Eine junge Frau setzt die Schere an den Haaren der Performerin an. Dem gesamten Publikum stockt kurz der Atem. "No Hair!", tönt eine Lautsprecherstimme durch die Neue Nationalgalerie in Berlin. Die gemaßregelte Zuschauerin entscheidet sich stattdessen für den Ärmel und schneidet ein großes Stück aus dem schwarzen Spitzenoverall heraus.
Mitten in der Performance hat die Kleidung am Körper der Performerin bereits klaffende Löcher. Vielleicht weiß die Frau, die auf die Haare abzielt, also einfach nicht mehr, wo sie schneiden soll. Vielleicht hat sie aber auch - und das wäre die kunsthistorische Erklärung - Yoko Onos "Cut Piece“ mit Marina Abramovics "Rythm 0“ verwechselt. Dabei durfte das Publikum der serbischen Performance-Künstlerin 1974 alles antun, was es wollte.
In Berlin geht es zur Art Week 2023 jedoch um ein anderes legendäres Werk der feministischen Kunst, das auch Marina Abramovic beeinflusst hat. Yoko Ono, Pionierin des Fluxus, perfomte das "Cut Piece“ erstmals 1964. Dafür setzte sich die japanisch-US-amerikanische Künstlerin in ihrer besten Kleidung auf eine Bühne und forderte die Betrachterinnen und Betrachter auf, ihr mit einer Schere Stücke aus den Textilien herauszuschneiden, die es anschließend behalten durfte.
Annäherung und Entblößung
Dabei blieb sie regungslos sitzen und schaute zu, wie das Publikum an ihrer öffentlichen Entblößung mitwirkte. Die Performance endete erst, als Ono bis auf die Unterwäsche entkleidet war. Mit ihrer Performance stellte sie nicht nur den männlichen Blick und die Darstellung der Frau als Objekt zur Diskussion, sondern lenkte auch den Fokus darauf, wie Zuschauen ohne Einschreiten ebenfalls zu verletzenden Handlungen beitragen kann. Gleichzeitig schuf sie jedoch auch eine Basis für die Interaktion zwischen Künstlerin und Betrachtenden und ermöglichte ein gegenseitiges Geben und Nehmen.
Sowohl Yoko Onos als auch Marina Abramovics Performance sorgten für gespaltene Reaktionen im Publikum - und interessieren die Kunstwelt offenbar noch heute. Noch bis Samstag wird das "Cut Piece" täglich in der Glashalle der Neuen Nationalgalerie aufgeführt. Die inzwischen 90-Jährige ist dafür nicht nach Berlin gekommen, wird aber von verschiedenen autorisierten Performerinnen vertreten.
Auch in der gegenwärtigen Berliner Version lassen sich im Umgang der Zuschauerinnen und Zuschauer mit der Performerin die unterschiedlichsten Nuancen betrachten. Zu Beginn der Sitzung am Premierentag macht niemand den ersten Schritt, oder besser: den ersten Schnitt. Dann beginnt das Publikum zögerlich, der sitzenden Frau kleinere Stoffstückchen vom Körper zu schneiden. Die Ausführungen sind vorsichtig und respektvoll - nahezu zärtlich werden ihr die Haare von der Schulter gestrichen, die meisten Akteurinnen ziehen die Schuhe aus, bevor sie den weißen Teppich betreten. Besonders auffällig ist, dass nachdem der allererste Schnitt von einem Mann gemacht wurde, sich lange nur weibliche Betrachterinnen trauen, weitere Haut zu entblößen.
Hosenträger- und Haar-Attacken
Die Formen der Interaktion gehen stark auseinander. Von einer sanften Verbeugung vor der Performerin über einen forschen Schnitt in den Kragen samt Hosenträgern bis zur besagten Haar-Attacke ist alles dabei. Den vermutlich eindrucksvollsten Part der Performance bot ein junger Mann im klassischen dunklen Berliner Techno-Outfit mit Sonnenbrille, der bereits zu Anfang der Performerin selbst die Schere in die Hand gelegt und die Stofffetzen am Boden sortiert hat.
Im weiteren Verlauf betritt er noch ein zweites Mal den Teppich, und schneidet sich selbst ein großes Stück aus seinem schwarzen T-Shirt. Mit jenem Fetzen bedeckt er die nackte Schulter der Performerin. Ist das jetzt eine schützende Blickbarriere oder eine übergriffige Geste, die Macht ausdrückt?
Nach diesem widersprüchlichen Akt wagt es zunächst keine weitere Person, die Schere anzusetzen. Es folgt eine andächtige Pause. Diese Stille wird schließlich von einem älteren Herrn gebrochen, der den Stoff des fremden T-Shirts wieder von der Schulter der Künstlerin nimmt und in der Mitte durchschneidet. Ein Zeichen hat der junge Mann mit der Techno-Brille jedoch trotzdem gesetzt, und ist mit seiner Aktion im Gedächtnis der Anwesenden geblieben.
"Male Gaze" in der Kritik
Anders als Yoko Ono trägt die Berliner Performerin keine blickdichte Kleidung, sondern einen Anzug aus schwarzer Spitze, welcher bereits Haut durchschimmern lässt. Eventuell eine Einladung ans Publikum, um mögliche Hemmschwellen zu brechen? Für mich fühlt es sich dennoch merkwürdig an, einen fremden Körper weiter zu enthüllten, auch wenn ich Teile davon bereits durch die transparente Hülle erahnen kann.
Und obwohl ich weiß, was auf mich zukommt, den Ablauf der Performance kenne, bin ich überrascht, mit welcher Intensität sie mich erfasst, als ich dann selbst aktiv werde. Nach meinem Schnitt in den Anzug rutscht der Stoff von der Schulter der Künstlerin und legt ihren BH-Träger frei. Mir läuft kurz ein unbehaglicher Schauer über den Rücken. Einen solch intimen Moment mit einem Publikum zu teilen und öffentlich in die Privatsphäre einer anderen Person einzudringen, fühlt sich falsch an. Der Nachhall der Performance ist eine Gefühlsmischung aus Respekt, Rührung, Forschheit und Schuld, die ich so im Kontext mit Kunst bisher nicht erlebt habe.
Auch bei der kritischen Betrachtung des male gaze, der heutzutage vielleicht nicht mehr so ausgeprägt ist wie in den 60ern, aber nach wie vor präsent ist, bietet die Performance interessante Einblicke. Es ist bemerkenswert, wie unterschiedliche Geschlechter an die Performance herangehen. Vor 60 Jahren hat wohl kaum ein männlicher Zuschauer Yoko Onos Schultern mit seinem eigenen Shirt zugedeckt - außerdem scheinen den Anwesenden heute die verschiedenen Ebenen der Aktion bewusster zu sein. Dass eine lebendige Künstlerin im Museum Haut zeigt, ist heute nicht mehr an sich skandalös oder schockierend. So kommen auch die leiseren Töne besser zum Klingen.