Messerscharf, schwarz-weiß, detailversessen: Mit wissenschaftlicher Präzision fotografierten Bernd und Hilla Becher Fachwerkhäuser, Fördertürme, Getreidesilos oder Gasometer und schufen ein visuelles Register des Industriezeitalters. Das Künstlerpaar veränderte den Blick auf unsere Umwelt und archivierte eine Architektur, die oftmals im Verschwinden begriffen war; ihr neusachlicher Blick prägte zugleich eine jüngere Fotografengeneration – zur sogenannten Becherschule werden Fotografen wie Andreas Gursky, Candida Höfer, Thomas Ruff, Thomas Struth und viele andere gezählt. Max Becher ist der Sohn des Künstlerpaares und Verwalter des Becher-Estates, und er hat jetzt eine umfangreiche Ausstellung zum Werk seiner Eltern in der Galerie Sprüth Magers mitorganisiert. Im Gespräch erzählt er von seiner Kindheit in SoHo und dem Aufwachsen unter Künstlern, abenteuerlichen Recherchereisen und der großen Sympathie seiner Eltern: für Industriebauten – und die Menschen, die in ihnen arbeiteten.
Herr Becher, Ihre Eltern haben viel in den deutschen Bergbaugebieten gearbeitet, sind dann aber auch früh in die USA gegangen. Was hat sie dorthin gezogen?
Meine Eltern spürten der historischen Entwicklung der Industrialisierung nach, die in England begann, dann Nordeuropa erreichte und dann über den Ozean hinweg in die USA schwappte. Es ging ihnen darum, Industriebauten zu dokumentieren, die typisch für ihren Entstehungszeitraum und vielfach vom Abriss bedroht waren. Das war ihre Mission, und da war oft auch eine gewisse Eile dahinter, wenn sie wussten, dass ein Bau bald weg sein würde. Mein Vater war schon in den 60ern mal in New York, meine Mutter und ich kamen 1974 in die Stadt. Aber da wurden noch keine Fotos gemacht, das waren eher Besuche und Reisen. Und es ging auch um den Kontakt zur New Yorker Galerie meiner Eltern.
Welche Galerie war das?
Die Sonnabend Gallery. Ileana Sonnabend hat meine Eltern finanziell unterstützt, so dass sie sich ganz auf ihre Arbeit konzentrieren konnten. Das war vorher nicht der Fall, da hatten sie Nebenjobs.
Hat man in den USA schneller verstanden, was Ihre Eltern machen?
Ja, ich würde sagen, in Amerika haben die Leute das früher verstanden. Da war Fotografie generell viel mehr respektiert als hier, wo es noch Ausstellungstitel wie "Fotografie als Kunst" gab. Als ob das nicht Kunst wäre oder sein könnte. In den USA haben gerade die Künstler aus dem Umfeld von Konzeptkunst und Minimal Art sofort erkannt, worum es meinen Eltern geht.
Gab es damals auch schon Käufer für die Arbeiten?
Es gab ab und zu bestimmte Leute, die etwas gekauft haben. Aber insgesamt wurde kaum etwas verkauft, und die Preise waren auch super niedrig. Man kriegte ein Werk für 200 Dollar, was vielleicht auch dazu führte, dass die Leute es nicht so ernst nahmen. Die Preise sind erst in den Achtzigern besser geworden.
Wo in New York haben Sie mit Ihren Eltern gewohnt?
1976 sind wir dauerhaft nach New York gegangen, in eine Loft-Wohnung in SoHo, und ich ging dann auch dort zur Schule. Meine Eltern haben ihre Ausrüstung in die USA gebracht und in unserer Wohnung auch eine Dunkelkammer eingerichtet, von da an konnten sie richtig loslegen mit der Arbeit. Für mich als Kind war das Leben dort toll. Alles war ganz roh und schön runtergekommen und frei, ein bisschen wie in alten Wim-Wenders-Filmen. Es gab jede Menge Ungeziefer in unserem Loft, die Möbel kamen von der Straße, mit Motten drin, aber dafür war es auch egal, wenn mal Farbe auf den Boden tropfte.
SoHo war damals eine Künstleroase. Wie sah der Freundeskreis Ihrer Eltern aus?
