Es war an dem Tag, bevor der Strom und das Wasser abgeschaltet wurden und die Bombardierung von Gaza begann. Ich glaube, es war sogar noch warm draußen. Völlig durcheinander scrollte ich spät abends auf Facebook und Instagram herum. Zwischen Mac-&-Cheese-Videos, Talks, Reels von CNN und Young Turks sah ich immer wieder Bilder von Demonstrationen für Palästina, gegen den Krieg, Menschenströme, Frauen und Kinder, die mit ein paar Habseligkeiten in den Süden Gazas fliehen.
Dann plötzlich einen schwarzen Plastiksack auf einem Metallblech in einer Röhre oder einer Kühlung, daneben ein anderes Foto, etwas, das ich im Halbschlaf erst für eine Art Kunstwerk oder eine Computeranimation hielt. Ein pink-violettes Gebilde, das fast mädchenhaft aussah, wie ein japanisches Tattoo, das man auf dem Oberarm oder der Wade von blondierten Frauen in Drogeriemärkten hervorblitzen sieht. Etwas wie ein Manga-Comic, aber viel futuristischer, irgendwie falsch, ein explodierendes Cyborg-Wesen aus Knochen, Gräten, Röhren, Ästen, auffliegenden Kirschblüten.
Da war ein Gefühl von Gefahr, aber ich konnte nicht mehr wegsehen. Ich begriff nicht. Mein Blick rutschte runter, auf den Text in der Kommentarspalte. Ein Computertomogramm. Zwei Wirbelsäulen, die eines Erwachsenen und eines Jugendlichen, die, wie in einer letzten Umarmung, mit Metalldrähten zusammengebunden und dann angezündet worden waren.
Es war wie bei einem Autounfall, bei dem sich die Sekunden dehnen, man jedes Detail wie in Zeitlupe erlebt. Ich konnte spüren, wie dieses Bild in mich eindrang und in mir stecken blieb. Es steckt immer noch da, nicht im Kopf, sondern im Brustbein. Ich wollte für eine Millisekunde nicht mehr da sein, nicht existieren, um das ungesehen zu machen, diese absolute Hoffnungslosigkeit nicht spüren zu müssen. Es wird besser, aber vielleicht wird dieses Bild bis zu meinem Tod in meinem Körper eingeschlossen bleiben.
Für jeden ist es etwas anderes. Ich hatte schon Aufnahmen von dem Massaker auf dem Festival gesehen, den toten Körper einer vergewaltigten Festivalbesucherin, der von einer Gruppe von Männern weiter misshandelt und auf einen Truck geworfen wurde. Auch diesen Anblick werde ich nicht vergessen. Aber für mich war es dieses undeutliche, fast abstrakte und dabei faktische, total materielle Bild, das mich schockierte. Das war auch nicht wie die Abbildung von etwas, sondern wie ein Ding, etwas Medizinisches, das man mit sich rumschleppt, wie einen Tumor, oder ein Implantat.
In mir stecken bereits eine Reihe von Ereignissen und Bildern, die sich so anfühlen. Da sind, wie wohl bei jedem von uns, bestimmte Kindheitserlebnisse, Sachen die man sieht, Gewalt, die man erfährt. Aber die ersten Bilder, die sich in meinen Körper einschrieben, die ich als über 60-Jähriger noch immer mit mir herumtrage, waren in einem Buch, das meine Eltern paradoxerweise in der untersten Ablage des riesigen Bücherschrankes wie in die Auslage eines Geschäftes legten. Auf dem Einband eine konstruktivistische Collage, schwarz, weiß, rot, und darauf stand: "NIE WIEDER NEVER AGAIN БОЛЬШЕ НИКОГДА PLUS JAMAIS". Sie hatten es in den späten 1960er-Jahren bei einer Reise nach Warschau gekauft. Irgendwann lag es da.
Als ob ein Massaker auf ein anderes antwortet
Ich war vielleicht elf, als ich es öffnete. Da waren nur Fotografien: unscharfe, schlecht gedruckte Bilder von verhungernden, verletzten Flüchtlingen, verwesten Soldaten, die an der Ostfront gefallen waren. Klumpen aus Licht und Schatten, ein skelettierter Unterkiefer, der an einem gefrorenen Gesicht hängt. Der berühmte kleine Junge, mit den erhobenen Armen, der aus dem Warschauer Ghetto abgeführt wird. Transporte, Güterzüge, wieder Menschenschlangen. Grausamkeiten, Tritte, Hinrichtungen.
