Als sich die schweren Regentropfen endlich verzogen haben, sitzen weiße Schwaden dicht und gespenstisch zwischen den hohen Tannen, greifen so tief ins Unterholz, als wollten sie das Land zudecken oder für immer verschwinden lassen. Es duftet nach Nadelholz, Harz und feuchtem Laub. Gierig sauge ich diesen Geruch ein, als ob der Wald mich beatmet mit der Kraft seiner grünen Lunge. Nur der regelmäßige Ruf eines Kuckucks leistet mir Gesellschaft. Meine Schuhe versinken in weichen Mooskissen und nassem Gras. Schmal ist der Pfad. Heidelbeersträucher schmiegen sich an die kleinen weißen Grenzsteine, und so wandere ich mit einem Fuß in Sachsen und dem anderen in Tschechien.
Auch wenn das 1983, im Gründungsjahr des Wegs, so nicht möglich gewesen ist, war genau das die Intention: grenzüberschreitend wandern. Einst verband der sagenumwobene EB auf seiner 2700 Kilometer langen Strecke zwischen Eisenach und Budapest die sozialistischen Bruderländer DDR, ČSSR, Polen und Ungarn, heute kann man auf seinen Spuren über die grünen Ländergrenzen hinwegwandern. Allein 375 Kilometer führen durch die spektakulärsten Landstriche des Freistaates. "Weg der Freundschaft" ist der Beiname des Pfads, und wenn man ihn in diesem Sinne geht, spinnt man mit jedem Schritt aus dem Netz der Fernwege ein Netz länderübergreifender Freundschaften, auch indem man das reichhaltige kulturelle Erbe seiner Heimat in die Fremde trägt.
Das Abenteuer wartet vor der Haustür
Dem Ruf des Fernwanderns zu folgen bedeutet nämlich nicht nur, sich ganz der Landschaft hinzugeben, sondern vor allem, Gast in der Welt zu sein. Und wer jemals von der Gastfreundschaft in der Fremde profitierte, der weiß, dass nun auch seine Türen für Fremde stets geöffnet sind. Ist es nicht ein schöner Gedanke, die Kunde einer Kulturhauptstadt über Hügel zu Hügel, von Dorf zu Dorf und Land zu Land zu tragen?
Von Chemnitz ist es nur ein Katzensprung auf den Trail. Gerade hast du noch Stadtluft geschnuppert, schon geht es eingelullt von Windesrauschen und Vogelgezwitscher durch tiefe Nadelwälder, saftige Flussauen, sattgrüne Hügellandschaften und urige Dörfer, die sich um kleine Weiher und alte Kirchen drängeln. Bucklige Obstbaumalleen führen von Tal zu Tal. Die dem Bergbau verbundene Lebensart der Montanregion Erzgebirge zeigt sich in beinahe jedem Dorf: Schwibbögen und Holzpyramiden sind so allgegenwärtig wie der Gruß "Glück auf". Basaltkegel erheben sich düster und schroff im Waldesgrün, uralte Stollen sind längst versiegelt, die Skilifte warten geduldig auf den nächsten Schnee, Rehe springen über Felder, Krähen krächzen von den Kronen, Postmeilensäulen markieren ein altes Wegenetz.
Im pittoresken Felsenmeer der rötlich schimmernden Gesteinsriffe des Elbsandsteingebirges hat man es geschafft: Man verlässt Deutschland endgültig gen Osten, und wenn man weitergeht, immer weiter, dann steht man irgendwann in den Karpaten, wo orthodoxe Zwiebelturmkirchen stehen, Schafherden über die Almen ziehen und Bären die Wälder durchstreifen. Das Abenteuer wartet vor der Haustür, und die Welt liegt einem sprichwörtlich zu Füßen! Und eins ist klar, egal wie weit man kommt: Man wird unterwegs neue Freundschaften fürs Leben schließen.