100 Jahre "Futuristisches Manifest": Zurück in die Zukunft

 Vor 100 Jahren läutet F. T. Marinettis „Futuristisches Manifest“ die Avantgarde ein. Die Futuristen wollen die Museen überschwemmen, feiern das Tempo und den Krieg. Was ist von der radikalsten Kunstbewegung des 20. Jahrhunderts geblieben?

Die Avantgarde beginnt mit einem Unfall. An einem Junitag des Jahres 1908 kommt der italienische Diplomatensohn und Dichter Filippo Tommaso Marinetti mit seinem Wagen von der Straße ab, überschlägt sich und landet in einem Graben voller Wasser. Marinetti droht zu ersticken, nur knapp entkommt er dem Tod. Marinettis Gegner werden später läs­tern, er sei zu stark auf den Kopf gefallen. Tatsache ist, dass der Unfall Folgen hat: Acht Monate später, am 20. Februar 1909, veröffentlicht F. T. Marinetti in der Pariser Zeitung „Le Figaro“ das „Futuristische Manifest“. Die erste künstlerische Avantgarde des 20. Jahrhunderts ist geboren.

Durch den Unfall, so Marinetti, sei ihm klar geworden, dass die Künste zum direkten Handeln übergehen müssten. So ist
der Futurismus weniger ein ästhetisches Programm als eine revolutionäre Bewegung, Marinettis Manifest eine wütende, pathosschwangere Kampfschrift, die den bedingungslosen Anbruch der Moderne verkündet. „Ein aufheulendes, wie ein Geschoss davonjagendes Automobil ist schöner als die Nike von Samothrake“, schreibt Marinetti. Der Glorifizierung des Fortschritts steht eine systematische Denunziation des Antiken, Romantischen, Langsamen gegenüber.
„Eine Bewegung nach der Zukunft selber zu benennen ist ja an sich schon eine aufregende Kühnheit“, sagt der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler im Gespräch mit Monopol. „Auch die Tatsache, dass das Manifest in einer Zeitung publiziert wird, ist bedeutsam. Marinettis Held ist der kleine Mann, die Massen sollen erreicht werden.“ Dabei geht es um nicht weniger als eine radikale Neubestimmung der menschlichen Existenz, die sich nicht mehr im Gegensatz, sondern im Verbund mit den Maschinen, dem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt formieren soll.
Die Futuristen feiern die Geschwindigkeit und verherrlichen den Krieg als „einzige Hygiene der Welt“, ihr totalitäres Programm umfasst alle Bereiche des Lebens: die Künste, Mode, Grafik, Architektur, ja Umgangsformen, Essen und Sexualität.
„Die Kunst rüstet sich auf, macht mobil, schlägt sich auf die Seite der Kriegstechnologie und führt sie als eigene Rüstung mit sich“, sagt Friedrich Kittler. In Marinettis Worten: „Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein. Die Dichtung muss aufgefasst werden als ein heftiger Angriff auf die unbekannten Kräfte, um sie zu zwingen, sich vor dem Menschen zu beugen.“ Marinettis stählerner Herrscher über Raum und Zeit ist ein direkter Nachfahre von Nietzsches Übermenschen.
Was ist heute, nachdem das Konzept der Avantgarde als autoritäres Fortschrittsmodell verabschiedet wurde, vom Futurismus geblieben? „Für mich ist der Futurismus die wichtigste Avantgardebewegung des 20. Jahrhunderts“, meint der Kunsthistoriker Veit Loers. „Die Futuristen haben den Kubismus beeinflusst, den Expressionismus und vor allem den russischen Konstruktivismus. Heute ist eine solche Avantgarde natürlich nicht mehr möglich. Bei jüngeren Künstlern sehe ich eher einen Bezug auf das Formenrepertoire des Futurismus.“
Dass die Moderne dabei im schlimmsten Fall zur elitären ästhetischen Spielwiese verkommt, zu der ausschließlich Experten Zutritt haben, konnte man auf der vergangenen Berlin-Biennale sehen. Zahlreiche Künstler bezogen sich dort beflissen bis borniert auf die Moderne, klopften sie auf kuriose Nichtigkeiten ab oder kritisierten ihren naiven Fortschrittsglauben. Bissige, verquere oder großspurige Stellungnahmen zur Gegenwart suchte man hingegen vergeblich.
Roger M. Buergel traf einen guten Punkt, als er zur vergangenen Documenta die Leitfrage formulierte, ob die Moderne unsere Antike sei. Marinetti wäre diese Vorstellung ein Graus gewesen, ebenso die Tatsache, dass seine Bewegung – wie zu seiner Zeit die Antike – heute andächtig in Museen präsentiert wird. Man möge die Welt „vom Krebs­geschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien ... Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken! Leitet den Lauf der Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen!“ wetterte er gegen den Würgegriff des Historismus.
Und auch das: „Wenn wir 40 sind, mögen andere, jüngere und tüchtigere Männer uns wie nutzlose Manuskripte in den Papierkorb werfen. Wir wünschen es so!“


Sebastian Frenzel

Ausstellungen zum Futurismus: Mart, Rovereto,
bis 7. Juni. Museo Correr, Venedig, 5. Juni bis 4. Ok­tober. Tate Modern, London, 12. Juni bis 20. Sep­tember. Palazzo Reale, Mailand, 15. Oktober
bis 25. Januar 2010