Emma Enderby, es ist noch gar nicht so lange her, dass wir Ihren Wechsel aus New York ans Haus der Kunst gemeldet haben. Nun gehen Sie zum Frühjahr 2024 als Direktorin ans KW – Institute for Contemporary Art in Berlin. Hat Sie München enttäuscht, oder sind die KW so unwiderstehlich?
Es ist eine bittersüße Situation, denn ich habe meine Zeit hier geliebt, und die Arbeit mit Andrea Lissoni seit den letzten zwei Jahren ist mehr als ein Traum. Ich habe auch das Leben im Süden wirklich lieben gelernt. Ich war gerade zum ersten Mal auf dem Oktoberfest. Aber solche Angebote kommen nun mal, wann sie kommen, und es war eine zu große Chance für mich und meine Familie, in Berlin zu sein und meine Vision und Erfahrung in eine Institution zu bringen. Ich wünschte manchmal, ich könnte mich teilen und zwei Leben leben, aber wir haben nur eines. Also treffen wir Entscheidungen.
Verbinden Sie eine bestimmte Erinnerung mit den KW?
Das ist schwierig, weil sie so viele tolle Ausstellungen gemacht machen. Ich denke oft an die unglaubliche Beatriz-González-Ausstellung von 2018. Die hat gezeigt, dass das KW auch ein Raum sein kann, der den Kanon überdenkt und Künstlerinnen und Künstler einbringt, die übersehen wurden. Vielleicht kann sogar eine Art alternatives oder neues Verständnis von mehreren parallelen Zeiten entstehen, im Gegensatz zu einer narrativen, linearen Struktur durch die Geschichte hindurch. Diese Idee war auch für mich während meiner Karriere wichtig.
Sie haben 2021 die Ausstellung "Berl Berl" von Jakob Kudsk Steensen für die LAS Foundation kuratiert, die die Halle am Berghain in einen KI-generierten Sumpf verwandelt hat. Sie haben also im Epizentrum des Berliner Kultur-Mythos gearbeitet. Trägt die Stadt ihren Titel als Kunstmetropole noch zu Recht oder zehrt sie eher aus der Vergangenheit?
Der Ruf ist immer noch zu 100 Prozent gerechtfertigt. Orte verändern sich und werden noch pluraler. Man kann sich in Städten immer an bestimmte Momente erinnern, das ist auch in New York, London oder Paris so. Aber ich würde nicht sagen, dass Berlin jetzt weniger interessant ist als früher. Man sieht, wie verschiedene Arten des Schaffens und der Zusammenarbeit in die Stadt gebracht werden. Die Dynamik und der Fluss eines Ortes, wer kommt und wer geht, ist auch Teil des Ganzen. Es gibt so viele Künstlerinnen und Künstler, die vielleicht gar nicht mehr hier leben, aber Berlin hat sie so geprägt, dass die Stadt mit ihrem Leben, ihrer Art zu arbeiten und zu denken verbunden ist. Das ist definitiv etwas, das ich in meinem Programm erforschen möchte: Es geht nicht nur um das Berlin der Gegenwart, sondern auch um das Berlin der Vergangenheit und der Zukunft, und darum, wie es erstaunlichen Einfluss auf so viele Kreativer hatte, die hier gelebt oder geliebt haben. Es ist dynamisch und wird es auch weiterhin sein.
Sie haben im The Shed in New York gearbeitet, das Teil eines riesigen Immobilienprojekts rund um die High Line in West-Manhatten ist. Die KW dagegen sind Überbleibsel einer alternativen Kunstszene nach dem Mauerfall. Welche Bedeutung haben diese Hintergründe für Sie?
Herkunftsgeschichten sind immer wichtig. Und dann geht es auch darum, wie sich diese Geschichten entwickeln. Was ist das Schöne, was ist die Enttäuschung, was sind all diese Dinge, die mit unseren eigenen Geschichten und denen der Institutionen verknüpft sind? Mit am interessantesten an den KW ist, dass der Ort zu einem schönen und hoffnungsvollen Moment in der Geschichte Berlins gehört. Es gibt eine Art von Freude, die man immer noch spürt.
Andererseits kommen immer mehr Institutionen mit viel Geld in die Stadt, zuletzt das private Fotozentrum Fotografiska, das nun das ehemalige Tacheles ganz in der Nähe der KW bespielt. Können Sie verstehen, dass es in der Kunstszene Angst vor Verdrängung gibt?
