Während in Basel die weltweit wichtigste Kunstmesse in vollem Gange ist, eröffnete nun eine Autostunde entfernt die zweite Ausgabe der Biennale für Freiburg. Unter der künstlerischen Leitung der jungen Kuratorin Paula Kommoss lautet ihr Titel: "Das Lied der Straße". Einen Monat vor der Eröffnung hat sich Freiburgs Gemeinderat, was Lieder auf der Straße angeht, von seiner spießbürgerlichen Seite gezeigt: Musikinstrumente und Bluetooth-Boxen sind in den städtischen Parks künftig nachts verboten.
Als konzeptueller Coup Teil eines künstlerischen Beitrags zur Biennale? Nein – aber die Vermutung liegt nah, denn tatsächlich handelt diese Freiburg-Biennale genau davon, was die Stadt nun für allnächtliche sieben Stunden untersagt: von der Aneignung des öffentlichen Raums mittels Melodien. Kuratorin Kommoss versteht die Melodie "als Moment des eigenständigen Handels" und als vielstimmige Weise des Widerstands im alltäglichen Ablauf der Dinge. Dieser Ablauf ist vorgegeben durch die Straßen, auf denen wir uns fortbewegen.
Sie ziehen Verbindungslinien wie Grenzen und sind betongewordener Ausdruck des Willens der Machthabenden. Abweichungen fallen aus dem Rahmen. Und, wie Kommoss sagt, ein Lied könne eine solche Abweichung sein. Die Kuratorin spricht dem Lied eine große Wirkmacht zu. Mit ihm stimmt sie die Erzählung ihrer Freiburg-Biennale an, die mit 34 teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler sowie Kollektiven an zwölf Standorten läuft.
"Entnazifizierung nicht abgeschlossen"
Lieder können von politischer Unterdrückung erzählen und von repressiven Regimen. Im Freiburger Kunstverein, in dem die Hauptausstellung der Biennale zu sehen ist, zeigt die Künstlerin Maximiliane Baumgartner eine Wandzeitung, die sich aus Kopien ausgewählter Dokumente einer NS-Akte aus dem Freiburger Stadtarchiv speist. In ihnen werden auch die beschlagnahmten Werke der Freiburger Künstlerin Eva Eisenlohr genannt. Für Kommoss war sie ein wichtiger Ausgangspunkt. Eisenlohr wurde 1881 in Freiburg geboren, studierte an der Malerinnenschule in Karlsruhe und in München und war ab Ende den 1920er-Jahren in Freiburg als Bildhauerin und Künstlerin tätig. 1937 wurden ihr Aquarell "Luftgeister" (1930) und das Holzrelief "Bild Freiburgs" (1933) aus der Städtischen Sammlung Freiburgs beschlagnahmt und als "entartet" diffamiert. Beide Werke sind im NS-Inventar als zerstört verzeichnet. Nach dem Krieg war Eisenlohr zwar weiterhin als Künstlerin tätig, doch von den Kunstgeschichts-Schreiberinnen und -Schreibern wurde ihre Tätigkeit dann weitestgehend ignoriert.
Kuratorin Kommoss macht ihr Werk nun sichtbar. Und Maximiliane Baumgartner, 1986 im Allgäu geboren, spinnt Eisenlohrs Werk für weiter. Vor ihrer Wandzeitung im Kunstverein erklärt Baumgartner, dass ihr das Aufgreifen des Werks Eisenlohrs auch deshalb wichtig ist, weil sie die "Entnazifizierung als nicht abgeschlossen" begreift, "sondern als immerwährende Aufgabe für alle Generationen." Während des Prologs zur Freiburg-Biennale von Februar bis Mai reinszenierte Baumgartner eine künstlerische Aktion Eisenlohrs: 1957 transportierte die Bildhauerin ein von ihr gefertigtes Denkmal per Schubkarre durch die halbe Stadt, um es nachher ungefragt auf dem Alten Friedhof an dem Grab ihres Lieblingsdichters Joseph von Auffenberg zu platzieren. Da steht es noch heute. Für die Freiburg Biennale beschritt Baumgartner den Weg, den Eisenlohr vor fast 70 Jahren ging, in einer performativen Aktion mit Publikum erneut. Eine Performance, mit der Baumgartner Vergangenheit und Gegenwart der Straße in Bezug setzt und Fragen nach der Repräsentation von Frauen, nicht nur in der Kunstgeschichte, sondern auch im öffentlichen Raum aufwirft.
In der Schau im Kunstverein stechen außerdem zwei Videoarbeiten hervor, Amal Kenawys "The Silence of the sheep" (2009) und Hito Steyerls "Die leere Mitte" (1998). Kenawys Arbeit ist eine Dokumentation einer ihrer Performances in der Innenstadt Kairos: Auf allen Vieren kriecht eine Gruppe durch die Straßen der ägyptischen Hauptstadt, der Verkehr stockt, es kommt zu einer Diskussion. Die Unterbrechung der täglichen Routine durch die kriechenden Körper, die sich den vorgeschriebenen Bewegungsmustern widersetzen, führt zum Eklat und die Aktion endet mit der Verhaftung der Künstlerin und einiger Teilnehmender. Steyerls Video porträtiert den Potsdamer Platz in Berlin nach dem Mauerfall über einen Zeitraum von acht Jahren: Todesstreifen, grüne Wiese und schließlich #größte Baustelle Europas – in der Entwicklung des Ortes schlagen sich wandelnde Interessen und Narrative nieder.
