Marina Naprushkina hat an der Frankfurter Städelschule unter anderem bei Martha Rosler studiert und ihre Arbeiten an renommierten Orten wie zum Beispiel dem Berliner Herbstsalon am Gorki-Theater (2015), der Kiew Biennale (2017) und der Kunsthalle Wien (2020) ausgestellt. Gleichzeitig arbeitet sie immer wieder an der Schnittstelle von Kunst und Aktivismus, so initiierte sie 2013 die Migrationsinitiative Neue Nachbarschaft/Moabit, die inzwischen zu den größten ihrer Art zählt.
Vor drei Jahren übernahm dann die Neue Nachbarschaft/Moabit als Betreiberin das Strandbad Tegelsee am Stadtrand von Berlin und installierte dort ein Kulturprogramm. Auch als Professorin an der Universität der Künste (UdK) Berlin ist Marina Naprushkina tätig.
Marina Naprushkina, Sie haben vor drei Jahren zusammen mit dem Kollektiv Neue Nachbarschaft/Moabit das Berliner Strandbad Tegelsee zu einem "Zentrum für Kultur und Erholung" umfunktioniert. Worum geht es da jetzt: Kunst statt Baden?
Die Berliner Bäder-Betriebe haben im Jahr 2019 nach einem neuen Betreiber für das seit mehreren Jahren geschlossene Bad gesucht. Wir haben uns mit dem Konzept "Zentrum für Kultur und Erholung" beworben: Wir würden nicht nur den üblichen Badebetrieb wiederherstellen, sondern das Bad als ein Kunstlabor und einen Lernort unter freiem Himmel entwickeln. Man kann hier baden und sich gleichzeitig künstlerisch bilden. Eine Kunstinstitution, die aus Wasser, Sand, 300 Bäumen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besteht, die zehn unterschiedliche Sprachen sprechen. Das Konzept wurde von der Behörde zuerst skeptisch gesehen: Künstlerinnen, Migrantinnen, die plötzlich das zweitgrößte Strandbad in Berlin betreiben wollen? Ob wir genug Qualifikation dazu hätten?
Wie sieht das konkret aus diesen Sommer? Können Sie ein paar Programmpunkte nennen?
Wir haben seit zwei Jahren das Projekt "Artistic Ecologies: New Compasses, Tools and Alliances" in Kollaboration mit dem Kollektiv WHW aus Zagreb und der Rijksakademie in Amsterdam. Im Rahmen dieses Programms haben wir Formate wie "Lesen am See" mit Lesegruppen und Kollektiven aus Berlin entwickelt, "Fantastic feminist futures" mit Künstlerinnen, die sich mit intersektionalen feministischen Perspektiven auseinandersetzen, oder die "Erde-Workshops", bei denen es auch um praktische Arbeit geht, die in Verbindung mit Ökologie, Heilung oder auch der Klanglandschaft des Ortes steht. Außerdem wurde ein Artist-in-Residence Programm etabliert. In diesem Jahr haben wir die Künstlerin Rupali Patil eingeladen, die in Pune, Indien, lebt und sich mit Naturressourcen, besonders dem Wasser, beschäftigt und über die Politik und Privatisierung der Gewässer spricht.
Kooperieren Sie öfter mit anderen Organisationen und Institutionen?
Ja, wir haben bereits mit vielen Hochschulen und Kunstakademien zusammengearbeitet, die mit ihren Studierenden hier im Strandbad Ausstellungen und Projekte entwickelt haben. Unter ihnen die UdK Berlin, die Kunsthochschule Berlin-Weißensee und die Kunstakademie Münster. Es gibt in dem Bereich, wie man Kunst außerhalb des White Cubes denkt und ressourcenschonend zeigt, viel zu lernen: zum Beispiel, indem man das Naturlicht berücksichtigt oder die Arbeiten im und unter Wasser installiert. Architekturstudierende der UdK haben in diesem Jahr Fenster für unseren Kiosk entwickelt. Man könnte hier viele Baustellen eröffnen, um nach anderen Lösungen zu suchen. Es gibt zudem die Idee eines Skulpturenparks. Kunst im öffentlichen Raum zu zeigen ist ein mühsamer Genehmigungsprozess, und hier hätten wir eine Fläche von 3000 Quadratmetern, auf der man das tun kann. Für diese Idee suchen wir nach einer Partnerin, einem Sammler oder einer Institution.
Das Arbeiten in Kollektiven ist da typisch. Ein Versuch, Kulturproduktion zu demokratisieren?