Natürlich. Aber ich denke auch, dass eine Stadt diese verschiedenen Polaritäten in sich vereinen kann. Das Einzigartige an The Shed in New York ist, dass es zwar aus einem Immobilien-Entwicklungsgebiet entstanden ist, aber auf städtischem Grund und Boden steht und damit im Besitz der Stadt bleibt. Ein großer Teil des Programms bestand darin, in lokale Gemeinschaften zu investieren. Und die Initiative für civic justice war eine der brillantesten der Stadt. Ich würde nicht sagen, dass eine solche Einrichtung anderen Institutionen den Rang abläuft und ich hoffe, dass es auch in Berlin nicht so kommt. Kulturorte können sich gegenseitig eigentlich nur fördern. Und wenn große neuen Institutionen hinzukommen, können sie auch diejenigen unterstützen, die schon sehr lange in der Gegend arbeiten. Wenn einige Teile der Stadt Erfolg haben, sollten auch andere daran teilhaben.
Greift diese Unterscheidung zwischen "Mainstream" und Subkultur überhaupt noch, wenn es darum geht, gute Kunst zu sehen?
Gute Frage. Ich würde sagen, dass diese Unterscheidungen immer unscharf waren und sind. Dennoch halten sie bis heute an, jedoch äußern sie sich vielleicht auf anderen Wegen oder in anderen Räumen. Man kann auf verschiedene Art darüber nachdenken, wie man es Künstlerinnen und "Machern" ermöglichen kann, in einer Stadt zu funktionieren und zu leben. Dann gewinnen alle.
New York hat das MoMA, Paris den Louvre, London die Tate Modern. Berlin hat dagegen nicht das eine Museum, in dem jeder gewesen sein muss. Ist das ein Mangel oder ein Vorteil für kleinere Institutionen?
Das ist das Schöne an Berlin. Man hat all diese Institutionen, die auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Gemeinschaften arbeiten. Sie überschneiden sich und sind miteinander verbunden, einige lokal, einige global. Man muss auch nicht unbedingt in die U-Bahn steigen, um ein Museum zu besuchen. Es gibt immer etwas in der Nachbarschaft, was für Offenheit und vielleicht auch weniger Konkurrenz sorgt. Ich glaube, dass sich Städte wie London und New York tatsächlich auch in diese Richtung bewegen und unterschiedlichste Institutionen und zivilgesellschaftliche Initiativenauftauchen, die ein anderes Publikum ansprechen. Diese riesigen Museen sind wichtig, aber vielleicht verbinden sie sich nicht auf dieselbe Weise mit verschiedenen Gemeinschaften. Ich denke also, dass Dezentralisierung einen Wandel ermöglicht, und ich sehe diesen Wandel auch anderswo.
Was kann man an den KW besser machen?
Ich glaube nicht, dass man etwas besser machen muss. Der Direktor Krist Gruijthuijsen und Gabriele Horn, die die Berlin Biennale leitet, haben so eine wichtige Grundlage für diese Institution geschaffen und führen das Erbe fort, das ihre Vorgänger hinterlassen haben. Darauf gilt es aufzubauen. Für mich geht es darum, wie eine Institution auf die Bedürfnisse von Künstlerinne und Künstlern reagieren kann, wenn diese ihre Arbeitsweise ändern. Die Personen, mit denen ich im Dialog stehe und mit denen ich gern zusammenarbeiten möchte, arbeiten heute oft in transdisziplinären Bereichen. Es geht auch um die Kooperation mit Positionen außerhalb der Kunstszene, seien es Aktivistinnen oder Akademiker aus anderen Disziplinen. Wenn Künstlerinnen und Künstler das in ihrer Praxis tun, möchte ich auch innerhalb der Institution Raum dafür schaffen. In Berlin wäre das großartig, weil es so viele Partner gibt, die man auch außerhalb der Kunstwelt einbeziehen kann.
Können Sie schon etwas spezifischer werden?
