La Serenissima, die Heitere, Ruhige, Gelassene: der Beiname Venedigs entspricht kaum der Hektik, die regelmäßig während des Filmfestivals ausbricht. Ruhe bewahren fällt nicht leicht, wenn man von einem Filmscreening zum nächsten hetzt. Wenn man ohnehin noch im Boot zum Lido hockt und die Zeit drängt, steigt der Adrenalinpegel besonders. Doch jede Überfahrt zieht sich. Geschwindigkeitsrekorde – wie im neuen Film von Michael Mann – sind in der Lagune nicht zu erwarten.
"Ferrari" versetzt uns nach Modena in den späten 1950er-Jahren. Enzo Ferrari (Adam Driver), der früher selbst Rennen fuhr, steckt in einer tiefen Krise. Seiner Rennwagenfirma droht der Bankrott. Seine Ehe mit Laura (Penelope Cruz) ist an der Trauer um den Sohn Dino zerbrochen, der mit Mitte 20 starb. Noch kann Enzo die Existenz seiner Ersatzfamilie geheimhalten: In einer abgelegenen Villa wohnt seine Geliebte Lina Lardi (Shailene Woodley) mit dem kleinen gemeinsamen Sohn.
Enzos größte Leidenschaft bleibt der Rennsport. In seiner Besessenheit ist er eine typische Michael-Mann-Figur. Und obsessiv geht der berühmte US-Regisseur ja selbst zu Werke. Am "Ferrari"-Projekt hat der Filmemacher mit Unterbrechungen 30 Jahre lang gearbeitet. Man sieht das dem Film an. Und man hört es auch – am ausgefeilten Soundesign. Ein Symphonie der Motoren!
Die Obsession nimmt man Adam Driver ab
Es steckt eine unglaubliche Liebe zum Detail und zum perfekten Timing in diesem Film. Die Szenen der aufjaulenden Motoren, erbitterten Aufholjagden und schockierenden Crashs sind atemberaubend. Mann weiß aber genau, wenn er die hohe Drehzahl herunterfahren muss. Anspannung und Entspannung sind in kunstvoll austariert.
Auch das zwischenmenschliche Drama kommt nicht zu kurz. Großartig verkörpert Penelope Cruz Enzos Ehefrau und gleichberechtigte Geschäftspartnerin Laura Ferrari. So klein ihr Aktionsradius ist – Mann zeigt Laura oft in beengten Räumen –, so facettenreich spielt Cruz die in Trauer gefangene Frau.
Adam Driver ist von der Papierform her keine Idealbesetzung für den entschluss- und risikofreudigen Fabrikanten schnittiger Sportwagen. Doch die stoische, mitunter grüblerische Art des Schauspielers gibt der Geschichte paradoxerweise eine besondere Tiefe. Die Obsession, den eisernen Siegeswillen nimmt man Driver unbedingt ab.
Schöner als die Nike von Samothrake
"Ferrari" erinnert nicht wenig an Christopher Nolans "Oppenheimer"-Film, der vom Bau der Atombombe handelt. In beiden Fällen ist die Hauptfigur von einem Ziel besessen, das nur unter Inkaufnahme immenser, nun ja, Kollateralschäden zu erreichen ist. Früh wird in "Ferrari" deutlich: Enzo schont weder Motoren noch Menschen. Da fliegt schon bei einem Proberennen ein erster Fahrer aus der Kurve.
Verbissen strebt Enzo den Sieg seiner Mannschaft beim legendären "Mille Miglia"-Rennen über öffentliche Straßen in Norditalien an. Es ist das Jahr 1957. Wer den Grund nicht kennt, warum das Rennen danach für 20 Jahre ausgesetzt wurde, erfährt ihn im Film. Michael Mann erzählt, wie der junge Fahrer Alfonso de Portago (Gabriel Leone) zur Ferrari-Equipe stößt und wie der Firmenchef dessen Killerinstinkt weckt, ihn zu riskanten Überholmanövern animiert, selbst wenn einer der Beteiligten dabei sein Leben lässt.
Einmal schwärmt Enzo vom Heck eines Ferrari-Wagens, das so schön geformt sei wie eine "Skulptur von Antonio Canova". Ansonsten dreht sich "Ferrari" kaum um Auto-Ästhetik und Konsumobjekte. Das futuristische Manifest Filippo Tommaso Marinettis hätte Enzo Ferrari aber garantiert unterschrieben: "Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen … ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake."