Wer schon immer mal jemandem die Ohren langziehen oder in der Nase popeln wollte, kann das jetzt frech und frei tun. Tony Craggs Objekt "We“ von 2015 lädt förmlich dazu ein. Die Bronzeskulptur, die von weitem aussieht wie eine schlanke Ananas oder ein praller Pinienzapfen (je nach Blickwinkel), ist bei näherem Hinsehen mit menschlichen Gesichtern samt Ohren und Nasen bestückt.
Schaut man von rechts nach links, so bilden sich aus einer glatten, unebenen Fläche, den Schuppen, bis zur anderen Seite hin Dutzende Gesichter. Zunächst sind nur die Ohren zu sehen, die nach und nach durch Münder und (geschlossene) Augen ergänzt werden, bis sie schließlich mit Nasen versehen zu Porträts mutieren, die dem Künstler selbst verblüffend ähnlich sehen. Das erinnert unweigerlich an die Metamorphosen von M. C. Escher.
Weitere Reminiszenzen an große Namen der Kunstgeschichte finden sich in den 30 Skulpturen, die gerade im Düsseldorfer Kunstpalast zu sehen sind. So glaubt man in der meterhohen Stahlskulptur einen Jeff Koons zu erkennen, in manch organischer Abstraktion einen Henry Moore und in der Bronzearbeit "Wave“ von 2022 die berühmte Welle des Japaners Katsushika Hokusai. Unglaublich filigran sind die Detaildarstellungen der Menschen, die von dieser Welle erfasst und mitgerissen werden. Beine, Arme, Hände, Schuhe: Alles in dieser Skulptur ist wild und willkürlich durcheinandergewürfelt, wie es im wirklichen Leben wohl nur ein Tsunami vermag.
"Das ein oder andere Objekt leicht unter Strom setzen"
Kein Wunder, dass Tony Cragg bei der Vorbesichtigung ein wenig skeptisch dreinschaut, als frage er sich: Worauf lasse ich mich da ein? Denn zum ersten Mal sind seine Objekte berührbar, und nicht nur das, sie fordern - wie der Titel der Ausstellung propagiert - geradezu zum Anfassen auf: Please touch!
"Vielleicht sollte man das eine oder andere Objekt leicht unter Strom setzen", scherzt der Brite, dem es sichtlich schwerfällt, seine "Babys" einer möglicherweise respektlosen Meute von Selfie-Jägern auszuliefern. Kaum vorstellbar, wenn diese auf seinen Skulpturen herumklettern würden. Es habe Jahre gedauert, Tony Cragg zu diesem Experiment zu überreden, bestätigt Kunstpalast-Direktor Felix Krämer die zögerliche Haltung des Künstlers.
Cragg (74) lebt seit 1977 in Wuppertal, wo er 2008 den Skulpturenpark Waldfrieden gründete und wo rund 20 Mitarbeitende damit beschäftigt sind, seine zum Teil raumfüllenden Objekte nach seinen Vorgaben zusammenzubauen. Der Künstler gilt nach Henry Moore als der bedeutendste zeitgenössische Bildhauer Großbritanniens. Nach einer Professur an der École des Beaux-Arts in Metz 1976 lehrte er von 1978 bis 2016 an der Düsseldorfer Kunstakademie, darunter mehrere Jahre als deren Rektor. Internationale Bekanntheit erreichte er aber auch aufgrund seiner vielen Ausstellungen, die ihn in die wichtigsten Museen weltweit führten.
Tabu im Museumsbetrieb
Dort galt und gilt zumeist aus konservatorischen Gründen die unumstößliche Regel, Werke nicht mit bloßen Händen anzufassen. Der Kunstpalast bricht nun mit diesem Tabu. "Es gibt kaum jemanden, der die Skulpturen von Tony Cragg nicht berühren möchte", meint Felix Krämer, der gemeinsam mit dem Künstler die Schau kuratiert hat. "Dass dies in einem Museum normalerweise nicht möglich ist, hat gute Gründe: Es ist unsere Aufgabe, Kunstwerke für zukünftige Generationen zu bewahren. Berührung aber hinterlässt Spuren und Schäden durch Abrieb oder chemische Reaktion. Die in 'Please touch!' gezeigten Skulpturen stammen direkt vom Künstler und werden im Anschluss durch Tony Cragg überarbeitet".