Ich habe ja noch nicht angefangen, deshalb kann ich nicht zu konkret werden. Aber es interessiert mich, die Realität und die Probleme unserer Zeit in das Programm einzubinden. Als Kunstinstitutionen haben wir das Privileg, das frei tun zu können. Wir können mit Klimaforscherinnen, Wirtschaftswissenschaftlern, Soziologen oder Architekten zusammenarbeiten. Wir können sie mit Künstlerinnen und Künstlern zusammenbringen und zeigen, dass es einen vernetzten Ansatz geben muss, um über unsere Realität nachzudenken. Ich hoffe, dass dies auch die KW öffnet und dadurch ein neues Publikum erreicht.
Sie sind gerade noch in München, und auch die bayerischen Landtagswahlen haben gezeigt, dass es eine Verschiebung nach rechts gibt. Deutschen Kulturinstitutionen wird gern vorgeworfen, dass konservative Stimmen keinen Platz haben und Vielstimmigkeit immer die gleichen linken Positionen beinhalten würden. Wie stehen Sie dazu?
Das ist nicht nur in Deutschland so, das passiert an vielen Orten der Welt. Und es war immer eine Frage in allen Kunstinstitutionen, in denen ich gearbeitet habe: Wie machen wir das? Neigen wir tatsächlich dazu, immer mit demselben Publikum zu sprechen, mit Gleichgesinnten? Und wie öffnet man sich, ohne Leuten eine Plattform zu geben, deren Positionen wir für schädlich halten? Das ist die Balance, die man finden muss.
Wie?
Wenn man über Themen spricht, die sich auf eine breite Öffentlichkeit auswirken, kann man Wege finden, nicht nur eine Art des Denkens darüber zu zeigen, sondern eine plurale Herangehensweise. Das ist es, was ich mir erhoffe. Außerdem würde ich gern diese Verschiebung im Denken darüber erforschen, wer ein Deutscher oder eine Deutsche ist. Wer ist Teil eines Ortes, wer gehört dazu? Berlin bietet die Chance, dass es seit langer Zeit ein sehr offenes und fließendes Verständnis davon gibt, was eine verwurzelte Lokalität ist. Man kann diese Verankerung auch teilen: Ja, etwas kann in Berlin verwurzelt sein und durch diesen spezifischen Ort verstanden werden. Aber gleichzeitig ist es auch global. Damit denkt man über Themen nach, die über seinen spezifischen Bereich hinausgehen.
Wie sind Sie eigentlich zum Kuratieren gekommen?
Ich hatte lange keine Ahnung, was Kuratieren eigentlich ist, weil meine Familie aus einem ganz anderen Bereich kommt. Mein Vater war Physiker. Ich habe zunächst alte und antike Geschichte studiert. Aber dann wurde mir klar, dass das, was wir als visuelle Form schaffen, so viel über uns aussagt. Es verrät uns, wer wir sind und wie wir uns verstehen können. Da habe ich angefangen, mich mit Kunstgeschichte zu beschäftigen und mich auch für die Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern interessiert. So fing es an. Es war nicht so, dass ich dachte: Oh, ich will Kuratorin werden - ich wurde es durch die Arbeit mit Künstlerinnen und Künstlern. Wenn man die Wurzel des Wortes anschaut, geht es darum, sich um Objekte zu kümmern. Aber ich begann, mich mehr um die Menschen zu kümmern: die Menschen, die die Objekte herstellen, und die, die Kunst erleben und die Welt durch diese Objekte und Begegnungen verstehen lernen.
Erinnern Sie sich an die erste Ausstellung, die Sie kuratiert haben?
Nicht wirklich, weil ich so viel mit anderen zusammengearbeitet habe. Aber ich erinnere mich, wie ich bei der ersten New Yorker Einzelausstellung von Ryan Trecartin 2007 am Empfangstresen in der Galerie Elizabeth Dee saß und acht Stunden am Tag dieser Videoarbeit ausgesetzt war. Die Kunst und die Gespräche mit Ryan haben eine ganz neue Welt für mich geöffnet. Damals war gerade das erste iPhone auf den Markt gekommen, und es bildeten sich Internetforen mit ganz eigener Kultur aus. Ich habe durch die Kunst angefangen zu verstehen, welche Entwicklung da auf uns zukommt. Das war ein gutes Beispiel dafür, wie ein Werk eine neue Realität vermitteln kann.
Das KW ist auch für lange Nächte in der Pogo Bar bekannt. Sind Sie auch für Kunst-Partys zu haben?
Auf jeden Fall! Ist nicht die Frage nach der Aftershow-Party eigentlich immer die erste Frage des Abends?