Giga-Bauprojekte in Saudi-Arabien

Die Stadt der Zukunft

Saudische Gigaprojekte wie "The Line" oder "New Murabba" sprengen alle Grenzen von Stadtplanung und Architektur. Doch obwohl diese spektakulären Visionen eine nachhaltige und smarte Stadt schaffen wollen, geben sie einen Ausblick auf eine düstere Zukunft

Architekturen sind und waren schon immer Insignien der Macht. Im 21. Jahrhundert verschieben sich die geopolitischen Verhältnisse schneller, als es die meisten im Westen wahrhaben möchten. So stehen die höchsten Wolkenkratzer der Welt schon lange nicht mehr in New York oder Tokio. Die gigantomanischsten und ambitioniertesten Bauprojekte entstehen derzeit in Saudi-Arabien – und hier will man mit "The Line" und "New Murabba" Blaupausen für die Städte der Zukunft schaffen.

Diese und weitere Großprojekte sind Teil der "Saudi Vision 2030", für die der Kronprinz und Premierminister Mohammad bin Salman, kurz MBS, verantwortlich ist. Dieser steht auf der einen Seite für einen vermeintlich liberaleren und moderneren politischen Kurs des Landes. So dürfen beispielsweise seit 2018 Frauen in Saudi-Arabien einen Führerschein machen. Zwei Jahre später schaffte MBS die Todesstrafe für Minderjährige ab. Auf der anderen Seite wird bin Salman für die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi verantwortlich gemacht. Auch andere Kritikerinnen und Kritiker sehen sich drakonischen Strafen ausgesetzt. Die Aktivistin Salma al-Shehab wurde von einem Sonderstrafgericht im vergangenen Herbst zu 34 Jahren Haft verurteilt, weil sie regimekritische Nachrichten auf Twitter teilte.

Mit "Saudi Vision 2030" will sich das Land von der wirtschaftlichen Abhängigkeit bezüglich fossiler Energien emanzipieren und setzt auf Sektoren wie Kultur und Unterhaltung, Sport und Investment Fonds. Bis 2030 sollen die prestigeträchtigen "The Line" und "New Murabba" fertiggestellt werden. Zur Krönung will Saudi-Arabien die Fußballweltmeisterschaft 2030 austragen. Es klingt einfach alles zu schön, um nicht wahr zu werden, und die WM in Katar hat bereits gezeigt, dass alles möglich ist und die Fifa wenig Rücksicht auf internationale Einwände nimmt, sobald es darum geht, autokratischen Staaten wie Russland und Katar globale Imagepflege zu ermöglichen, solange das Geld stimmt.

Das mit Abstand größte Kino der Welt

Megaloman sind die saudi-arabischen Stadtkonzepte der Zukunft. Vor wenigen Tagen wurde das Konzept für die neue Innenstadt in Riad vorstellt. "New Murabba" soll eine Fläche von 19 Quadratkilometern umfassen. Prunkstück dieser Gegend wird der riesige Würfel "Mukaab" mit einer Seitenlänge von 400 Metern sein. Laut Verantwortlichen passt hier das Empire State Building 20 Mal hinein. Im Inneren befindet sich eine gigantische biomorphe Säule und eine holografische 360-Grad-Kuppel, die eine einmalige immersive Erfahrung verspricht. Es ist wohl das mit Abstand größte Kino der Welt und kann von Unterwasserwelten bis zu verträumten Filmszenarien wie im Blockbuster "Avatar" so ziemlich alles simulieren, während draußen der trockene Wüstensand den Himmel gelb färbt. Es wird bewusst auf Virtualität und Hightech gesetzt. Eine virtuelle Realität, die so groß ist, dass man dafür anreisen muss. In dem Kubus alleine werden zwei Millionen Quadratmeter Fläche zur Verfügung stehen.

 

Bereits in Bau befindet sich die Stadt "The Line". Sie erstreckt sich vom Roten Meer bis zur Stadt Tabuk und wird eine Gesamtlänge von 170 Kilometern haben. Wie eine riesige gläserne Mauer von 500 Metern Höhe mutet "The Line" an. Mit einer Breite von gerade mal 200 Metern und neun Millionen geplanten Einwohnern wird das die am dichtesten besiedelte Stadt der Welt sein. "The Line" soll ausschließlich mit erneuerbaren Energien betrieben werden. Eine unterirdische Schnellbahn wird die Enden der Stadt in nur 20 Minuten miteinander verbinden.

Künstliche Intelligenzen überwachen die Stadt. Permanent erhobene Daten und Vorhersagemodelle sollen den Alltag optimieren. Bewohnerinnen und Bewohner werden dabei für ihre persönliche Datenproduktion bezahlt. "The Line" erinnert an von Menschen bewohnten Riesensatelliten aus Sci-Fi-Filmen wie "Elysium" oder der Serie "Foundation". Die Idee wirkt derart nicht von dieser Welt, dass man es als futuristischen Tagtraum abtun möchte. Aber Satellitenbilder bestätigen, dass "The Line" sich in der Bauphase befindet und rund 26 Millionen Kubikmeter Erde dafür bereits ausgehoben wurden. Die geplanten Baukosten liegen bei 500 Milliarden Dollar. Kritiker bezweifeln, ob 2030 tatsächlich schon Flugtaxis, synthetischer Regen (Cloud Seeding) und Meerwasserentsalzung per erneuerbarer Energie darin stattfinden werden. Aber es wurde auch viele gelacht, als es hieß, dass die WM-Stadien in Katar eine Klimaanlage haben würden.


Saudi-Arabien betont bei diesen Projekten oft, dass es sich um nachhaltige und ökologische Architekturen handelt. Eine Neun-Millionen-Metropole, die völlig durch regenerative Energien und entsalztes Meerwasser versorgt wird, klingt erstrebenswert. Auch soll durch diese Bauweise die umliegende Natur geschützt werden, weil der Mensch und seine Häuser hier weitaus weniger Platz in Anspruch nehmen als bei herkömmlichen Städtekonzepten.

Es will aber beim Betrachten von "The Line" und "New Murabba" beim besten Willen keine Freude aufkommen. Bei beiden handelt es sich zwar um Zukunftsvisionen, aber sie präsentieren ein Szenario, wie Metropolen der Zukunft eventuell auszusehen haben müssen, wenn durch Klimaerwärmung und Dürren auch Europa immer mehr zur Wüste wird. Wenn Städte wie im Mittelalter wieder zu geschlossenen Festungen werden. Wenn es um Isolation nach außen und virtuelle Simulation im Inneren geht, weil die Welt da draußen einfach nicht mehr lebenswert ist.

Nehmen wir dann freiwillig in Kauf, in einem riesig langen Glas-Bandwurm ohne Ausblick und Seen zu leben, in dem jeder Schritt und jede Handlung durch KI ausgewertet und analysiert wird? Es ist dieser unterschwellige Pragmatismus, der diese Bauvorhaben bei allem Größenwahn so erschreckend glaubwürdig erscheinen lässt. In einem Szenario, in dem die Erde in einigen Jahrzehnten kaum noch bewohnbar sein wird, bleibt letztlich die Frage, ob man zum exklusiven Kreis zählt, um in einem Würfel wie dem "Mukaab" oder einer Festung wie "The Line" zu leben oder nicht. Haben oder nicht haben. Leben und sterben lassen. Zombie oder Nicht-Zombie. Was sind überhaupt Menschenrechte? Rette sich, wer kann.