Künstler Virgile Novarina

"Ich schlage vor, den Schlaf genauso zu genießen wie das wache Leben“

Der Künstler Virgile Novarina geht dem Phänomen Schlaf mit nächtlichen Studien und öffentlichen Performances auf den Grund. Nun wurde er dafür ausgezeichnet. Ein ausgeruhtes Interview über einen besonderen Bewusstseinszustand
 

Dieser Artikel ist zuerst beim "Philosophie Magazin" erschienen
 

Virgile Novarina, Sie beschäftigen sich seit 30 Jahren mit dem Schlaf. Was fasziniert Sie an diesem Zustand?

Meine Faszination für den Schlaf hat sich in einem dreistufigen Prozess entwickelt, der mir zunehmend die Vielschichtigkeit und Bedeutung dieses lebensnotwendigen Zustands offenbarte. Zunächst einmal war ich schlichtweg von der Dauer des Schlafes beeindruckt. Es ist faszinierend zu bedenken, dass wir im Durchschnitt etwa acht Stunden pro Nacht schlafen, was einem Drittel unseres gesamten Lebens entspricht. Als ich 18 Jahre alt war, stellte ich fest, dass ich bereits sechs Jahre im Schlaf und zwölf Jahre im Wachzustand verbracht hatte. Zu diesem Zeitpunkt wurde mir klar, dass ich bereits sechs Jahre meines Lebens gab, von denen ich kaum etwas wusste. Diese Einsicht entfachte in mir den Wunsch, gegen das Vergessen anzukämpfen, das dem Schlaf inhärent zu sein scheint. Nach und nach entwickelte sich mein Schlafgedächtnis, und ich war beeindruckt vom Reichtum des Schlafes.

Zu welchen Erkenntnissen kamen Sie dabei?

Mit der Zeit begann ich, mich intensiver mit meinem Schlafgedächtnis auseinanderzusetzen, und war zunehmend beeindruckt von der Fülle und Komplexität des Schlafes. Das Festhalten meiner Träume über Jahre hinweg brachte mich zu der Erkenntnis, dass der Schlaf nicht nur ein Ort für unsere Träume ist, sondern einen weiteren, noch geheimnisvolleren mentalen Raum beherbergt - den Tiefschlaf. In diesem Zustand offenbart sich eine ganz eigene Form des Denkens, die weit über unseren bewussten Verstand hinausgeht. Die Erkenntnis, dass der Tiefschlaf ein solch unergründlicher Zustand darstellt, inspirierte mich dazu, meine Erfahrungen und Reflexionen mit anderen zu teilen, die sich ebenfalls den Schlaf interessieren. Aus diesen Begegnungen und Diskussionen entstanden zahlreiche Projekte. Je mehr ich den Tiefschlaf erforsche, desto überraschender, reicher und geheimnisvoller finde ich ihn.

Sie sind "Schlafkünstler" – auf welche Weise greifen Sie das Thema des Schlafs in Ihren künstlerischen Arbeiten auf? 

Meine Herangehensweise an den Schlaf ist geprägt von einem subjektiven, partizipativen und multidisziplinären Ansatz. Die Universalität des Schlafes ermöglicht es, ihn auf vielfältige Weise und disziplinübergreifend anzugehen und zu verstehen. Durch die kreative Zusammenarbeit mit Schriftsteller:innen wie Pierre Pachet und Michel Butor, Philosoph:innen wie Clément Rosset und Jean-Luc Nancy, Musiker:innen wie Valérie Vivancos, Künstler:innen wie Walid Breidi und Philippe Chitarrini, sowie Wissenschaftler:innenn wie Frau Dr. Berger und Jean-Marc Chomaz, Ingenieur:innenen wie Karsten Dehler oder Schüler:innen und Studierende habe ich diverse Projekte zum Thema Schlaf sowohl in Europa als auch in den USA realisiert.

Welche zum Beispiel?

