Die Monster funken SOS. So stand es 2017 im Vorwort geschrieben, und seitdem sind die Hilferufe vielerorts wohl eher verzweifelter geworden. "SOS Brutalismus" hieß der Bildband, der parallel zur gleichnamigen Ausstellung vom Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt in Zusammenarbeit mit der Wüstenrot Stiftung veröffentlicht wurde. Es gibt eine Online-Datenbank zum Projekt mit bestehenden, gefährdeten und demolierten Bauwerken aus Beton; in den vergangenen sechs Jahren sind mehrere davon von akuter Gefährdung auf Abriss gewechselt. Gerade erschien der Band in einer limitierten Neuauflage.
"SOS Brutalismus" war der Versuch, die Sphäre des damals gerade sehr virulenten Hypes und der Brutalismus-Coffeetable Books mit dem fachlichen Diskurs zusammenzubringen. Er scheint heute kaum weniger akut. Denn die Lage bleibt natürlich paradox: Brutalistische Bauwerke werden von einer gar nicht mehr kleinen Gemeinde global heiß geliebt, auch in Fachkreisen wertgeschätzt, gleichzeitig wird dem Abriss trotz engagierter Initiativen selten Einhalt geboten. Das Technische Rathaus in Frankfurt beispielsweise war schneller Geschichte, als sein Architekt glauben mochte ("Das kann dem Steuerzahler nicht gefallen", sagte 2007 noch Anselm Thürwächter in der "FAZ", der das Bauwerk in den 1960er-Jahren entworfen hatte.)
Das Buch zeigt Brutalismus nicht als Frage eines bestimmten Stils, sondern als architektonisches Chamäleon, das sich jeweils verschiedenen Zeiten und Strömungen anverwandeln konnte. Nicht selten ging es dabei um eine bessere Welt für möglichst viele Menschen – recht unterschiedlich ausdefiniert: Brutalismus gab dem Sozialismus ein Gesicht und dem Hyperkapitalismus ebenso, er prägte die Neugestaltung post-kolonialer Staaten Afrikas wie die Nachkriegszeit der Bundesrepublik, kam in tropischen Klimazonen und im gemäßigten Norden zum Einsatz. Besonders gern wurden öffentliche Einrichtungen und gigantische Wohnanlagen, oft im Geiste des sozialen Siedlungsbaus, und nicht zu vergessen Sakralbauten aus Beton gefertigt.
Gute Gründe für eine Relektüre
Der wieder aufgelegte Band zeigt eine geradezu fließende architektonische Strömung, die respekteinflößend, aber auch verspielt sein kann, finster oder lichtdurchzogen, dem Menschen zugewandt, oft geradewegs organisch scheinend (nicht umsonst erinnern brutalistische Bauten schon rein farblich, aber auch qua Oberflächenbearbeitung und Form an Felshöhlen).
"SOS Brutalismus" erinnert, bei aller Monumentalität, an die Vielgestaltigkeit und an die spezifischen lokalen Ausprägungen, die das Bauen mit Beton mit sich bringt. Ortskundige Autorinnen und Autoren liefern historische und weltanschauliche Hintergründe zur brutalistischen Architektur in ihrer jeweiligen Region.
Auch diese Neuauflage wird hartgesottene Gegner kaum von den Qualitäten der verhassten Betonmonster überzeugen. Aber zur Ausdifferenzierung des zugewandten Blicks ist "SOS Brutalismus" immer noch eine sehr gute Wahl. Und in Zeiten, da Bauen mit oder im Bestand langsam, aber zunehmend als eine der wichtigsten Maßnahmen gegen unsinnige Ressourcenverschwendung anerkannt wird, gibt es weitere gute Gründe für eine Relektüre.