Zwischen den 1960er- und 80er-Jahren schrieb der britische Kinderbuchautor Roald Dahl seine bekanntesten Geschichten – und prägte mit seiner merkwürdig-makaberen Fantasiewelt Generationen von Leserinnen und Lesern. Es waren Jahrzehnte, in denen Konzepte der Kindheit und das Recht auf gewaltfreie Erziehung verhandelt wurden, während Praktiken der 1930er hinter verschlossenen Türen fortlebten (erst 1973 wurde die Prügelstrafe an deutschen Schulen abgeschafft, in Großbritannien 1986).
Nun hat der Regisseur Wes Anderson, beauftragt vom Streaminganbieter Netflix, vier Kurzgeschichten Dahls mitten ins Hier und Jetzt unserer Wohnzimmer zurückgeholt. Eine gute Idee? Schließlich passiert dies im selben Jahr, in dem Dahl ins Visier hitzig geführter Zensurdebatten geraten war. Anfang 2023 hatte der britische Puffin Verlag einige seiner Kinderbuchklassiker in Hinblick auf verletzende Stereotype überarbeitet und neu herausgebracht. Wes Anderson indessen war im Sommer dieses Jahres durch eine Welle KI-generierter Plagiate quasi seiner Bildwelt enteignet worden.
Die Puppenhaus-Ästhetik des Regisseurs hatte sich als gefundenes Fressen für Bildgeneratoren wie Midjourney erwiesen, die nun das wunderbar "Anderson-eske" auf Knopfdruck ausspucken konnten. Einerseits schien also die Künstliche Intelligenz das Faible für Diorama-hafte Räume – und die darin wie für Modeshootings posierenden kindlichen Genies, kindsköpfigen Nerds und gescheiterten Vaterfiguren – als leeres Ornament zu entlarven. Andererseits befeuerte die Überarbeitung Dahls (in Hinblick auf Beschreibungen von Körpern, race und Geschlecht) den Streit darüber, ob unsere Kultur mit nichts mehr zu leben bereit sein sollte außer ihren eigenen zeitgemäßen Hervorbringungen.
Erzählmaschine auf Hochleistung
Abgesehen von Klassikern wie "Charlie und die Schokoladenfabrik" sind aber tatsächlich viele von Dahls Kurzgeschichten irritierende Lektionen zu toxischer Maskulinität und Klassenunterschieden – und damit (leider) um keinen Tag gealtert. In den von Anderson ausgewählten Erzählungen geht es um die verblendete Gewinnsucht der Upper Class, den kleinen Mann, der sich produzieren muss, und um Bullies, deren entgrenzter Sadismus tragisch-poetische Formen annimmt.
Dabei inszeniert Wes Anderson Dahls Texte mit dem für seine Filme typischen auktorialen Erzähler. Der hier umso mehr Sinn ergibt, als er die literarische Vorlage völlig intakt und ungetrübt glänzen lässt. Schien Andersons Erzählmaschinerie, die er in Filmen wie "The Royal Tenenbaums", "Moonrise Kingdom" und "Grand Budapest Hotel" perfektionierte, zuletzt in "Asteriod City" stotternd zum Erliegen zu kommen (wie der im Wüstenstädtchen strandende Oldtimer-Ford), so kommt sie in seinen kurzen Dahl-Vignetten fabelhaft in Schwung.
Analog zu den straffgezurrten Spannungsbögen des Autors spulen sich die mitunter nur 15-minütigen Kurzfilme wie am Schnürchen ab: Selbst, wenn sich die Erzählgeschwindigkeit (wie in "Gift") zu einem druckvollen Wettlauf gegen die Zeit beschleunigt, treibt uns ein geschmeidiger Vortrag voran, während Kulissen kaleidoskopisch durchs Bild rollen. Aufbau und Kollaps der wechselnden Illusionsräume, die von emsigen Bühnenarbeitern mit anachronistischen Mitteln bewerkstelligt werden, erwecken amüsiertes Staunen. Dabei fiebern wir dem Ausgang riskanter Wetten, kurioser Kunststücke oder erzwungener Mutproben entgegen, auf die sich Dahls unverbesserliche Männerwelt immer wieder einlässt (wir als Zuschauende einbezogen).
Spielerischer Ernst statt Immersion
Statt uns ins Delirium virtueller Realität zu katapultieren, reicht Anderson ein gut getarnter Holzwürfel, um seinen erleuchteten Yogi in "Ich sehe was, was du nicht siehst" zum Schweben zu bringen. Diese Absage an digitale Technologien ist nicht zuletzt deshalb so erfrischend, weil sie uns zu einer Zeit erreicht, in der eine Überdosis pseudo-realer Welt auf den Kanälen des Social-Media-Reality-TV um unsere Affekte buhlt (und dabei doch nur Produkte platzieren will).
Die Werke Wes Andersons indessen verhindern Immersion schon allein dadurch, dass der Filmemacher seit jeher kein konventionelles Identifikationskino betreibt. Stets treten seine Geschichten hinter ihrer Aufführung und den einzelnen stilistischen Elementen ihrer Darstellung zurück. Selten werden wir ganz von der Handlung absorbiert. Auf diese Weise entsteht ein wohlbemessener Abstand, der kinematographischen Genuss, spielerischen Ernst und kritische Distanz erlaubt.
So dürfen Andersons erzählerische Wendungen mal einer kindlich-idealistischen Wunschwirklichkeit folgen, mal den Regeln einer korrumpierbaren und tendenziell moralisch schwächelnden Erwachsenenwelt. So auch in seinen Dahl-Stücken: In "Der Schwan" erliegt der misshandelte kleine Held nicht (wie es plausibel wäre) den Gewehrschüssen seiner hirnverbrannten Peiniger, sondern flattert heim in die Arme seiner Mutter.
Kindlicher Idealismus und erwachsene Hypochonder
Die nächtliche Rettungsaktion des Kurzfilms "Gift" endet hingegen damit, dass ihr Protagonist – ein hypochondrischer weißer Mann in teuren Pyjamas – seinen unnötig herbeizitierten Rettern bei der geringsten Kritik rassistische Beleidigungen ins Gesicht speit.
Ob freiwillig oder unfreiwillig – kreative Verschränkungen wie "Midjourney x Anderson" und "Anderson x Dahl" zeigen, dass jede Adaption einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf ihr Original hat. So retten Andersons feinfühlige Dahl-Verfilmungen einen umstrittenen Autor in einem für dessen Werk kritischen Jahr – und erinnern uns gleichzeitig daran, wie leicht es passieren kann, über der von Midjourney generierten Flut sinnentleerter Anderson-Plagiate die Seele seiner Kunst zu vergessen.
Dessen Puppenhaus-Stil nämlich ist nicht Selbstzweck, sondern Schutzraum: Für kindliche Formen der Weltbewältigung und eine überkommene Kunst des Erzählens. Beides ist zeitloser, als wir es uns vielleicht eingestehen wollen.