Kann ein Körper eine zwei Tonnen schwere Kirchenglocke zum Läuten bringen? Das ist eine der Fragen, die man sich auf dem Eröffnungsabend des Atonal-Festivals im Berliner Kraftwerk stellt.
Das Großereignis für neuen Klang, neuen Raum, neue Bilder ist nach Pandemie-Pause zurück an diesem Wahnsinnsort, dem 1996 stillgelegten Heizkraftwerk, in dessen Schaltzentrale man heute noch die Wärme des Fernsehturms abstellen könne. Das zumindest erzählt der künstlerische Leiter Laurens von Oswald. Ob das stimmt, ist noch so eine Frage, klingt aber gut. Denn um Wärme, um Körper, um Einverleiben, um Bewegung und Veränderung geht es hier bei diesem Festival.
Die Glocke zum Beispiel wurde von Florentina Holzinger dorthin gehangen: It-Girl nicht nur der Berliner Neu-Romantiker. Und es sieht so aus, als würde der nackte Körper das wuchtige Ding tatsächlich zum Klingen bringen. Holzingers nackte Performerinnen gingen wieder an ihre Grenzen, steckten den Kopf in die schwingende Glocke, die von zwei Frauen mit Schlägeln bearbeitet wurden, hingen an Haken von der Decke, traten gegen metallene Spiegel.
Grenzgänge für die jüngere Kunst-Crowd
Zwei Menschen in der ersten Reihe fielen dabei in Ohnmacht, hört man später, einer davon wohl der Mitarbeiter, der dafür zuständig ist, dass niemand in Ohnmacht fällt. Diese Art von Ausstellungsrand-Gesprächen sind das, was das Festival gut beschreibt. Grenzgänge für die jüngere Kunst-Crowd.
Hier treten also an zwei Wochenenden nicht nur unzählige Musikgrößen auf, die Radio-Hörer eher nicht kennen: Shackleton, Sandwell District, Caterina Barbieri, Blavan und so weiter. Sondern es ist in diesem Jahr auch das Kunstprogramm "The Universal Metabolism" kuratiert worden. Und zwar von Adriano Rosselli, der seit mehreren Jahren zum Atonal-Team gehört.
2021, in der Zeit, in der Konzerte verboten, aber personenbeschränkte Ausstellungsbesuche erlaubt waren, wurde bereits die Ausstellung "Metabolic Rift" im Kraftwerk realisiert. Das war ein ertragreicher Spaziergang durch die verschiedenen kleinen und riesigen Räume des Gebäudes. Eine Geisterbahn-artige Tour mit wenig Schrecken, aber geräuschvollen und beeindruckenden Auftritten. Es ging dabei, so von Oswald, um eine andere Aufmerksamkeit für die Kunst. Die Augen und Ohren hinzuleiten, wie bei einem Showact.
Bässe im Bauch
In diesem Jahr greift nun alles ineinander. Florentina Holzingers am ersten Festival-Wochenende aufgeführte "Etude for Church“ ist irgendwie Musik und auch Kunst und Tanz. In der anderen Ecke des riesigen Raums hängt eine Arbeit der Südkoreanerin Mire Lee. Lehm und Wasser laufen an zerfetzten Stoffbahnen entlang, und man weiß bei dieser Künstlerin wie immer nicht, ob man sich gerade innerhalb eines Körpers befindet, oder ob gerade irgendetwas aus einem herausgenommen wird.
"The Universal Metabolism" - was ist damit gemeint? "Dieses Gebäude ist ein Energieerzeuger gewesen, und der menschliche Körper, sein Stoffwechsel, ist auch ein Antrieb für die Energieerzeugung."
So ist diese Ausstellung auch eine körperliche Erfahrung: Bässe im Bauch, Augen auf der Suche nach Orientierung. Ekel, Scham. Laut, leise. Bedrohung, Schutz. Große Namen sind zu sehen: Sonia Boyce, Queen of Venice, zeigt eine Videoarbeit. Marco Fusinato, der im Australischen Pavillon endlos Gitarren schreien ließ, tritt mehrmals auf. Und mit Rabon Aibo hat das Atonal-Team endlich einen Künstler gefunden, der das gewaltige Kraftwerk selbst zum Klangkörper macht.
Teppiche mit Kannibalismus-Motiven
"Aibo hat Motoren und Schlagköpfe angebracht und es so geschafft, den Raum als Instrument zu nutzen. Über die Ausstellungstage wird man immer wieder Momente finden, wo alle Sounds ausgehen und man wirklich diesen Raum hört, als eine Komposition, mit Noten, mit Anfang und Ende." Das erklärt von Oswald vor Eröffnung der Ausstellung.
Er führt vorbei an Livia Melzis Wandteppichen, die Kannibalismus-Szenen zeigen. An den großen Orgel-Pfeifen von Valie Export. Von Oswald erzählt, dass es an den Abenden Performances geben wird. Von Romeo Castelluci. Oder von Billy Bultheel, den man von Zusammenarbeiten mit Anne Imhof kennt. Später wird man sie in Instagram-Stories sehen. Sänger, menschliches Glitzern. Es ist alles aufregend.
Draußen vor dem Kraftwerk kauert derweil eine von zwei gezeigten Arbeiten von Cyprien Gaillard. Ein kleiner muskulöser Buddha, der sein Gesicht in seine Hände legt. Im Dunkeln löst er große Irritation aus – lebt der? Bewegt der sich? Ist das ein Kind? Im Tageslicht leuchtet der silberne Buddha in der Sonne. Laurens von Oswald erklärt, er nehme die ganze Trauer der Welt in sich auf. Reicht dieser Körper dafür aus? Noch so eine Frage.