Rückkehr der Künstlerfürsten

Das Jahr des Gerhard Kieferlitz

Künstler Anselm Kiefer und  Regisseur Wim Wenders bei der Deutschland-Premiere des Films "Anselm - Das Rauschen der Zeit" in Berlin
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Künstler Anselm Kiefer und  Regisseur Wim Wenders bei der Deutschland-Premiere des Films "Anselm - Das Rauschen der Zeit" in Berlin

Die Kunstwelt will jünger und diverser werden, trotzdem ist niemand erfolgreicher als Gerhard Richter, Anselm Kiefer oder Georg Baselitz. Über die unheimliche Macht des Bekannten in der Kultur

Friedrich Merz ist CDU-Vorsitzender, Thomas Gottschalk moderierte noch einmal "Wetten, dass ...?", und Rudi Völler war kurzzeitig Teamchef der deutschen Fußballnationalmannschaft der Herren. In diesem Jahr konnte man sich schon ab und zu fragen, ob man nicht doch in eine Zeitmaschine geraten und irgendwo in den späten 90er- oder frühen 2000er-Jahren herausgekommen ist. Die "Alten Weißen Männer" (AWM), von denen in letzter Zeit vor allem spöttisch und im Zusammenhang mit ihrem Niedergang die Rede war, stellten 2023 ihre fortwährende Dominanz und Handlungsmacht nachdrücklich unter Beweis. Ein politisch-sportlich-kulturelles Déja-vu.

Auch in der Kunst traf man 2023 auf auffällig viele alte Bekannte. Und nicht nur als nostalgische Relikte, sondern als vitale Powerplayer in luftigen Erfolgshöhen. So ist der meistumjubelte Neuzugang der Megagalerie Zwirner kein Geringerer als der inzwischen 91-jährige Gerhard Richter. Abgewandert von seiner langjährigen Galeristin Marian Goodman, zeigte Richter in diesem Frühjahr seine erste Ausstellung mit teils neuen Werken bei Zwirner in New York. Hatte der Künstler eigentlich schon vor Jahren verkündet, nicht mehr malen zu wollen, bleibt er auch in der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts ein Garant für Sensationen im Kunstbetrieb. Dass er seit stolzen 20 Jahren das Ranking des "Kunstkompass" anführt, ist eine Art von Konstanz, die nicht mal Angela Merkel oder Helmut Kohl mit ihren 16 Jahren Kanzlerschaft erreichten. Auch bei den meistgegegoogelten Künstlerinnen und Künstlern 2023 liegt Richter in Deutschland auf Platz eins. Er stieß den langjährigen Netz-Herrscher Banksy vom Suchmaschinen-Thron.

In Berlin zeigt die Neue Nationalgalerie die Ausstellung "Gerhard Richter. 100 Werke für Berlin" gleich bis 2026 - für wenig kurzentschlossenes Publikum gibt es also keinerlei Ausrede mehr zum Nicht-Besuch. Hier wird offenbar ein Konvolut von Werken als neues Nationaldenkmal etabliert, das mittelfristig im nebenan entstehenden Museum der Moderne glänzen soll. Die Richter-Dauerpräsenz in der Nationalgalerie, die ansonsten unbedingt weniger weiß und männlich werden will, trifft in der Öffentlichkeit augenscheinlich auf wenig Widerspruch - obwohl es gerade zum prominenten "Birkenau"-Zyklus einiges zu diskutieren gäbe

Kiefer und Richter als Staatsräson

Apropos Nationaldenkmal - zu einem solchen wächst auch der Maler und Bildhauer Anselm Kiefer heran. In diesem Jahr widmete ihm der Regisseur Wim Wenders ein opulentes Filmporträt in 3D, das Kiefers historisches Pathos mit noch mehr Pathos bebildert. Als großer Schweiger wandelt oder radelt Kiefer durch sein gigantisches unterirdisches Atelier und darf sich telegen an der deutschen Literatur und dem Erbe des Holocaust abarbeiten. Dass seine frühen Werke inklusive Hitlergruß mal umstritten waren, bleibt in dem Porträt nur eine Fußnote aus ferner Zeit. Während in der durch den Nahost-Krieg befeuerten Debatte um deutsche Erinnerungskultur gerade jeder zeitgenössische, womöglich postkolonial gefärbte Blick auf die Shoah mit Misstrauen beäugt wird, sind die künstlerischen Bewältigungen von Kiefer und Richter offenbar zur "Staatsräson" kristallisiert. 

Wenn es um große Männer geht, die anderen großen Männern ein Denkmal setzen, ist Anselm Kiefer in diesem Jahr unerreicht. Neben Wenders' filmischer Hommage ist auch ein Buch des norwegischen Star-Autors Karl Ove Knausgård über den deutschen Künstler erschienen. Der Schriftsteller, der bereits elegisch die Sehnsucht in den Werken von Edvard Munch verarbeitet hat, gibt sich in "Der Wald und der Fluss. Über Anselm Kiefer und seine Kunst" als bescheidener Fanboy. Anhand eines Treffens in Freiburg - der Schwarzwald, so romantisch - macht Knausgård sich Gedanken darüber, warum ihn die monumentalen Werke Kiefers so berühren, obwohl sie seit Jahren mit denselben Stilmitteln und Themen arbeiten. Ein wiederkehrendes Fazit im Buch: "Vor ihnen wird man still". 