Bis es soweit ist, können die Besucher nun die Kälte von Stein, die Wärme von Holz und die Härte von Stahl erfühlen und so die Kunst im wahrsten Sinne des Wortes begreifen. Ein durchaus kommunikativer Ansatz, denn die Ausstellungsbesucher, die nicht vorher die erläuternden Objektinformationen gelesen haben, fragen sich gegenseitig, mit welchem Material sie es hier zu tun haben, wie es wohl bearbeitet wurde und an wen - wenn überhaupt - das jeweilige Objekt erinnert. Es werden aber nicht nur Vergleiche zu Künstlern angestellt, sondern auch zu dem, was es darstellen soll. Eine gute Methode, sich einem Kunstwerk zu nähern.
Ganz neu ist das Konzept allerdings nicht. Bereits 1950 erlaubte Henry Moore (1898-1986) bei seinen Ausstellungen in der Hamburger Kunsthalle und im Kunstpalast, einige seiner Objekte zu berühren (was bei oft tonnenschweren Objekten, die eine gewisse skulpturale Stabilität haben müssen und zum Teil den öffentlichen Raum prägen, auch eigentlich kein Problem sein sollte). Rund 20 Jahre später schlug Barbara Hepworth (1903-1975) in die gleiche Kerbe, als sie formulierte: "Ich glaube, dass jede Skulptur berührt werden muss. Man kann eine Skulptur nicht betrachten, wenn man steif dasteht und sie anstarrt".
Don't Touch - oder doch?
Und auch in der Gegenwart gibt es Initiativen von Künstlerinnen und Künstlern, die zwar nicht den Bekanntheitsgrad der hier Genannten haben, sich aber auch seit geraumer Zeit mit der Frage beschäftigen, was es bedeutet, Kunst zu berühren und von ihr berührt zu sein. Einer von ihnen ist Manfred Webel vom Mobilen Kunst-Container in Paderborn, der Skulpturen schafft, die seiner Meinung nach bewegen und damit "befreit" werden und in der Folge ganz neuen formalen, ästhetischen und vor allem sozialen Regeln unterliegen. "Die eigentliche Herausforderung", so Webels Credo, "ist der Mensch, der mehr in den Mittelpunkt der künstlerischen Auseinandersetzung rückt". Ein Umstand, der letztlich die Chance für eine Öffnung der Museen und anderer Kultureinrichtungen sei.
Zurück zu Tony Cragg: Davon abgesehen, dass man die Skulpturen nun berühren darf, geben sie einen umfassenden Einblick in die enorme Vielfalt des Künstlers, sowohl in Form und Farbe als auch bezogen auf das Material. Geschliffenes Schichtholz, (Fiber-)Glas, Gips, Metall oder Bronze fordern den Tastsinn heraus, haben aber auch Einfluss auf unsere Gefühle, wie Cragg schon vor Jahren postulierte: "Es sind unsere Wahrnehmungen von materiellen Formen, die grundlegend für die Entstehung unserer Gefühle, Gedanken und Ideen sind“.
Großzügig und schnörkellos aufgestellt, sind die Objekte nur von weißen Wänden umgeben. Wenig Licht, wenig Schatten. Das entspreche den Lichtverhältnissen in Craggs nach Norden ausgerichtetem Atelier, sagt Krämer. Einen Eindruck davon erhält der Besucher im letzten Raum der Ausstellung, in dem dieses rekonstruiert wurde. Ein Sammelsurium von Utensilien sowie 30 weitere kleinere Objekte, die zum Teil auf Tischen oder in Regalen lagern, erlauben einen symbolischen Blick über des Meisters Schulter. Ein harter Schnitt und ein Schritt zurück in die museumsübliche Praxis. Denn hier gilt (wieder): Bitte nicht anfassen!