Dann diese Bilder aus Auschwitz, Majdanek, Treblinka. Sie waren wie dieses Computertomogramm. Materie, etwas Dinghaftes, ein Haufen von etwas, das Gewicht hat, schwer ist in der Mitte, aber außen ganz leicht und dünn. Etwas, das eigentlich gehalten werden sollte, aber aufgebrochen, gewogen oder seziert wird, irgendwo reinfällt, liegenbleibt, verscharrt wird. Haufen von Haaren, Goldzähnen, Brillen, Körpern. Augen, die chlorgeblichen und hell wie in einem alten Science-Fiction-Filmen aus einem Raster von Rippen und Stacheldraht hervorstrahlen.
Ende der 1970er-Jahre , sollte ich diese Bilder wieder sehen, bei dem obligatorischen Besuch der Gedenkstätte Plötzensee, wo wir mit der Klasse die Filme von der Befreiung der Konzentrationslager anschauten. Auch später in meinem Leben, sah ich sie in Büchern, Dokumentationen, Nachrichten, in Altersheimen, auf Aids-Stationen. Ich sah nach dem 7. Oktober immer weiter diese Bilder, ganz so, als ob auf ein Massaker jetzt mit einem anderen geantwortet wurde, das natürlich nicht genau dasselbe war, aber in seiner absoluten Unmenschlichkeit ähnlich und nicht mehr aufhörte.
Auf Instagram gibt es diesen Schleier, der "anstößige" Bilder verdeckt. Doch der Algorithmus erkennt nicht alles, nicht die aus den ausgefallenen Inkubatoren genommen, auf einen Haufen gelegten toten Babys, die in ihren Windeln wie Kürbisse oder Riesenbohnen auf einem Haufen liegen, nicht die amputierten, verschütteten Kinder, ihre fehlenden Gesichter oder Schädeldecken. Diese Bilder sind alle irgendwie verwandt, genauso wie die von den Genoziden aus dem Kongo oder dem Sudan, die man viel, viel seltener sieht.
Sie sind so verheerend, nicht nur weil sie so entmenschlichend, so gewaltsam sind, Verbrechen gegen das Völkerrecht dokumentieren, zeigen wozu Menschen fähig sind. Sie waren für mich als Kind und Jugendlicher nicht nur Erinnerungen, Mahnungen gegen das Vergessen. Es waren Ankündigungen von kommender Gewalt, einfach indem sie zeigen, dass dies möglich ist, der Stärkere es tun kann, Hilfe für die Opfer zu spät oder gar nicht kommt.
Da ist eine Drohung in diesen "Nie wieder" enthalten, wenn man nicht aufpasst, ist man selbst dran. Es geht nur darum, wer der Stärkere ist. Ich bin als schwules Kind in einer Zeit aufgewachsen, in der die alten Nazis noch lebten, in der man auf der Straße hörte, dass man "Gammler", "Perverse", "Arbeitsscheue" ins Lager stecken und vergasen sollte, in der ständig, überall, ohne jede Hemmung die übelsten Schimpfwörter für marginalisierte Gruppen verwendet wurden.
Krieg der Bilder
Bestimmt werden einige Leute sagen, diese Ängste seien der Luxus eines Privilegierten. Der Holocaust könne nicht für alles herhalten. Dies sei ein "Genozid", wobei Palästinenser entmenschlicht und abgeschlachtet würden, während die Welt zuschaue. Dies sei ein Problem, das mit Rassismus, weißer Vorherrschaft, Kolonialisierung zusammenhänge "und du bist Teil des Problems, alter Mann".
Andere beklagen das Schweigen der Kunstszene angesichts des explodierenden Antisemitismus, von Attacken auf Synagogen, den Davidsternen, die auf Haustüren gesprüht werden, um mögliche Opfer zu markieren. Was ist mit den Ausschreitungen in Neukölln, mit Judith Butler, die die Hamas verteidigt, den erneuten Skandalen um die Findungskommission der Documenta, dem latenten Antisemitismus der Linken? Wie kann man zulassen, dass ausgerechnet in Deutschland jüdisches Leben bedroht wird? Dieser Konflikt war schon lange vor dem Gaza- Krieg da, und er hängt in Deutschland ganz eng mit der unbewältigten NS- Vergangenheit zusammen. Die erhitzten Antisemitismus-Debatten um die letzte Documenta waren nur der Anfang.
