Wie ein Riss im klaren Himmel zieht sich eine dunkle Gestalt über Tokio und verdichtet sich zu einer unheilvollen Spirale. Ein Mädchen mit einem Hocker rennt auf die Quelle zu, von wo aus diese Gestalt hervorgeschossen kam. Der von vielen sehnsüchtig erwartete neue Animationsfilm "Suzume" des japanischen Regisseurs Makoto Shinkai, der bei der diesjährigen Berlinale Premiere feierte und nun auch endlich in den deutschen Kinos läuft, dreht sich um dieses Mädchen. Und um den Wurm, der ihre Welt bedroht.
Seit seinem Werk "Your Name" (2016) wird Shinkai vom internationalen Publikum gefeiert, nun verzaubert er auch bei "Suzume" mit atemberaubender Visualisierung und fesselndem Storytelling. Mit einer mythologischen Umrahmung der Naturkatastrophe des Erdbebens schreibt er sich außerdem in die uralte Tradition großer Erzähler und Erzählerinnen ein, die anhand von bildhaften Geschichten unbegreifliche Umweltphänomene erklärbar und fassbar machen — außerdem geht es darum, wie Mythen und Sagen überhaupt entstehen.
Im neuen Film versucht ein riesiger Wurm in einer anderen Dimension, durch magische Türen, die wie Portale funktionieren, in die irdische Welt zu gelangen. Sein Eindringen erschüttert die Erde, bis er sich auf sie stürzen und die Menschheit mit sich in den Untergrund reißen wird. Um dieses Unheil zu verhindern, ist es die Aufgabe eines Schlüsselträgers, die Türen aufzuspüren und zu verschließen.
Neue und alte Mythen treffen sich
Unwissend um die Bedeutung dieser Übergänge und fasziniert vom "Jenseits", welches sich durch sie erblicken lässt, öffnet die titelgebende Protagonistin Suzume ein solches Portal und lässt es aus Versehen offen. Schlimmer noch, sie befreit währenddessen eine Gottheit, die eigentlich den Wurm in Schach halten soll und stattdessen den Schlüsselträger zu einem Hocker verflucht. Überall öffnen sich nun die Portale. Die Erde bebt, und Suzume muss ihren Untergang verhindern.
Fast klingt es, als würde Shinkai mit dieser Erzählung die Geburtsstunde eines neuen, modernen Mythos ankündigen. Doch beim genaueren Hinsehen lassen sich Vorbilder aus der japanischen Erzähltradition erkennen. Darin werden Erdbeben von einem Großwels, dem O-namazu, verursacht: einem gigantischer Süßwasserfisch unter der Erde, durch dessen Drehen und Wenden die Oberfläche des Planeten beunruhigt wird.
Festgehalten wird der Riesenwels von einem sogenannten Kaname-ishi, einem "Schlussstein" oder Felsen, der tief in die Erde hineinragt und den Fisch am Platz hält. Um ihn noch stärker zu kontrollieren, bezwingt der Gott Kashima das Ungeheuer durch einen Stich in den Kopf. Sowohl der Schlussstein als auch die göttliche Figur mit der Aufgabe, das Beben der Erde zu verhindern, sind mythologische Elemente, die sich im Kosmos von "Suzume" wiederfinden.
Ein ferner Alptraum aus Zahlen und Fakten
Die Vorstellung eines unterirdischen, unheilbringenden Fisches verbreitete sich während der Edo-Zeit (1603-1868) rasant in der japanischen Bevölkerung — als Folge des großen Ansei-Edo-Erdbebens im Jahre 1855. Mit einer Stärke von bis 7,1 auf der Richterskala führte es zu großflächigen Zerstörungen im Epizentrum Edo, dem heutigen Tokio. In der Kunst wurde das Ereignis auf Farbholzschnitten dokumentiert und aufgearbeitet, die so zahlreich waren, dass sie eine eigene Bildkategorie aufmachten: die Namazu-e. Die Bezeichnung verrät es schon, diese Bilder zeigen vor allem eines — es war der riesige Wels, der für die Katastrophe verantwortlich war.
Auch in "Suzume" ist die Handlung, und somit der von Shinkai entworfene Mythos, an ein konkretes geschichtliches Ereignis gebunden: das Tohoku-Erdbeben von 2011. Die eine oder andere erinnert sich vielleicht, noch gehört zu haben, wie die nördliche Ostküste der japanischen Hauptinsel am Tag des 11. März von heftigen Beben erschüttert und dann von Tsunami-Wellen überflutet wurde - und wie der Alptraum sich in der Nuklearkatastrophe von Fukushima fortsetzte.
