Dafür, dass er seine Mammutperformance noch vor sich hat, hat Joachim Bosse schon ziemliche Ringe unter den Augen. Das kleine Team, die aufwendigen Vorbereitungen, da waren die Nächte kurz. Dafür ist das Setting jetzt recht eindrucksvoll. Auf zwei Wänden einer ehemaligen Industriehalle im Berliner Stadtteil Friedrichshain zucken riesig die Bilder, die man sonst eher in Smartphonegröße sieht. Ein Twitterfeed, Werbung für Solarstrom, Lotto oder großbusige Frauen, die sofort für dich Zeit haben. Irgendwelche Reels von Leuten, die Gewichte stemmen, dazwischen aktuelle News. Der ganze Wahnsinn des Internets.
24 Stunden lang will sich Bosse davon beballern lassen. Und mitschreiben. Große Zettel liegen auf seinem Schreibtisch, darauf will er seine Notizen machen, Ausschnitte und Fetzen festhalten. Kameras nehmen ihn dabei auf, eine Drohne surrt durch den Raum, das Ganze wird live auf Bosses Instagram-Account übertragen.
Am Ende wird Kuratorin Anika Meier aus Bosses Aufzeichnungen eine Art Textcollage an die Wand heften, eine Auswahl aus der Auswahl. Als Ausstellung wird die Gesamtinstallation ein Wochenende lang zu sehen sein. "Diktat" heißt die Aktion; die kurzen Hosen und das lustige Jackett, das Bosse trägt, sollen eine Schuluniform darstellen.
Von der Werbung in die Kunst
Bosses Künstlerkarriere ist bislang noch so kurz wie die Pennälerhosen. Dafür ist er in der Werbebranche eine echte Größe. Noch als Student gründete er gemeinsam mit seinem Kommilitonen Dominic Czaja die Werbeagentur Dojo – dass vor Mustafa’s Gemüse Kebab in Kreuzberg bis heute absurde Schlangen stehen, ist ihr Verdienst. Dojo gilt als eine der radikalsten und innovativsten Player im Werbebusiness – doch Bosse suchte irgendwann noch mehr Freiheit. "In der Werbung kann man heute nur noch kurze Schnipsel machen, keine großen Geschichten mehr erzählen", sagt er. Der Werbespot, der generationsübergreifend die Menschen erreicht, sei Vergangenheit. Was übrig bleibe, sei einfach unterkomplex.
Im vergangenen Jahr zog sich Bosse endgültig aus der Agentur zurück, jetzt ist er Künstler. Allerdings einer, der einige "Learnings" aus der Werbebranche mitgenommen hat. Zum Beispiel hat er ein schickes Logo, das sich jetzt groß an der Wand dreht. Und er würde gern Kunst machen, die breit wirkt, wie Stadionrock.
Sein Internetprojekt ist dafür kein schlechter Start. Es klingt erstmal absurd: Warum sollte man das Internet abschreiben? Doch schon ist die Neugierde geweckt. Und wenn man mit Bosse in seinem apokalyptischen Flimmersetting steht, findet man das Projekt recht bald plausibel. Zum Beispiel wird offensichtlich, dass es "das Internet" gar nicht gibt – es gibt ganz viele. Jeder bekommt einen anderen Feed kuratiert, wird von anderen Anzeigen belästigt. "Ich mache hier ein Porträt des Internets, aber eigentlich ist es auch so eine Art ein Selbstporträt", sagt Bosse. Und gleichzeitig ein Abbild davon, was die Algorithmen von einem heterosexuellen Mann mittleren Alters so erwarten. Adblocker aus, alle Cookies zulassen, und dann: "Einsame Hausfrauen aus deiner Gegend." Deprimierend.
Gewinnen kann er höchstens Erkenntnis
Aber gerade ist Bosse überhaupt nicht deprimiert, sondern aufgeregt, er freut sich, dass es endlich losgeht. In der Hand hält er eine Dose seines Markenpartners Monster Energy: "Red Bull wäre zu elitär gewesen. Ich wollte das, was die Gamer trinken, wenn sie die ganze Nacht durchzocken." Ein Mann inmitten der Datenflut, mit zu viel Koffein und Nikotin im Blut, ein David gegen Goliath. Gewinnen kann er höchstens Erkenntnis – aber das ist kein schlechtes Ziel.
Am nächsten Morgen schalte ich noch mal in Bosses Live-Video ein. Er ist wach, er schreibt etwas auf, irgendwas mit KI. Der Boden der Halle ist mit vollgeschriebenen Zetteln übersät. Er muss noch ein paar Stunden aushalten. Danach wird er wohl ein paar Tage Detox brauchen. Was ist eigentlich schmerzhafter: 24 Stunden das ganze Internet, oder 24 Stunden gar keins? Wir googeln das mal.