Bei dem Spiel "Was gibt es nicht?", bei dem man sich möglichst kuriose Dinge ausdenken muss, antwortete die kleine Tochter einer Freundin einmal: "Man kann kein Erdbeben umarmen." Ich habe diesen Satz nie vergessen. Er ist für mich der Inbegriff von kindlicher Poesie geworden. Beim Titel "Gedanken spielen verstecken", wie die erste Ausstellung des Kinderkunst-Projekts Ephra heißt, musste ich wieder an diese Zeile denken.
Seit Ende Februar ist die Kunstausstellung für Kinder und Erwachsene mit 22 Positionen, unter anderen von Christian Jankowski, Ana Prvački, Karin Sander und Olafur Eliasson, im Haus Kunst Mitte unweit vom Berliner Hauptbahnhof, zu sehen. Ein lebendiger Zugang zu den größtenteils installtiven Arbeiten ist hier für Kinder tatsächlich anders möglich als im Museum. Man darf anfassen, Kaugummi kauen, Wände bemalen, auf Matratzen hüpfen, in Höhlen kriechen und mit Holzklötzen spielen. Ein Indoor-Spielplatz ist die Ausstellung aber nicht.
Dass sie nicht mit dem Jumphouse verwechselt werden kann, liegt an dem entscheidenden Verhältnis von Nähe und Distanz zu den künstlerischen Arbeiten. Der Wechsel zwischen Interaktion und Beobachten, Hinein- und wieder Heraustreten ist hier genauso essentiell wie bei jeder Kunsterfahrung. Auch spektakuläre Museumevents werden problematisch, wenn sie sich wie Disneyland anfühlen.
Immersion gibt es schon im Überfluss
Rebecca Raue, Künstlerin, Kuratorin der Ausstellung und Gründerin des Ephra-Projekts, spricht von einer Leere, die in den Räumen stattfinden muss, damit eine Freiheit entsteht, sich selbst einzubringen. Die totale Immersion, in der man sich selbst verliert, gibt es für Kinder schon im Überfluss. Diese Gewohnheit könnte auch zu einer Enttäuschung mit der Kunst führen. Das hätte dann aber durchaus einen positiven Effekt, bei dem man der illusorischen Täuschung auf die Schliche kommt und anfängt, selbst Gedanken und Sinne zu aktivieren oder sie aus ihren Verstecken lockt.
Seit 2018 besuchen Rebecca Raue und das Ephra-Team zusammen mit Grundschulkindern Künstler und Künstlerinnen in ihren Ateliers. Menschen kennen zu lernen, deren Beruf es ist, Kunst zu machen, sei eine intensive Erfahrung für viele Kinder, erzählt Rebecca Raue. "Da ist jemand, der verwirklicht als Erwachsener Visionen, die mit der eigenen Phantasie zu tun haben".
Es mag ein Klischee aus der Romantik sein, dass der Künstler und das Kind einander sehr nah sind, aber eine spielerische Neugier ist ja tatsächlich ein wichtiges Moment im künstlerischen Prozess. Künstlerinnen und Künstler verkörpern den homo ludens, den spielenden Menschen wie kaum eine andere Figur. In seinem gleichnamigen Essay von 1938 beschreibt der niederländische Historiker Johan Huizinga, wie die Eigenart des Spiels im Ästhetischen verankert ist. Dass das kindliche Erleben auch in der Erwachsenenwelt eine Rolle spielt, kann die Kunst vermitteln. Kinder fühlen sich dann ernst genommen, und das stärkt sie.
"Ist das ein Kakafisch oder ein Kieselfisch?"
Die Ausstellungsräume im Haus Kunst Mitte sollen wie die Ateliers als Orte des Austauschs verstanden werden. Ich begegne bei meinem Besuch zwei kleinen Jungs, die sich schon auszukennen scheinen und sich gegenseitig die Highlights zeigen. Vor der Videoarbeit "Ziggy and the Starfish" von Anne Duk Hee Jordan haben sich die beiden auf dem riesigen Sitzkissen niedergelassen, oder eher niedergeworfen, und kommentieren die spektakulären Aufnahmen der Unterwassertiere, indem sie den Tiefseewesen Namen geben: "Ist das ein Kakafisch oder ein Kieselfisch?" Ich überlege, was ich passender finde.
Rebecca Raue berichtet, dass zur Eröffnung auch viele Jugendliche unter den Besucherinnen und Besuchern waren. Bei zwei 18-Jährigen belauschte sie eine Unterhaltung darüber, wie cool sie es fänden, dass der Künstler Tomás Saraceno sich für "die Wirbellosen" einsetze. Der Begriff klingt dabei gleich wie eine abgefahrene Spezies Außerirdischer. In der Ausstellung hat Saraceno ein kleines Spinnennetz zum Kunstwerk gemacht, daneben hängt der Brief "Rechte der Wirbellosen".
Dass Kunst Dingen Bedeutung geben kann, die leicht übersehen werden, könnte man als den kuratorischen Leitfaden von "Gedanken spielen verstecken" beschreiben. Auch die feingliedrigen Wurzeln in der Installation "Amazones-Racines" von Paula Ankes sind als Sensiblisierungen für unsichtbare, nichtmenschliche Welten angelegt. Schaut man in die Höhle, wo die Wurzeln als Märchenwesen von der Decke hängen, sieht man sofort, dass das animistische Spiel von Kindern diese Welt längst kennt und die Kunst nur ein weiterer Anlass ist, sich in diese Welt zu begeben. Eine Frage, die sich als Erwachsener aufdrängt, während man den Kindern zuschaut, ist, warum wir diesen Zugang verlieren und wie wir ihn wieder finden können.
Das Erdbeben muss man umarmen
Vorbehalte gegenüber der Kunstpädagogik sind hartnäckig, sowohl im gesamtgesellschaftlichen als auch im Kunstkontext. Das vernachlässigte Schulfach Kunst, das den Kindern neben dem Drill im Matheunterricht immer noch wie ein "Joke" vorkommt, ist dafür ein offenkundiges Symptom. Im elitären und intellektuellen Kunstzirkus wird die Kunstvermittlung als idealistisch oder vereinfachend abgetan, wobei Kunstzirkus hier irreführend sein könnte, denn da hätten Kinder ja einen festen Platz im besten Rang.
Auf der letzte Documenta hingegen verwandelten Ruangrupa die heiligen Hallen des Fridericinums in eine Schule, die Gudskul. Das Museum sollte zum Ort des Austauschs, Lernens und Spielens werden. Wände waren bekritzelt wie früher die Schiefertafel mit Kreide. Überall gab es gemütliche Sitzgelegenheiten, angefangene Projekte und Workshop-Überbleibsel gaben Rätsel auf. Die Ephra-Ausstellung ist dem nicht unähnlich.
Kindern Kunst zuzumuten, auch wenn sie widerständig, sperrig und komisch ist, dürfte bei einer nächsten Ephra-Ausstellung, die es hoffentlich geben wird, sogar ruhig noch mutiger sein. Der Kunst die Kinder zuzumuten, ist unter konservatorischen Gesichtspunkten allerdings durchaus eine Herausforderung - auf jeden Fall für angstvolle Kunsthistorikerinnen-Augen. Aber dieses Erdbeben muss man wohl umarmen.