Neuer Geschäftsführer Andreas Hoffmann

"Die Documenta muss mutig bleiben"

Der Kulturmanager Andreas Hoffmann wird neuer Geschäftsführer der politisch angezählten Documenta. Hier spricht er über seine Pläne, das neu veröffentlichte Antisemitismus-Gutachten und die Grenzen der Kunstfreiheit


Herr Hoffman, Sie sind studierter Archäologe. Was zieht Sie ins Epizentrum der zeitgenössischen Kunst?

Die Berufung auf die Position des Geschäftsführers der Documenta nimmt mich nicht als Archäologen in den Blick, sondern als langjährigen Museumsmanager und kaufmännischen Geschäftsführer am Bucerius Kunstforum und der Kunstmeile Hamburg. Ich bin in dieser Position für alles drum herum zuständig, außer für die Kunst selbst. Ich glaube, das, was mich besonders für die Position bei der Documenta qualifiziert, ist mein Blick auf eine Institution aus einer 360-Grad-Perspektive und viel Erfahrung mit Institutionen und Stiftungen. Trotzdem passt die Qualifikation als Archäologe und Kurator archäologischer Ausstellungen gut dazu.

Wie das?

Weil es nicht nur der Blick des Managers ist, den ich auf die Kunst werfen kann, sondern auch der eines Kurators, der sehr wohl weiß, was es bedeutet, Kunst in gewisser Weise zu präsentieren, Leihgaben zu akquirieren, was es für Narrative und für Kontexte von Ausstellungen gibt. Die klassische Archäologie blickt auf fragmentarisch erhaltene Kulturen, die viel Erklärung bedürfen. Das mündet bei mir auch in ein großes Interesse für Kunstvermittlung, kulturelle Bildung und Teilhabe. Das beschäftigt uns bei der Documenta natürlich auch.

Muss die Documenta ausgegraben, entstaubt und wieder neu zusammengesetzt werden?

Nein, das nicht. Aber um inklusiv zu wirken, muss zeitgenössische Kunst von einer guten Vermittlung begleitet werden. Und das ist eine Aufgabe, der sich letztlich die klassische Archäologie in besonderer Weise stellt.

Teilen Sie eine prägende Documenta-Erfahrungen mit uns?

Sehr gern. Meine erste Documenta war die von 1992. Ich habe 1991 in Ostfriesland Abitur gemacht, und im Jahr danach bin ich nach Kassel gefahren. Und natürlich habe ich erst im Nachhinein verstanden, was Jan Hoet mit der Documenta 9 eigentlich gemacht hat. Aber mich hat das Erlebnis damals fasziniert. Es war eine Documenta, die sehr besucherorientiert war, die das Konzept der Erlebnisgesellschaft in besonderer Weise übersetzt hat. Es gab alles von Tennis bis Baseball: eine sehr fröhliche Documenta, die, wie so viele andere, unter einem Brennglas aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und Diskurse in den Blick genommen hat.

Waren Sie auch auf der Documenta Fifteen?

Ja. Die Erfahrung war eine ganz andere und natürlich überschattet von den Antisemitismus-Skandalen. Als Kulturmanager würde ich aber auch sagen, dass der Blick auf kollektive Strukturen und dieses starke Bild von Lumbung, also einer Reisscheune, die darauf zielt, gemeinsam Ressourcen aufzubauen und gerecht zu verteilen, sehr spannend ist. Das ist ja genau das, worum wir uns alle im Museumskontext bemühen. Letztlich geht es darum, gesellschaftliche Relevanz zu erzeugen. Und ich denke, dass dieser kollektive Ansatz im Kunstfeld, wo ja oft das Ellenbogen-Prinzip vorherrscht, fast visionär in die Zukunft blickt. Für mich war das eine faszinierende, ganz besondere Documenta. Wie gesagt, überschattet durch diesen Grauschleier der Antisemitismus-Skandale, die nicht kleingeredet werden können.

Durch die Antisemitismus-Debatte wirkt die Documenta politisch angezählt. Muss man da ein bisschen masochistisch sein, um den Job als Geschäftsführer anzunehmen?

