Die Vielflieger-Kolumne
von Klaus Biesenbach
Ist Mexiko-Stadt zu sicher geworden? Gegenüber der schicken, minimalistischen Architektur des Habita Hotel im vornehmen Stadtteil Polanco sitzen die Kunden der teuren Modegeschäfte in Straßencafés, entspannt und sorglos. Keine Panzerglasscheiben trennen sie von den Passanten, Straßenhändlern und Schuhputzern in direkter Nachbarschaft. Noch vor wenigen Jahren wäre diese Szene undenkbar gewesen. Kleinkriminalität, Überfälle und Entführungen waren an der Tagesordnung in der mexikanischen Hauptstadt.
Doch die harte Alltagsroutine hatte auch ihre produktiven Konsequenzen. In den Jahren 2001/02 schien Mexiko-Stadt wie das Eldorado der neuen politischen Kunst. Santiago Sierra,
damals Wahlmexikaner und Exilspanier, lieferte die härtesten Statements innerhalb einer ganzen Generation von Künstlern, zu der die Britin Melanie Smith und der Belgier Francis Alÿs gehörten, dazu „Einheimische“ wie Teresa Margolles, Daniela Rossell, Gabriel Kuri, Minerva Cuevas und, und, und.
Das gesellschaftliche Engagement dieser Generation schien plausibel vor dem Hintergrund von politischer Ungewissheit, Währungswirren, Korruptionsskandalen und eben nicht zuletzt angesichts der horrenden Kriminalitätsrate. Doch die vergangenen Jahre mit ihrem Wirtschaftsboom haben auch Mexiko-Stadt zu einem sichereren Ort gemacht. Heute erscheint selbst der
zócalo, der berüchtigte Demonstrationsplatz vor dem Präsidentenpalast, mehr wie eine Touristenattraktion als wie ein gefährlicher Brennpunkt. Von hier aus führt der nach Mexiko zurückgekehrte Exilbelgier Alÿs seine internationalen Gäste in das Labyrinth der U-Bahn. Er ist kaum zu verfehlen, weil er einen Kopf größer ist als die meisten lokalen Pendler.
Die Tour führt zu dem neu eröffneten MUAC, dem Museum für zeitgenössische Kunst auf dem Campus der Hochschule Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM). Es ist gut besucht – trotz einiger Kritik an der Architektur. Aber nicht nur das Gebäude wird öffentlich diskutiert. Der in der Szene hoch angesehene Guillermo Santamarina hat die Eröffnungsausstellungen mit einer provozierenden Installation eingerichtet. Miguel Venturas chaotisches Labyrinth setzt menschliches Verhalten mit dem von Rattenkolonien gleich; neben dem Rattenlabor sieht sich der Besucher konfrontiert mit Überflutung durch Farben und Symbolen, in denen US-Dollar-Symbole und Hakenkreuze die Aufmerksamkeit fokussieren.
Die politische Reizüberflutung als Versuchsanordnung kommt zu einem Zeitpunkt, da die US-Regierung Pakistan und Mexiko als die schwächsten und damit gefährlichsten Staaten identifiziert hat. De facto ist die Kriminalität an der mexikanisch-amerikanischen Grenze durch den industrieähnlichen Drogenhandel zu einem großen Problem mit über 8000 Toten in den vergangenen beiden Jahren geworden. Man befürchtet, dass diese Gewalt mit der Wirtschaftkrise zurück in die Hauptstadt schwappt.
Der Zirkel schließt sich wieder. Ich höre, Teresa Margolles wird den mexikanischen Pavillon bei der Venedig-Biennale
machen … Mit ihrer reduzierten formalen Härte, die die urbane Gewalt und Ungerechtigkeit als Grundlage braucht, bleibt also alles beim Alten.
Klaus Biesenbach ist Chefkurator im Department of Media am Museum of Modern Art in New York