Die Künstler haben im Grunde das ganze Viertel vorm Abriss gerettet, in dem sie die alten Lofts bezogen.Es gab Dutzende Galerien, hunderte Künstler. Der Freundeskreis meiner Eltern war groß, Lawrence Weiner, Stephen Shore, Sol Lewitt, Carl Andre, William Wegman, und viele andere mehr gehörten dazu.
Heute weltberühmte Künstler.
Ja, aber für mich hießen die alle nur Sol oder Carl oder Larry. Und ich wusste als Kind auch gar nicht, was die bedeuteten.
Und man sprach die ganze Zeit über Kunst?
Die haben fast nie über Kunst gesprochen, sondern über Film und Wissenschaft oder Politik.
Mit dem New York jener Zeit verbindet man natürlich auch Andy Warhol. Er war als Typ und auch künstlerisch einerseits ganz woanders unterwegs, aber sein popkulturelles Interesse an der materiellen Welt ist dem Ansatz Ihrer Eltern doch nicht ganz unähnlich. Kannten die einander, gab es da Verbindungen?
Andys Szene war sicherlich eine andere, aber es gab auch Überlappungen – schon dadurch, dass Warhol ja mit dem Galeristen Leo Castelli zusammenarbeitete, der mit Ileana Sonnabend verheiratet gewesen war. Deren beide Galerien lagen übereinander im selben Gebäude. Ich weiß nicht, ob meine Eltern Andy so richtig kennengelernt haben, aber sie haben ihn super respektiert. Er hat ja auch schon vor meinen Eltern diese Raster gemacht in seiner Malerei. Und er hat natürlich die gegebene Welt ziemlich respektvoll wieder gegeben, so wie meine Eltern auch. Nur dass er mehr auf die kommerzielle Werbung blickte und meine Eltern auf die Industrie, die dahinter steckte.
Diese Industrie, die Bergbau- und Kohlereviere, lag außerhalb der Metropole New York. Wie haben Ihre Eltern die Orte gefunden, die sie fotografieren wollten?
Von New York aus haben meine Eltern in jener Zeit fünf, sechs große Reisen unternommen. Meine Mutter hatte einen gebrauchten VW Bus gekauft mit ein bisschen Geld, das ihr, glaube ich, Carl Andre gegeben hatte. Hinten rein kamen ich und die Stative und die Kameras, und dann sind wir los. Wassertürme oder Getreidesilos zu fotografieren, war relativ einfach. Die schwierigsten Sachen waren die Stahlwerke, weil die riesig waren und giftig und man eine Erlaubnis haben musste. Oft kamen die Kontakte durch die Kunstwelt, durch Sammler, die Industrielle waren. Vor Ort haben sich meine Eltern dann erstmal umgeschaut nach dem perfekten Standpunkt, nach dem besten Winkel. Nichts durfte die Aufnahme stören, dann musste also auch mal ein Auto umgeparkt werden oder ein Güterzug aus dem Weg. Oder das Licht war falsch, dann kamen sie am nächsten Tag nochmal wieder. Manchmal haben sie an einem Tag fünf Subjekte geschafft, manchmal in einer ganzen Woche nur eines.
Das Ziel war, das Gebäude so detailgenau und facettenreich wie möglich wiederzugeben?
Ja. Es war wie Archäologie in der Gegenwart. Fast alle Industrieanlagen waren noch aktiv, das waren keine Ruinen. Als ob man eine Zeitmaschine hat und ins alte Ägypten geht und da ist alles noch lebendig, man sieht noch, wie das gebaut wurde und funktioniert. Der Detailreichtum auf den großen Negativen meiner Eltern sollte sicherstellen, dass wirklich alles drin ist im Bild, dieser ganze Reichtum des Ingenieurswesen. Damit dieses Wissen für die Zukunft aufgehoben wird, denn bald hat man das ja nicht mehr. Meine Eltern haben diese Objekte empfunden wie Persönlichkeiten. Das sind eigentlich Selfies: wie würde dieses Objekt sich am liebsten selber fotografieren? Und dann sagt man, an der Stelle sieht das am tollsten aus, der Stolz und die Funktion und die Wichtigkeit, das ist alles irgendwie drin. So wird ein schönes Porträt draus.
Wobei die Schönheit in der Funktionalität liegt.