Na ja, wenn man auch für sich selbst nach gesellschaftlicher Relevanz von Kunst sucht und diese einem möglichst breiten Spektrum unserer Gesellschaft zugänglich machen will, dann sind die Documenta und die gGmbH, die sie trägt, unglaublich spannende Akteure. Die Documenta ist sicherlich die weltweit bedeutendste Ausstellung im Bereich der zeitgenössischen Kunst. Da eine Zeit lang mitarbeiten zu dürfen und an dieser Vision teilzuhaben, die seit Arnold Bode unglaublich stark ist – das motiviert. Natürlich begegne ich der Aufgabe mit viel Respekt, aber auch mit Enthusiasmus und Vorfreude.

Im Statement zu Ihrer Berufung haben die Gesellschafter, das Land Hessen und die Stadt Kassel, geschrieben, mit Ihrer Personalie gehe auch "eine Weichenstellung für die Zukunft der Documenta" einher. Fassen Sie das als Herausforderung oder Drohung auf?

Natürlich stehen große Aufgaben vor uns, und natürlich sind wir gerade in einer Phase, in der es auch um grundsätzliche Weichenstellungen geht. Ganz konkret bedeutet das, dass wir uns auf der Basis des seit dieser Woche vorliegenden Abschlussberichts der fachwissenschaftlichen Begleitung grundsätzlichen Fragen stellen müssen. Dabei geht es um die Festlegung von Standards im Umgang mit Kunstfreiheit und ihren Grenzen und auch um die Frage: Wie gehen wir generell mit jeder Form von gruppenspezifischer Menschenfeindlichkeit um, von Antisemitismus über Rassismus bis Antiziganismus? All das kann keinen Platz auf der Documenta haben. Wir müssen uns fragen: Wie sieht die Organisationsstruktur, wie die Gremienstruktur aus? Wie schaffen wir gute Rahmenbedingungen für die nächste künstlerische Leitung? Wer auch immer das sein wird. Das ist ja alles noch vollkommen offen.

Ein guter Zeitpunkt zum Anfangen?

Ich komme zu einem Zeitpunkt in die Organisation, wo diese Grundsatzfragen in der Gesamtkonstellation mit den Gesellschaftern, dem Aufsichtsrat und den Teams der Documenta und der vier angeschlossenen Institutionen verhandelt werden. Wir sprechen ja auch über das Fridericianum, die Documenta-Halle, das Documenta-Archiv und das Documenta-Institut. Da geht es gar nicht um mich als Person, sondern um diese große Vision, die begeistert und einzigartige Akzente setzt.

Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat gesagt, dass sie die Finanzierung aus ihrem Haus für die Documenta an mehr Einfluss des Bundes knüpft. Können Sie sich vorstellen, wie das aussehen soll?

Ich will zukünftigen Entwicklungen nicht vorgreifen. Aber das von Frau Roth in Auftrag gegebene Gutachten des Juristen Christoph Möllers, der auch Teil der fachwissenschaftlichen Begleitung ist, zeigt ja, wie hoch der Wert der Kunstfreiheit in Deutschland ist. Wir leben in einem Land, das auf die Zeit des "Dritten Reichs" zurück blickt, auf Berufsverbote für Künstlerinnen und Künstler, Bücherverbrennungen und die Brandmarkung von Werken als "Entartete Kunst". So haben wir in diesen Tagen noch einmal gelernt, wie unantastbar, wie groß diese Idee der Kunstfreiheit ist. Grundsätzlich könnte man bei den Gremien ansetzen: Im Aufsichtsrat wurden bis 2018 zwei Mandate auf Vorschlag der Kulturstiftung des Bundes besetzt. Seit 2018 ruhen diese Mandate. Das bedeutet: Auch innerhalb der aktuellen Strukturen der Documenta wäre eine inhaltliche Einflussnahme durch den Bund möglich.

Frau Roth hat aber bereits signalisiert, dass ihr die Herstellung dieses früheren Status quo nicht reicht. Aus Hessen war Ähnliches zu hören.