Das Wort Kollektiv ist inzwischen viral geworden. Dabei ist es eine der schwierigsten Aufgaben, ein Kollektiv zu bilden. Und ich würde auch zwischen Kollektiv und Gemeinschaft unterscheiden. Ein Kollektiv hat einen Handlungsbedarf, eine Agenda. In meinem Fall ist die Neue Nachbarschaft/Moabit erst als eine Gruppe aus einer Notwendigkeit entstanden, sich zu organisieren und einen Raum für und mit Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung zu erschaffen. Den physischen Raum haben wir gebraucht um uns treffen zu können, Zeit miteinander zu verbringen, herauszufinden, wie wir etwas erarbeiten können, um uns dann nach außen artikulieren zu können. Als Künstlerin ist mir der reine Ausstellungsbetrieb nicht ausreichend. Und das Modell eines geniehaften autonomen Künstlers funktioniert nur für sehr wenige. Ich sehe Demokratisierung aus einer feministischen Perspektive: Fragen über die Strukturen, die man vorfindet zu stellen und den Status Quo zu hinterfragen. Um etwas zu ändern, müssen wir uns zusammentun, uns versammeln. So wie Sara Ahmed es sagt "to go is also to gather".
Sie arbeiten ja auch selbst an Kunsthochschulen, als Professorin gemeinsam mit Nadira Husain an der UdK Berlin, außerdem mit der *FoundationClass an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Gelingt bei dieser Arbeit solch eine Form der Demokratisierung, ein "barrierefreies" Studieren?
Nadira Husain und ich haben uns entschieden, als Duo zu unterrichten. Wir leiten die Klasse zusammen, das ist bereits eine andere Situation für Studierende und die Institution. Wir wollen uns von der Reproduktion des zentralisierten Modells eines autonomen und heroischen Künstlers wegbewegen. Wir können zu zweit aus mehreren Perspektiven auf die künstlerische Praxis der Studierenden schauen, andere Kunstgeschichten in die Lehre einbeziehen und aus unseren eigenen Biografien heraus darüber sprechen, wie kolonialistisch die Kunstgeschichte ist. Wie setzt man einen dekolonialen Blick auf die Institution um? Wie kann man ein diskriminierungsfreies Lernumfeld schaffen, den Zugang zu einer Kunstausbildung für diejenigen öffnen, die von Rassismus, Klassismus und anderen Diskriminierungsformen betroffen sind? Für uns ist es eine politische Entscheidung, an der *FoundationClass zu unterrichten, mit der Studierendeninitiative Common Ground an der UdK zusammenzuarbeiten und so viel wie möglich Gaststudierende zu unterstützen, die aus den Krisen- und Kriegsregionen kommen. Und das Gleiche muss auch auf der professoralen Ebene passieren.
Apropos *FoundationClass: Ein "Ableger" wurde ja zur Documenta Fifteen eingeladen. Was waren die Erfahrungen dort?
Das Kollektiv *FoundationClass*Collective besteht aus Künstlerinnen und Künstlern, die von der Plattform *FoundationClass kommen und auf Einladung von Ruangrupa an der Documenta Fifteen teilgenommen haben. Es galt, kollektiv für die Documenta drei Projekte zu entwickeln. Es war ein zeitaufwendiger Prozess, der mit viel Selbstorganisation verbunden war. Ich war nicht eng involviert, aber ich denke, dass die Gruppe sehr gute Erfahrungen mit der dezentralisierten Kuratierung gemacht hat. Und mit einer Ausstellung, die schon während der Produktionszeit als "Open Resource" und "Open Source" den Teilnehmenden und dann auch dem Publikum zur Verfügung stand.
Sind sie im Moment überhaupt noch an Ihrer Arbeit als "Einzelkünstlerin" interessiert?
Unbedingt! Ich arbeite gerade an der Serie "Birds with the people". Der Titel zitiert den Slogan einer der ältesten Umweltschutz-Organisationen "Ахова птушак Бацькаўшчыны" in Belarus. Sie wurde als extremistisch eingestuft und von der Regierung geschlossen, genau wie die meisten NGOs in Belarus. Die Serie besteht aus großformatigen, doppelseitigen Bilder-Teppichen, die auf die neueste Geschichte der Protestbewegung in Belarus zurückgreifen: Die Anti-Regierungs-Proteste der 2020er-Jahre und auch den Krieg, welchen Russland in der Ukraine führt und dabei in Belarus interveniert. Das sind koloniale Kontinuitäten. Belarus ist dauernd dem Imperialismus Russlands ausgesetzt.
Wie gehen Sie an diese Themen heran?
Ich forsche auch an den kunstgeschichtlichen Narrativen und verwebe sie miteinander. In der Bildsprache beziehe ich mich auf "dyvan", die in den ländlichen Gebieten verbreitete Technik der bemalten selbstgewebten Teppiche. Gleichzeitig schaue ich mir die Vitebsker Avant-Garde Schule an, die von Kasimir Malevich und Vera Ermolaeva geleiteten Unovis der 1920er-Jahre. Beides hat nebeneinander existiert. Aber eins davon ist Teil der etablierten Kunstgeschichte geworden, das andere wurde dagegen auf das Handwerkliche und eine meist mit weiblicher, anonymer Hausarbeit verbundene Technik reduziert. Und deshalb auch wenig erforscht.