Seitdem haben sich die Fronten verhärtet. Es ist auch ein Informations- und Propagandakrieg, ein Krieg der Bilder geworden, der in Wohnzimmern, im Kunstbetrieb, in Feuilletons immer erbitterter geführt wird, ein Konflikt, der sich immer wieder auf kulturelle, religiöse, ethnische Identität fokussiert, obwohl es um Völkerrecht geht, das völlig unabhängig von diesen Kategorien gelten muss. Fast zeitgleich mit den Posts der „Queers for Palästina“, die auf den Demos auch mit Hamas-Anhängern laufen, erschienen Bilder von israelischen Soldaten, die in den Trümmern von Gaza die Regenbogenflagge mit dem Davidstern hissten. Doch ganz egal, wieviel CSD-Paraden nun in Tel Aviv stattfinden, bleibt die anhaltende Bombardierung ein Kriegsverbrechen – auch wenn die LGBTQ-Menschen in Gaza verfolgt wurden und die arabische Community in Neukölln nicht gerade homofreundlich ist.
Marcel Ophüls' "Nicht schuldig?"
In diesen frühen Tagen des Krieges, als immer mehr grausame Bilder und Nachrichten erschienen, die Vergebung oder so etwas wie Frieden unmöglich machen zu schienen, die einen absolut an der Menschheit verzweifeln lassen, fiel mir ein Dokumentarfilm ein, in dem es um Völkerrecht, Schuld, den Umgang mit Kriegsverbrechen und dem Holocaust geht: Marcel Ophüls "The Memory of Justice/ Nicht schuldig?" (1976) Ich hatte ihn Ende der 1970er-Jahre noch als Schüler gesehen, lange vor Claude Lanzmanns "Shoa" (1985) und dieser Film war für mich absolut einschneidend.
"Nicht schuldig?" ist eine monumentale, fast fünf Stunden lange Erzählung über die Nürnberger Prozesse und ihre Folgen. Die Fragen, die diesen Film durchziehen, erscheinen einfach und sind dabei extrem komplex: Wie ist es möglich, das Verhalten einer Nation oder eines Individuums zu beurteilen? Ist das Urteil einer siegreichen Nation über eine besiegte notwendigerweise heuchlerisch? Ophüls beleuchtet die Nürnberger Prozesse im Licht der Kriegsverbrechen, die auch von den Alliierten in Algerien und Vietnam begangen wurden und die Bombardierung Dresdens miteinschließen. Er selbst hat seinen Film eine "filmische Wahrheitssuche nach den Wurzeln des Totalitarismus" genannt.
Diesen Film heute noch einmal zu sehen, ist absolut erstaunlich. Nach den ersten Szenen, in denen sich zunächst die NS-Größen in Nürnberg allesamt als "nicht schuldig" erklären, sagt der jüdische Geiger Yehudi Menuhin 1973 in Berlin: "Wissen Sie, ich gehe von der Annahme aus, dass jeder Mensch in gewisser Weise schuldig ist. Ich meine bis zu einem gewissen Grad, entweder durch Mitwissen oder Mitwirken. Dass es hier geschehen konnte, bedeutet nicht, dass es nicht auch in Amerika geschehen könnte, oder sonst irgendwo.“
Alle kommen zu Wort
Das setzt die Prämisse. In dem Film reist Ophüls in die niedersächsische Provinz, spürt KZ-Ärztinnen und Lagerkommandanten nach, befragt Dorfbewohner, trifft Nazis beim Angeln, die bedauern, dass Hitler sein Werk nicht vollendet hat. Zwischen Filmausschnitten von nackten, von Napalm verbrannten Kindern und aus alten Wochenschauen mit erschütternden Bildern der Befreiung von KZs interviewt er Westdeutsche in einer Sauna, was natürlich an die Gaskammern denken lässt. Sie sagen: "Hier, so nackt, sind doch alle gleich, ob Deutsche oder Juden" – als ob es keine deutschen Juden gäbe.
Es kommen alle damals noch lebenden Zeitzeugen zu Wort: die von Goebbels faszinierten Chefankläger und psychologischen Gutachter, Beate und Serge Klarsfeld, die Klaus Barbie, den "Schlächter von Lyon" jagten, die Berliner Mutter von Beate, die sich schämt, dass ihre Tochter den Alt-Nazi und Bundeskanzler Georg Kiesinger geohrfeigt hat.