Diese Projekte manifestieren sich in vielfältigen Formen, angefangen bei nächtlichen Schriften und Zeichnungen, die im Dunkeln meines Bettes entstehen, über Performances bis hin zu interaktiven und immersiven Installationen, Büchern und Filmen. Ein Beispiel ist mein Film "Im Kern des Schlafes", der eine literarische und philosophische Reise durch die verschiedenen Zustände des Schlafes darstellt. Eine Betrachtung von zwölf Schläfer:innen und die Rezitation von vier Texten der Autoren Michel Butor ("Matière de rêve"), Clément Rosset ("Route de nuit"), Pierre Pachet ("Nuits étroitement surveillées") und Jean-Luc Nancy ("Tombe de sommeil") laden uns zu einer Reise von den Träume zum tiefen Schlaf ein.

An welchem Projekt arbeiten Sie zur Zeit?

Derzeit arbeite ich an dem Projekt "Quanten-Traum: Der Tag, an dem ich mir den Ozean vorstellte", einer Performance-Installation in Zusammenarbeit mit den Künstlern Walid Breidi, Jean-Marc Chomaz und Laurent Karst. Unser Ziel ist es, die Delta-Gehirnwellen des Schlafes in Form von Wasserwellen in einem Miniaturozean zu materialisieren. Dadurch wird der Reichtum der Schlaftiefen in Echtzeit durch die Bewegungen der Ozeantiefen erfahrbar. Überraschenderweise durchlaufen die gleichen Arten von Wellen unser Gehirn im Tiefschlaf und den tiefen Ozean. Das Publikum, das die Installation betritt, wird einen unbeweglichen Schlafenden und einen sich bewegenden Miniaturozean vorfinden, der von den elektrischen Signalen des Gehirns des Schlafenden bewegt wird.

Im Rahmen Ihrer Performance "Im Schlaf" schlafen Sie an öffentlichen Orten, etwa auf Vernissagen oder im Schaufenster von Geschäften. Was hat Sie auf diese Idee gebracht? Können Sie in diesen Situationen wirklich schlafen?

Wenn meine nächtlichen Schriften und Zeichnungen in Ausstellungen präsentiert werden, ist es mein Anliegen, nicht nur das fertige Produkt zu präsentieren - die Tinte auf dem Papier. Vielmehr möchte ich auch die Quelle dieser Kreationen sichtbar machen: den Schlaf selbst. Daher begann ich 2006 damit, in meinen Ausstellungen ein Bett aufzustellen, um während der Vernissage zu schlafen. Um trotz des Lärms, der Anwesenheit des Publikums und des Lichts schlafen zu können, bereite ich mich durch einen zwei Nächte dauernden Schlafentzug vor und lege mich eine Stunde vor dem Eintreffen der Besucher:innen mit einer Schlafmaske und Gehörschutz in die Ausstellung. Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem trägen Aussehen eines Schlafenden und dem Reichtum seiner inneren Erfahrung. Durch das Schlafen inmitten meiner Ausstellungen hoffe ich, diese Kluft in den Augen des Publikums zu verkleinern. Es ist auch eine Einladung an die Besucher:innen, ihren eigenen Schlaf zu hinterfragen und sich bewusster mit diesem essenziellen Aspekt des menschlichen Lebens auseinanderzusetzen.

In der Kunst und in der Literatur wurde der Schlaf oft mit dem Tod in Verbindung gebracht, sogar als dessen "Bruder" bezeichnet. Empfinden Sie es auch so, dass zwischen Tod und Schlaf eine Verwandtschaft besteht?