Dass ein Künstler vor dem Werk eines anderen Künstlers in stumme Andacht verfällt, ist vor allem ein Phänomen unter weißen Männern. Bei allen anderen Identitäten werden unweigerlich Geschlecht, race und soziale Verortungen zum Thema. Bei Kiefer und Knausgård überwiegen jedoch universale Bedeutung des Schaffens und Überlegungen zum "ursprünglichen" Schöpfertum jenseits von Markt- und Produktionsbedingungen. "Der Kampf - Idee gegen Materie - war das Kunstwerk", schreibt Karl Ove Knausgård. Angesichts einer Installation von Kiefer in London fragt er sich, "was die Maschine antreibt, aber auch, was die Menschen dazu antreibt, die Maschine herzustellen, was den Hai antreibt, was den Krieg antreibt, was das Leben antreibt." 

Männer, die auf Männer starren

Es ist ja keineswegs so, dass es keine neue Kunst zu entdecken gäbe. Die Museen, Galerien und Projekträume zeigen aufstrebende Positionen, vermischen fleißig Genres und hinterfragen ihre Repertoires. Aber das größte Publikumsinteresse ballt sich dann doch beim Altbekannten. Dass das Phänomen der etwas schwülstigen Klassiker-Betrachtung 2024 weniger präsent wird, ist nicht zu erwarten. Schließlich wird hierzulande groß der 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich gefeiert. Das Buch von Florian Illies über den führenden deutschen Romantiker heißt passenderweise "Zauber der Stille"

Auch Georg Baselitz, der in letzter Zeit eher mit Aussagen über Donald Trump oder die gleichgeschaltete deutsche Presse statt mit neuer Kunst auffiel, hatte 2023 einen großen internationalen Auftritt. Die Londoner Serpentine Gallery, ein ambitionierter Hotspot des Kanon-Aufbrechens, zeigt noch bis zum 7. Januar 2024 Holzskulpturen des 85-Jährigen, die eigentlich als Vorstudien zu Bronzestatuen gedacht waren. Baselitz setze damit seine "Erkundung der Spannungen zwischen dem Figürlichen und dem Abstrakten durch grobe Annäherungen von aus Holz geschnitzten Figuren und Körperteilen" fort, heißt es im Pressetext zur Ausstellung. Er wird als Pionier gewürdigt, der das Genre des Expressionismus beständig weiterentwickelt hat. Vielleicht ganz gut, dass sie im Vereinigten Königreich seine deutschen Interviews (die AfD wird unfair behandelt; wir leben in einer Scheindemokratie; Trump ist der letzte wahre Künstler, Frauen können nicht malen etc.) eher nicht verfolgen.

Dass kulturelle "Must-Haves" trotz aller Bemühungen zur Vielfalt immer beliebter zu werden scheinen, ist eine Beobachtung, die für viele Sparten gilt. Die Blockbuster füllen Kinosäle, Museen und Konzerthallen, während es Nachwuchskünstler schwer haben, in einer zersplitterten Öffentlichkeit überhaupt wahrgenommen zu werden. Wenn Kunst den Weg in den Mainstream findet, sind es meist die großen Namen, die seit Jahrzehnten etabliert sind (nicht ganz zufällig standen dieses Jahr die Beatles wieder auf Platz eins der Charts). 

Die National Portrait Gallery als Pilgerort

Und das Phänomen verstärkt sich selbst: Nach der Pandemie müssen Kulturhäuser ihr Programm auch wieder anhand von Publikumszahlen rechtfertigen, also wird mehr von dem eingeplant, was Erfolg verspricht. Und da sich in der Nahost-Debatte die ideologischen Fallstricke politisch aufgeladener Kunst zeigen (und viele Museen darauf eher hilflos reagieren), besteht durchaus die Gefahr, dass man sich noch mehr auf das Erprobte, vermeintlich Ungefährliche konzentriert, um Kontroversen zu vermeiden. 

Das heißt natürlich nicht, dass die Kunst von Gerhard Kieferlitz und Co ihre Relevanz verliert - in der Kunstwelt ist eigentlich genug Platz für verschiedene Ansätze und Generationen. Doch es ist unerlässlich, dass die Institutionen mutig bleiben und sich einem zu befürchtenden konservativen backlash entgegenstellen. 

Übrigens soll hier keineswegs unterstellt werden, dass ältere weiße Künstler nicht mit der Zeit gehen können. Das beste Beispiel ist David Hockney (86), der mit dem iPad malt und sich schon seit Jahrzehnten für queere Liebe als Thema seiner Kunst interessiert hat. In diesem Jahr wurde seine Ausstellung in der National Portrait Gallery in London auch zu einem Pilgerort für Teenies. Hockney zeigte dort sein Porträt des Sängers Harry Styles - einem der wenigen Unter-30-Jährigen, die noch bekannter sind als Kiefer, Richter, Baselitz und Hockney zusammen.