Ausdruckslos steht Laurence Coly (Guslagie Malanda) hinter der Brüstung der Anklagebank. "Können Sie uns sagen, warum Sie Ihre Tochter töteten?", fragt die Richterin. "Ich weiß es nicht. Ich hoffe, dass der Prozess mir hilft, es zu verstehen", antwortet die Angeklagte seelenruhig. Während der Verhandlung sagt sie aus, nachts ans Meer gefahren zu sein, um ihr Kind am Strand auszusetzen. Laurence wusste, dass die Flut das 15 Monate alte Mädchen verschlingen würde. Fischer hatten die Leiche am nächsten Morgen gefunden.
Die französische Regisseurin Alice Diop drehte ihren Film "Saint Omer" (benannt nach der nordfranzösischen Stadt, in der der Prozess abgehalten wird) nach einer wahren Geschichte. Der Film zeigt die Verhandlung als nervenzerrendes Kammerspiel um Laurence, die ihre Tat gleich gesteht, sie aber nicht erklären kann. "Saint Omer" wurde bei den Filmfestspielen in Venedig mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet und ging für Frankreich bei den diesjährigen Oscars als bester ausländischer Film ins Rennen.
Es ist ein schlichtes Werk, das mit wenigen Personen auskommt und überwiegend im Gerichtssaal spielt. Die Geschichte, die es erzählt, ist jedoch gewaltig. Die Kraft des Films liegt in der Reduziertheit der Handlung, die beständig, aber ergebnislos um die Frage kreist: "Warum tötet eine Mutter ihr Kind?".
Eine moderne Medea?
Je weiter der Prozess voranschreitet, desto deutlicher wird, dass hinter der Frage etwas Größeres, etwas Unfassbareres steckt als der grausame Mord: Es geht um Frau-Sein, um Mutter-Sein und darum, Tochter zu sein.
Im Gerichtssaal sitzt außerdem Rama (Kayije Kagame), Professorin und Schriftstellerin. Sie will sich den Prozess für ihr neues Buchprojekt "Médée naufragée" ("schiffbrüchige Medea") anschauen. Laurence als moderne Medea – die griechische Sagenfigur, die ihre Kinder tötet – zu bezeichnen, liegt erst einmal nahe. Bei Medea ist keine zufriedenstellende Begründung für die Tat zu finden – und auch bei Laurence bleibt die klare Antwort aus. Rama erkennt in dem Mordprozess in Saint Omer aber nicht nur die Geschichte der Medea wieder, sondern vor allem auch ihre eigene und die ihrer Mutter.
In Rückblenden, die von spirituellen Klängen (Soundtrack: Thibault Deboaisne) eingeleitet werden, erinnert sich Rama an ihre Jugend und ihr Verhältnis zu ihrer Mutter. Sie steht beispielsweise neben ihr in der Küche und versucht achtsam, fast ängstlich, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Doch sie wird gnadenlos ignoriert. Es sind kalte Rückblenden, die eine lieblose aber dabei zutiefst mit sich selbst hadernde Mutter zeigen.
"Schwierige" Frauen
Laurence’ Mutter sitzt wiederum auch im Gerichtssaal. Während die schwierigen Beziehungen von Rama und Laurence zu ihren Müttern aufgezeigt werden, ergreifen auffallend wenig Männer das Wort; und wenn sie reden, dann machen sie den Frauen gehässige Vorwürfe. Der Staatsanwalt etwa beschuldigt Laurence, ein Ungeheuer und eine Erbschleicherin zu sein. Andere Männer spucken nichtssagende Klischee-Sätze aus, um das Phänomen "schwieriger" Frauen zu erklären. In einem Moment etwa, in dem Rama zutiefst erschüttert ist von dem Prozess und dem, was er ihr über die Beziehung zu ihrer eigenen Mutter zeigt, erläutert ihr Ehemann: "Deine Mutter ist eine gebrochene Frau" und "Das Leben hat sie gezeichnet."
"Saint Omer" erzählt dezidiert die Geschichte von Müttern und Töchtern. Das Format des Kammerspiels schafft dabei eine bedrückende, klaustrophobische Atmosphäre, die die Zuschauenden an den Gerichtssaal fesselt.
Die monothematische Enge wird verstärkt durch die Atemgeräusche von Laurence und Rama, die mitunter das einzige sind, was man hört. Das Atmen scheint mit einem Trancezustand einherzugehen, in den die Protagonistinnen abdriften: In die gesellschaftlichen Zuschreibungen des weiblichen Körpers, von Enge, Mutterschaft und in die Verstrickungen von Mutter und Tochter.
Gespenstige Mutter-Tochter Verbindungen
Ein Plädoyer von Laurence’ Anwältin bringt es schließlich auf den Punkt: Mutter und Kind sind biologisch betrachtet durch einen DNA-Austausch während der Schwangerschaft aufs Engste miteinander verbunden. Töchter geben diese Verbundenheit an ihr eigenes Kind weiter und erschaffen mit ihm eine neue Verbindung. So entsteht eine endlose Kette aus Müttern und Töchtern. Es ist eine durchaus gruselige Vorstellung, die Wissenschaft nennt diesen Zellaustausch auch "chimär", das erläutert Laurence’ Verteidigerin. Sie sagt mit Tränen in den Augen: "Auf eine Art und Weise sind wir alle Monster. Aber dabei so schrecklich menschlich."
Tränen auch im Publikum sind am Ende dieses berührend-bedrückenden Films nicht ausgeschlossen. Denn so schlicht er auch sein mag, so viel erzählt er über die eigene Beziehung zur Mutter. Er öffnet die Augen und gleichzeitig verwirrt er. Aber vor allem animiert "Saint Omer" dazu, sich selbst in die komplizierten Verflechtungen des Frau-Seins, des Mutter- und Tochterseins zu stürzen.