem Wunsch, gemocht zu werden.
LE: Mir ist irgendwann aufgefallen, dass es nahezu keine Szene gibt, in der sich Tom nicht zuallererst entschuldigt. Das ist fast eine Art Running Gag.
Corinna Harfouch, sie haben eben von "Schwarzbrot" gesprochen. Dem entspricht schon die erste Szene, in der Lissy ein Inkontinenz-Problem hat.
CH: Was das Thema angeht, bin ich eigentlich ganz robust. Ich bin gelernte Krankenschwester, und ich habe meine Mutter gepflegt. Ich kenne das. Und wenn mir der Regisseur nachvollziehbar erklärt, warum das im Buch ist, spiele ich das auch. Da habe ich keine Scheu – dann schon eher vor Sexszenen.
Lars Eidinger, Sie haben mal gesagt, dass man beim Film im Gegensatz zum Theater immer für die Zukunft spielt.
LE: Das liegt in der Natur der Sache. Der große Trumpf des Theaters ist die Unmittelbarkeit, während der Film etwas konserviert, das den Anspruch erhebt, dass die Vergangenheit in der Zukunft eine Gültigkeit erfährt. Ich kann damit schwer umgehen, weil ich das Spiel in der Gegenwart der Zuschauenden ja nicht mehr beeinflussen kann. Aber es gibt auch einfach schlechtes Publikum. Das wurde mir bewusst, als ich mit einem Film einmal auf Kinotour war. Die Reaktionen waren in jeder Stadt anders, obwohl der Film ja immer der gleiche war. Auf einer Theatertournee hätte ich gedacht, es liegt an uns Darstellenden, aber beim Film reagiert das Publikum ja auf eine Konserve. Bei der Galavorstellung der Berlinale von "Sterben" zum Beispiel war das Publikum sehr intelligent, offen und zugewandt und hat den Film über die dreieinhalb Stunden mitgetragen.
Übers Sterben müssen wir auch reden. Als Schauspielerin sind Sie ja schon oft gestorben, Frau Harfouch. Setzt man sich dabei besonders intensiv mit dem Unausweichlichen auseinander? Oder versteckt man sich eher vor der Wirklichkeit der Thematik?
CH: Ja, ich bin hundertmal gestorben. Und das nehme ich auf der Bühne und im Film sehr ernst. Ich habe wirklich Menschen sterben sehen, sowohl meine Mutter als auch Menschen, die im Krankenhaus gestorben sind. Ich habe sie sterben sehen oder tot gesehen, und ich habe wirklich einen Respekt davor. Ich habe keine Lust, da schauspielerisch sozusagen ein Glanzstück hinzulegen, weil ich das obszön fände. Aber es macht auf eine seltsame Weise Spaß, das zu spielen. Ehrlich!
Sind Schauspieler besser auf den Tod vorbereitet als andere Menschen, Lars Eidinger?
LE: Es gibt ein treffendes Zitat von Karl Valentin, dessen letzte Worte gewesen sein sollen: "Mein ganzes Leben lang hatte ich Angst vor dem Tod. – Und jetzt das." Früher habe ich mich immer über Laienschauspielende im Schultheater oder auch Sängerinnen und Sänger in Operninszenierungen amüsiert, die sich beim Sterben noch mal bequem hingelegt haben. Heute habe ich dafür Verständnis. Wer tot ist, muss lange liegen, für immer und ewig. Da ist es doch logisch, dass man sich bequem hinlegt.