Ophüls interviewt ultrakonservative Witwen oder aktivistische Eltern von in Vietnam-Gefallenen, Deserteure, kommunistischen Resistance-Kämpferinnen, Fremdenlegionäre, die von grauenhaften Kriegsverbrechen in Algerien erzählen. Er unterhält sich mit Angeklagten wie dem senilen Marinekommandeur Karl Dönitz, der nach Hitlers Selbstmord kurzzeitig dessen Nachfolger war, dem 1973 bereits "rehabilitierten" Nazi-Architekten und Rüstungsminister Albert Speer, den Verteidiger von Krupp, Thyssen und anderen deutschen Industriellen der Rüstungsindustrie, die tausende von KZ-Insassen zur Zwangsarbeit einsetzten, die Nazis finanzierten und von ihnen profitierten.
Schier unlösbare historische Gewalt
Die Gespräche mit dem "geläuterten" Speer, den aalglatten Verteidigern, die selbst in Spitzenpositionen der deutschen Wirtschaft saßen, die freundlichen, kultivierten Plaudereien über Nazis, die nahtlos wieder in die Elite, die Industrie, die Institutionen einzogen, sind schockierend, gerade, weil sie so an den diskreten Charme der Bourgeoisie von heute erinnern. Man kann "Nicht schuldig?" kaum ansehen, ohne immer wieder in Tränen auszubrechen, angesichts dieser schier unlösbaren historischen Gewalt und menschlichen Härte, die auch die Opfer, wie eine deutsche Hausfrau auf einer Aussichtsplattform an der Berliner Mauer auszeichnet, die zugibt, als Jugendliche von Russen vergewaltigt worden zu sein und hinzufügt: "So schlimm war das auch nicht."
Solch ein mäanderndes, extrem schonungsloses filmisches Essay wie "Nicht schuldig?" würde heute gar nicht mehr gedreht, gälte als nicht zumutbar. Doch damals in den späten 1970ern, als die RAF die Bonner Republik erschütterte, der "Deutsche Herbst" anbrach, die US- Serie "Holocaust" im Fernsehen und Fassbinders "Die Ehe der Maria Braun" im Kino liefen war das zumutbar. Es war zumutbar , genauso wie die Filme von Harun Farocki und Alexander Kluge oder Hans-Jürgen Syberbergs fünfstündiger, nur aus einem einzigen Interview bestehender Film "Winifred Wagner und die Geschichte des Hauses Wahnfried 1914–1975" (1975) und der umstrittene "Hitler, ein Film aus Deutschland" (1977).
In den 1970er- und 1980er- Jahren wurde die belastete deutsche Vergangenheit so experimentell aufgearbeitet wie nie. Und gerade jetzt, angesichts der aufgeheizten Debatten um Genozid, Rassismus und Antisemitismus, den sich immer wieder aufdrängenden Vergleichen mit dem Faschismus lohnt es sich, noch einmal auf diese Ära zu blicken und Werke wie Klaus Theweleits Buch "Männerphantasien" (1979), eine Analyse des faschistischen, soldatischen Körpers zu lesen.
Luc Tuymans, Edith Clever, Hans-Jürgen Syberberg in der Akademie der Künste
An diese Tradition knüpft auch die an diesem Wochenende endende Ausstellung "Luc Tuymans – Edith Clever" in der Berliner Akademie der Künste (AdK) an. Seit seinen Anfängen in den 1980er-Jahren beschäftigt sich der belgische Maler Tuymans mit der Geschichte des Kolonialismus Nazizeit und dem Holocaust. Er entwickelt eine radikal reduzierte, visuellen Sprache, bricht Archivmaterial für seine Gemälde bis aufs Skelett herunter, um es durch die Malerei zu befragen. So schafft er Bilder, die gleichermaßen undeutlich, faktisch und hart sind, wie der schwarze Müllbeutel in der CT-Röhre, der auf meinem Telefon aufleuchtete.
Interessanterweise reflektiert Tuymanns historische Gewalt an einem Ort, dessen Geschichte zeigt, wer Speer wirklich war. 1937 musste die AdK ausziehen und Speer zog mit seinen Modellen an den Pariser Platz, um hier die Nazihauptstadt Germania zu planen. Zwei zentrale Gemälde in der sparsam, fast meditativ gehängten Ausstellung, die sich mit der Beziehung zwischen Malerei und Theater, mit dem traumatischen Vermächtnis der deutschen Geschichte beschäftigt, sind das verschattete Gemälde "Himmler" (1998) und "Der Architekt" (1999).