Meistens kommt sie von der Notwendigkeit, ja. Das sind ja schwierige Konstrukte und da geht es um Sicherheit. Und da geht es um Geld, viel Geld. Da kann man nicht viele Fehler machen, die sind alle sehr gut gebaut. Jedes einzelne ist handgemacht von Leuten, die das über Generationen gelernt haben.
Die Bilder Ihrer Eltern sind extrem sachlich – aber spielte dennoch so etwas wie Nostalgie mit hinein?
Eine Leidenschaft, würde ich sagen. Eine Liebe zu dem Subjekt. Mein Vater kommt ja aus dieser Welt. Und meine Mutter hat sich immer für Wissenschaft und Industrie interessiert, vor allem für England und die ganze Industriegeschichte. Und durch den Krieg hatten sie eine raue Welt erlebt, die sie für wahrer hielten als das ganze Bourgeois-Konservative der Kaiserzeit. Das Skelett hat sie mehr interessiert als die Stuckfassade. Sie haben auch gesellschaftliche Hierarchien nicht respektiert, also die Idee, dass es Adelige gibt oder dass reiche Leute irgendwie besser sind. Sie waren immer auf der Seite der Arbeiter und Ingenieure und nicht auf der Seite der Manager oder der Besitzer. Für sie waren die Industriebauten anonyme Skulpturen. Die Skulpturen der echten Leute.
Suchten Ihre Eltern auch den Kontakt zu den Arbeitern?
Sehr viel sogar. In Pennsylvania wollten meine Eltern Minen fotografieren, von denen viele illegal errichtet worden waren, von einfachen Arbeiten, die auf eigene Faust schürften. Gegenüber dem Zimmer, in dem meine Eltern wohnten, gab es eine Arbeiter-Kneipe von den selben Besitzern, viele von den Besuchern waren russischer oder deutscher Abstammung. Mein Vater hat dann manchmal russisch klingende Lieder gesungen, obwohl er überhaupt nicht Russisch konnte. Aber so kam man ins Gespräch, und beim zweiten oder dritten Treffen kriegten sie unter der Hand Tipps, weil sich ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte.
Entwickelte sich auch bei Ihren Eltern eine Goldgräber-Mentalität – auf der Suche nach dem perfekten Bild?
Ja, es war schon abenteuerlich, aber es hat auch Spaß gemacht. Wir konnten damals nie draußen schlafen oder campen, einfach weil es zu gefährlich war. Amerika ist in der Hinsicht ja sehr widersprüchlich: Einerseits kann es ziemlich wild sein, viele Leute haben Gewehre, da sind Bären und verwilderte Hunde und Mafia und ganz normale Diebe und selbst die Polizei war oft korrupt. Auf der anderen Seite sind die Leute unheimlich freundlich. In Amerika sind selbst die Kriminellen freundlich, dadurch waren unsere Reisen, auch wenn es riskant war, irgendwie immer angenehm. In Deutschland war es gerade andersherum. Da war alles sehr gesichert und sehr ordentlich, aber man wurde ständig angeschnauzt.
Wie hat Sie die rigide künstlerische Leidenschaft Ihrer Eltern geprägt?
Für mich war es natürlich ganz normal, sowas zu machen, zumal auch viele Bekannte meiner Eltern künstlerische Sachen gemacht haben. Das Arbeiten hat bei meinen Eltern nie richtig aufgehört. Hilla hat nach dem Abendessen immer noch bis spät gearbeitet, Bernd war schon um fünf Uhr auf und hat Recherchen gemacht. Die haben dauernd gearbeitet, aber hatten auch eine Ruhe dabei. Es war total unstrukturiert. Die Disziplin kam von der Leidenschaft, nicht von irgendeinem System.
Angesichts des Klimawandels sind Fragen der Energieversorgung heute aktueller denn je. Haben sich Ihre Eltern auch für Umweltfragen interessiert? Es fällt ja auf, dass sie zum Beispiel nie Atomkraftwerke fotografiert haben.
Atomkraft haben sie komplett abgelehnt. Weil sie sich mit der Energiewirtschaft so gut auskannten, wussten sie, wieviel bei Atomkraft schief gehen kann. Und dass man den großen Firmen, die dahinter stehen, nicht trauen darf. Sie haben bewusst keine Fotos von Atomkraftwerken gemacht, weil sie absolut dagegen waren.