Der Marx hängt schon im Frühstücksraum. Sein apfelgrün stilisiertes Konterfei hat es zwischen die anderen Aushängeschilder der Stadt geschafft, die hier in den Signature-Farben unseres Chemnitzer Hotels von der Wand strahlen. Einige Minuten Luftlinie entfernt befindet sich die echte Abbildung; jene gigantische Büste von Karl Marx, der zu DDR-Zeiten zwischenzeitlich Namensgeber der ehemals wichtigen Textilindustriestadt wurde.
"Kapital" heißt nun auch eine Ausstellung im hiesigen Museum Gunzenhauser, Teil der Kunstsammlungen Chemnitz. Hier hat das Leipziger Künstlerduo Famed gerade ein Disneyland der Kapitalismuskritik aufgebaut: Mit unter anderem einer Treppe voll Gold, deren Grund aus Glückskeksen immer dieselbe frohe Botschaft bereithält, derweil sie den Weg in die oberen Etage mit ebenjenen affirmativen Slogans wirkungsvoll versperrt. Mit leuchtenden Neon-Schriftzügen, die Heil und Unheil im plakativen Wechsel verkünden, ins Dreidimensionale vervielfachten Mc Donald’s-Bögen, einer Uhr, die stets K-a-p-i-t-a-l-i-s-m-u-s schlägt und einer sagenhaften "Das Kapital"-Hüpfburg, die an anderen Orten der Kunstwelt Zehntausende anziehen müsste.
Hier kann man nun ganz ohne Warteschlangen durch die aufgeklappten Seiten von Karl Marx‘ vielzitierter, wohl von deutlich weniger gelesenen Kritik der politischen Ökonomie springen, laufen oder sich eine Weile zwischen die gummiglatt nachempfundenen Buchdeckel legen. Der laut tosende Blasebalg sorgt dafür, dass der Arbeit während des Ausstellungsbetriebs nicht die Luft ausgeht.
Dem System ein Schnippchen schlagen?
Die gesamte Schau zeigt eine große Spielfreude an den Reliquien unserer warenförmigen Welt und eine ausgeprägte Selbstironie ob des wohl hoffnungslosen Unterfangens, dem System ausgerechnet im Museum ein Schnippchen zu schlagen. Frei nach Jonathan Meeses herzzerreißendem "Ich will sooo, sooo gerne, dass der Kapitalismus aufhört", das er 2007 in einer Folge der Arte-Reihe "Durch die Nacht mit ..." wehklagte. Auf den Seiten der Produktionsfirma wird Meese tatsächlich als "einer der politischsten deutschen Künstler der Gegenwart" bezeichnet.
Und wirkt, fragt meine Begleitung, nicht auch diese Schau hier wieder wie eine Reminiszenz an die 90er, an Labels wie "Indie" womöglich, als man längst wusste, dass dieser Begriff dummer Unfug ist, und ihn trotzdem verwendete? Eine nostalgisch reaktivierte Geste als eine weitere Schleife im Verwertungszyklus. Es gibt natürlich kein Entrinnen.
Auch dem Partizipativen ist zu misstrauen: In der Demo, die das Künstlerduo als Performance aufführen ließ, sind die Parolen so austauschbar wie angeeignet. Von "Wounded Knee" zu allgemeinen Lifestyle-Losungen ist es nur ein Schilderwechsel. Die zugehörige Videodokumentation jener Arbeit überzeugt auch dank ihrer Tongestaltung, die sonst so oft vernachlässigt wird; ein vielschichtiger Stereosound zieht ins absurde Spektakel hinein, um kurz darauf wieder eine Dissonanz zum Gesehenen zu erzeugen.
So glossy, schön und abgrundtief oberflächlich wie Klavierlack
In einem Betrieb, in dem Kritik dem Ideal nach gar nicht mehr von außen kommen soll, sondern am besten jeder Schau schon selbstreflexiv eingeschrieben ist, entwickelt diese präzise an der Oberfläche operierende Kunst auch formal eine bestechende Logik. Denn Kapitalismus findet inzwischen nun wirklich beinahe jeder blöd, links wie rechts, selbst die US-Republikaner mögen den freien Markt nicht mehr so ganz aus vollem Herzen propagieren.
Eine Alternative mag sich derweil umso weniger irgendjemand vorstellen. Famed grätschen genussvoll in die Übersättigung. Nur so, denkt man, ergibt die verkürzte Kapitalismuskritik vielleicht überhaupt irgendeinen Sinn, mindestens künstlerisch. Eine Schau, so glossy, schön und abgrundtief oberflächlich wie Klavierlack. Dazu blättert man vielleicht im Nachgang endlich einmal durch "Kapitalismus Forever" von Wolfgang Pohrt, der "Das Kapital" auch nie gänzlich gelesen hat, aber es womöglich doch besser verstanden als manch andere.