Wir hörten von den vielen Opfern und Vermissten. Doch so schrecklich, wie das alles klang, blieben die Ereignisse für die meisten von uns im fernen, kaum von Erdbeben betroffenen Europa Zahlen und Fakten.
Offene Türen und lost places
Für Suzume war diese Katastrophe dagegen ein tiefer persönlicher Einschnitt, denn sie verlor dabei als kleines Kind ihre Mutter. Die Tragödie ist stark prägend für ihre Charakterkonstruktion als Heldin der Geschichte. Und sie ist eng verknüpft mit dem neuen drohenden Unheil — ein weiteres großes Erdbeben —, das ihr nun als Herausforderung gegenübersteht. So erstaunt es nicht, dass ihre Reise, um eine Tür nach der anderen zu schließen und ein Desaster nach dem anderen zu verhindern, gleichzeitig auch ein Prozess der Selbstheilung ist und darauf hinausläuft, sich dem eigenen Trauma zu stellen.
Während Makoto Shinkai sich in seinen vorherigen Werken "Your Name" (2016) und "Weathering with You" (2019) ebenfalls mit Naturkatastrophen und den damit verwobenen Schicksalen befasst hat, ist der Erzählstrang bei "Suzume" stärker auf die Titelfigur selbst fokussiert. Wir begleiten sie auf ihrem "Roadtrip", senkrecht von der südlichen Provinz Japans an die nördliche Küste. Und es bleibt tatsächlich stets spannend, ob sie es schafft, rechtzeitig zu einer offenen Tür zu gelangen und sie zu schließen.
Denn diese Portale sind gar nicht so leicht zugänglich; sie befinden sich in lost places, heruntergekommenen, vergessenen Orten der menschlichen Zivilisation. Beladen von hinterlassenen Erinnerungen und Gefühlen, klafft dort eine Lücke, man könnte sogar meinen eine Wunde, durch die der Wurm seinen Eingang in die Welt findet.
Zugang zum eigenen Gedächtnis
Suzume lernt einen Trick, wie sie erfolgreich eine Tür unschädlich machen kann: Sie muss dabei an das Leben denken, das einst dort stattgefunden hat. In dem Vorgang des Findens, Öffnens und Schließens steckt der ganze Prozess, der sich vom Vergessen über das Erwecken von Erinnerungen bis zur Findung eines persönlichen Abschlusses erstreckt. Das Leitmotiv der Tür ist somit zugleich Übergang in eine andere Welt und Zugang zum eigenen Gedächtnis.
Während der mythologischen Selbsterkundung von Suzume liegt genau in der Passage von der einen Seite zur anderen die Heilung und schließlich die Motivation, ihren Weg weiterzugehen. Die Gestik des Öffnens und Schließens der Tür hat aber auch eine alltägliche Bedeutung, die im Kontext der Geschichte noch bedeutsamer wird. In japanischen Haushalten verabschiedet man sich von Zuhause mit einem ittekimasu ("Ich gehe jetzt los") und wird bei der Heimkehr mit einem okaeri ("Willkommen zurück") begrüßt.
Viele traten beim Erdbeben aus dem Haus und kamen nie wieder zurück, oder haben für immer eine Person und ein Zuhause verloren, zu denen sie zurückkehren können. Dieser Schmerz hat einen fortwährend aktuellen Bezug zu unserer Zeit: Geografisch näher am europäischen Publikum hat sich vor wenigen Monaten die Erdbeben-Tragödie in der Türkei und in Syrien ereignet.
Dem Unfassbaren Ausdruck verleihen
An der Tür hängen die vielen Gedanken, die einen mit seinen Liebenden verbinden, und die Sehnsucht nach einem Ort, an den man gehört. Shinkai gelingt es, die harte Realität infolge von tragischen Ereignissen nicht nur durch detailreiche, traumschöne Bildsprache und auf den Punkt getimte Filmmusik zu transzendieren, sondern auch durch die Geschichte von Suzume selbst.
Ganz dem Schema eines Mythos folgend, verleiht er dabei dem Unfassbaren einen eindrucksvollen Ausdruck. Der Film vermittelt eine Dringlichkeit, indem er an ein reales Ereignis anknüpft, dessen Auswirkungen bis heute in der japanischen Gesellschaft zu spüren sind. Für die nicht-japanische Zuschauerschaft ist er jedoch nicht weniger berührend, dafür sorgen die Universalität seiner Botschaft und die aufgerufenen Emotionen. Schmerz, Frustration, Sehnsucht und schließlich das Gefühl von Mut und Hoffnung — all das hallt nach, mit jeder geschlossenen Tür.