Es ist zweifellos wahr, dass ein Schlafender eine Art synthetisches Bild von Leben und Tod vermittelt. Dennoch finde ich die Worte von Marquis Hervey de Saint Denys aus dem 19. Jahrhundert zu diesem Thema äußerst treffend: "Ist es im Übrigen nicht eine seltsame Idee, einen Zustand, den man kaum kennt, mit einem anderen Zustand, den man nicht kennt, vergleichen zu wollen?". Der Schlaf ist ein universelles Phänomen, das alle Lebewesen betrifft. Seit der Antike finden sich in allen Epochen wichtige Texte über den Schlaf, von Homer über Lukrez bis hin zu Epikur. Trotz seiner fundamentalen Rolle im menschlichen Leben ist das Thema Schlaf im Verhältnis zu seiner Bedeutung oft unterrepräsentiert. Wenn wir über das Leben sprechen, neigen wir fast immer dazu, ausschließlich über das Wachleben zu reflektieren, als ob der Schlaf keine Rolle spiele, als wären wir währenddessen bereits gestorben. Meine Arbeit widerspricht dieser Assoziation zwischen Schlaf und Tod und schlägt stattdessen vor, zu versuchen, den Schlaf genauso zu genießen wie das wache Leben. Sie fordert dazu auf, den Schlaf als integralen Bestandteil unseres Lebens zu betrachten und seine Bedeutung sowie seine Potenziale zu erkennen und zu würdigen, anstatt ihn als eine Art Unterbrechung oder Abwesenheit des Lebens zu betrachten.

Haben Sie in den drei Jahrzehnten, in denen Sie sich mit dem Thema beschäftigen, gesellschaftliche Veränderungen mit Blick auf die Schlafqualität festgestellt? Schlafen wir heute schlechter?

Als ich mich 1995 zum ersten Mal für das Thema interessierte, war Schlaf noch kein öffentliches Gesundheitsproblem, wie es heute der Fall ist. Die zunehmende Verschlechterung der Schlafqualität, insbesondere durch die übermäßige Nutzung von Bildschirmen, selbst im Bett, hat mein Engagement für dieses Thema verstärkt, insbesondere im Hinblick auf junge Menschen. Während meiner Interventionen begegne ich häufig Personen mit Schlafstörungen, deren Ursachen oft unklar sind. Dabei ist zu betonen, dass Schlaf für die körperliche und geistige Gesundheit eines jeden Menschen von entscheidender Bedeutung ist. Ich denke, wir wären ausgeglichener, erfüllter und glücklicher, wenn wir unser Leben im Schlaf besser kennen und genießen würden.

Gibt es für Sie in Sachen Schlafen noch Rätsel, etwas, das Sie noch ergründen möchten?

Ja, es gibt viele davon. Um nur eines zu nennen: Ich habe vor, einen Film über wissenschaftliche Entdeckungen zu drehen, die teilweise im Schlaf gemacht wurden. Dieses Thema fasziniert mich zutiefst, weil es zeigt, welch erstaunliche Leistungen das Gehirn während des Schlafes vollbringen kann. 

Welche denn?

Ein Beispiel ist die Arbeit des Mathematikers Hieronymus Cardan im Jahr 1538: Als er an der Lösung von Gleichungen dritten Grades arbeitete, fand er einen Teil seiner Beweisführung in einem seiner Träume. Ebenso entdeckte der Chemiker Friedrich Kekulé im Jahr 1865 die kreisförmige Struktur von Benzol, nachdem er von einer Schlange geträumt hatte, die sich in den eigenen Schwanz biss. In jüngerer Zeit wachte der Mathematiker Cédric Vilani eines Morgens mit einem mathematischen Satz im Kopf auf. Sie erschien ihm zunächst absurd, er stand auf, bereitete seinen Kindern das Frühstück und brachte sie zum Schulbus. Als er nach Hause kam, sagte er sich, dass er es trotzdem versuchen sollte. Überraschenderweise funktionierte es, und er konnte den Beweis fertigstellen, an dem er seit Monaten arbeitete – ein Durchbruch, der ihm die Fields-Medaille einbrachte, das Pendant zum Nobelpreis in der Mathematik. Mein Film wird kein klassischer Dokumentarfilm sein, sondern eine sehr freie Form haben, mit dem Ziel, in den Schlaf selbst einzudringen. Er wird auch aus Erfahrungsberichten von Menschen bestehen, die nach einer bestimmten Nacht eine Entscheidung getroffen haben, die ihr Leben verändert hat. Ich bin auf der Suche nach Menschen, die Ähnliches erlebt haben und bereit wären, für diesen Film als Zeugen aufzutreten.