Diese Arbeit greift einen Super-8-Film auf, der auch in "Nicht Schuldig?" zu sehen ist. Der Film entstand einen Tag, nachdem Speer ein Telegramm an Himmler schickte, das später beweisen sollte, das Speer von der Ermordung von Juden in den KZs gewusst hatte. An Diesem Tag wurde der heitere Speer beim Ski gefilmt – und fiel. Tuymans machte aus einem Still des Films ein fast abstraktes Bild dieses sinnbildlichen Sturzes.
Es war Tuymans, der Edith Clever einlud, die in den 1970er-Jahren mit dem Ensemble der Berliner Schaubühne zu einer der wichtigsten Protagonistinnen eines erneuerten deutschen Theaters wurde und in den 1980ern kongenial mit Syberberg zusammenarbeitete. Ihr Gesicht ist gleich zu Anfang der Ausstellung auf einem filmischen Porträt, das an Warhols Screen-Test erinnert, überlebensgroß zu sehen. Es ist das Gesicht der inzwischen 82-Jährigen, die knallhart performt, aber dabei eine unglaubliche Verletzlichkeit erzeugt.
In der Ausstellung erscheint sie dann jünger, in Syberbergs "Die Nacht" (1985) – dieser Tour de Force, die ihren Ruf als größte deutsche Schauspielerin der Gegenwart mitbegründet. Ein sechsstündiger Monolog, eine Montage aus Texten von Platon, Goethe, Hölderlin, Kleist, Beckett, Syberbergs Erinnerungen – eine Meditation über Sehnsucht, Tod, Untergang.
Clever, die am kommenden Sonntag um 12 Uhr in der AdK eine eigens für die Ausstellung und sie realisierte Textmontage von Botho Strauß lesen wird, steht ähnlich wie auch Tuymans für eine distanziert, sehr formale Aufarbeitung deutscher Geschichte. Das wird auch in den Syberberg-Filmen "Penthesilea" (1987/88) und "Marquise von O" (1989) deutlich, die am ganzen letzten Ausstellungstag im Loop laufen.
Postmoderne Auseinandersetzung mit Medienbildern
Die Kühle, fast Chirurgische dieser Ausstellung, die postmoderne Auseinandersetzung mit Medienbildern, Geschlechterrollen und Gesten, erinnert daran, wie notwendig dieser Abstand einst war. Diese sehr rationale kontrollierte Distanz zeugt aber auch von einer Zeit, in der die Perspektive in der Kunst, der gesamten Kultur noch viel weißer und eurozentrischer war.
In "Nicht Schuldig?" werden auch die Psychologen Margarete und Alexander Mitscherlich interviewt, die 1967 "Die Unfähigkeit zu trauern" schrieben, ein bahnbrechendes Werk, in dem die Abwehrhaltung des Einzelnen und der Masse gegenüber Schuld und Mitschuld an politischen Verbrechen untersucht wird. Die Unfähigkeit zu trauern gilt dabei den verschütteten Emotionen der Deutschen. Aber vor allem der unbewältigten Trauer um den Führer, die zur Verdrängung von Schuld führt. Margarete Mitscherlich, eine Feministin, die als progressiv gilt, sitzt in der Dokumentation in einem modernen Sessel, als es um den Genozid an indigene Stämme Nordamerikas geht. Ganz selbstverständlich und unwidersprochen weigert sich Mitscherlich diesen Genozid mit dem Holocaust in Verbindung zu bringen – mit dem Argument, es habe sich anders, als bei den in Europa assimilierten Juden um "fremde Völker" mit einer "feindseliger Haltung" gehandelt.
Da ist eine große Härte, eine Unfähigkeit zum Mitgefühl, zur Trauer um "Fremde" zu spüren, die mit dem Unwillen zusammenhängt, die eigene Geschichtsschreibung aufzugeben, zu den viel tiefer liegenden Traumata der Kolonialisierung vorzudringen. Die Folgen dieser Unfähigkeit, sehen wir heute. Vielleicht wäre jetzt eine gute Zeit, nicht nur Haltung zu beweisen, Wut und Widerstand zu zeigen, sondern so richtig die Fassung zu verlieren, die Kontrolle aufzugeben, weinen, um die 1200 Opfer der Hamas genauso wie die über 15.000 Opfer des Krieges in Gaza, die unzähligen getöteten Kinder. Es wäre vielleicht ein Anfang in dieser aussichtslosen Situation, die Fähigkeit zu Trauern.