Entmenschlichte Mythen
Zehn Gehminuten vom Kunstverein entfernt liegt das Pförtnerhaus. Während die Schau im Kunstverein das Lied zur Biennale anstimmt und trägt, gewissermaßen den Basso Continuo bildet, bekommt man hier einen virtuosen Solopart zu sehen. Mit "Friedrichstraße 24" (2023) präsentiert James Gregory Atkinson seine Recherchen in lokalen Archiven zur "Schwarzen Schmach". Im Rahmen dieser Agitationskampagne wurden entmenschlichende Mythen über die Schwarzen Soldaten der französischen Besatzungstruppen am Rhein verbreitet und anti-Schwarze Ressentiments befeuert. Unter der Schirmherrschaft der Kommunistischen Internationalen gründete sich 1929 in der Friedrichstraße 24 in Berlin die sogenannte Liga zur Verteidigung der N*gerr*sse, die sich aktivistisch gegen den Rassismus der deutschen Gesellschaft zur Wehr setzte. Sie bestand aus etwa 30 in Berlin lebenden Schwarzen Männern und Frauen, die meisten stammten aus der ehemaligen deutschen Kolonie Kamerun. So auch Louis Brody. Der erfolgreiche Schauspieler ist durch ein sepiafarbenes Foto im Pförtnerhaus präsent. Im Zusammenhang mit der alliierten Besatzung des Rheinlandes nach dem Ersten Weltkrieg wurde Brody zu einem Repräsentanten und Verteidiger der Schwarzen Bevölkerung in Deutschland.
Auf dem Tisch daneben, an dem ehemals wohl der Pförtner saß, stellt Atkinson Archivmaterial der Liga aus. Darüber ticken zwei Uhren. Die eine zeigt die deutsche Ortszeit, die andere die Zeit in Chicago. Die Zeitverschiebung und das ständige Ticken visualisieren gleichzeitig Abstand und Nähe Deutschlands zu Schwarzen Soldaten – eine Beziehung, die seit der Stationierung US-amerikanischer Soldaten in Europa besteht, insbesondere auch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Uhren versinnbildlichen aber auch geografische Haltepunkte der persönlichen Familiengeschichte des Künstlers: Auch Atkinsons Vater, geboren in Chicago, war einer von vielen afroamerikanischen Soldaten, die nach Deutschland geschickt wurden. Er war Anfang der 1980er-Jahre in der US-Armeestation Ray Barracks in Friedberg stationiert, wo er Atkinsons Mutter kennenlernte.
"Pluralität der Positionen"
Ebenfalls nicht zu verpassen ist die Videoarbeit "Aesthetics of Power" (2021) von Henrike Naumann in der Freiburger Stadtbibliothek. Sie verlagert den Untersuchungsgegenstand von der Straße auf die private Inneneinrichtung. Die Künstlerin untersucht in ihrem Werk, wie sich bestimmte Sozialisierungen in Design und Interieur niederschlagen. Mit "Aesthetics of Power" verweist Naumann auf die Parallelen zwischen der Reichsbürgerbewegung in Deutschland und der ebenso bizarre Verschwörungstheorien verbreitenden QAnon-Bewegung in den USA. Ihnen gemeinsam ist beispielsweise der gehörnte Helm, der in politischen Aktionen wie in der Inneneinrichtung vorkommt. Die Arbeit porträtiert solche Ästhetiken rechtsradikaler Herrschaftsfantasien. Die Geräusche der Straße bleiben diesmal draußen, sodass die bizarren Szenerien dieser Interieurs in der Stille der Stadtbibliothek zwischen Reiseführern und Ratgeberliteratur umso eindrücklicher sind.
Die zweite Ausgabe der Biennale für Freiburg überzeugt durch die Vielstimmigkeit künstlerisch herausragender Beiträge, die das Thema der Straße als Ort für Gegenöffentlichkeit aus unterschiedlichsten Perspektiven behandeln. Teilweise scheinen sie wie ein Ufo im sonst beschaulich dahinplätschernden Freiburg gelandet zu sein. Dadurch aber, dass nicht nur die Pluralität der Positionen gelingt, sondern auch weil Kommoss als Ausgangspunkt das Werk der Freiburger Künstlerin Eva Eisenlohr wählt, vermag die Ausstellung genügend Anlauf im lokalen Radius zu nehmen, um und bodennahe, rhizomatische Verknüpfungen zu schaffen, die auch solche Orte einbeziehen, die ohne die Biennale brachlägen.