Für alles, was darüber hinausgeht, sind der Aufsichtsrat und die Documenta gGmbH selbst in einem engen Austausch mit der Kulturstiftung des Bundes und ihrer neuen Vorsitzenden Katarzyna Wielga-Skolimowska und mit Frau Roth und ihrem Stab. Im Moment ist für die Geschäftsführung der Documenta noch Ferdinand von Saint André zuständig, er führt gemeinsam mit Aufsichtsrat und Gesellschaftern diese Gespräche. Ab Mai wird es meine Aufgabe sein, diese Prozesse zu steuern.

In der Kulturszene gab es die Befürchtung, dass an der Documenta ein Exempel für politischen Einfluss auf die Kunst statuiert wird. Können Sie da beruhigen?

Ich glaube, ja. Das erwähnte Gutachten von Christoph Möllers war in dieser Hinsicht schon sehr beruhigend, wo es ja genau um diese Thematik geht. Auf der Basis dessen, was wir da lesen, kann man stärkeren Einfluss von der Politik auf den kuratorisch-künstlerischen Bereich nicht erwarten. Das ist eine gute Nachricht. In der Publikation des Abschlussberichts der fachwissenschaftlichen Begleitung spielt dieser Aspekt nun natürlich ebenfalls eine zentrale Rolle. Für uns sind das wichtige Bausteine der angestrebten Organisationsentwicklung.

In dem Gutachten des Expertengremiums zur Aufarbeitung des Antisemitismus-Skandals werden der Documenta strukturelle Defizite und eine "Verantwortungsdiffusion" attestiert. Der Bericht schlägt unter anderem vor, dass die Geschäftsführung mehr inhaltliche Verantwortung bekommen sollte. Wie stehen Sie dazu?

Der von Ihnen zitierte Absatz aus dem Abschlussbericht berührt einen wesentlichen Aspekt, der in der von den Gesellschaftern initiierten Organisationsentwicklung eine wichtige Rolle spielen muss. Mit der Veröffentlichung des Berichts beginnt auch bei uns die intensive Auseinandersetzung mit dessen Ergebnissen und Implikationen.

Es gab im Sommer auch die Kritik, dass die Documenta beim Thema Antisemitismus schnell "nach außen" auf nicht-westliche Künstler zeigt, das eigene NS-Erbe aber zu zögerlich aufarbeitet. Ist das ein Thema, das Sie angehen wollen?

Unbedingt. Wenn man sich die aktuelle Ausstellung von Mischa Kuball über Emil Nolde und die Documenta im Fridericianum anschaut, dann ist das bereits eine Selbstbetrachtung durch das Documenta-Archiv. Es wird die Konstruktion eines Nachkriegs-Bildes von Emil Nolde analysiert, das auch maßgeblich durch dessen Präsenz bei den ersten Documenta Ausstellungen geprägt ist. Ich glaube, dass uns dieses Thema intensiv beschäftigen muss. Wir müssen uns mit antisemitischen Strukturen und der NS-Vergangenheit in den Institutionen auseinandersetzen. Das, was jetzt in Kassel zu erleben ist, ist Ausdruck einer Haltung, die genau in diese Richtung führt.

Eine andere grundsätzliche Frage ist die der Nachhaltigkeit. Kann man ein solches Mega-Event wie die Documenta mit enormem Ressourcenverbrauch in der jetzigen Form noch verantworten?

Die Documenta Fifteen hat ja gezeigt, dass man sich als Ausstellung in Richtung Kreislaufwirtschaft bewegen kann. Von daher gibt es ein grundsätzliches Bewusstsein für dieses Thema. Meine Vorgängerin Sabine Schormann hat sich intensiv damit beschäftigt, auch über das Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit. Wir in Hamburg arbeiten gerade im Rahmen der Nachhaltigkeitsinitiative "Elf gegen null" ebenso an diesen Fragen. Ich habe das Bucerius Kunstforum in diesen Prozess integriert, der eigentlich von den öffentlichen Häusern der Stadt initiiert wurde. Für die Documenta ist das eine zentrale Herausforderung: einerseits einen internationalen und enzyklopädischen Blick auf die Kunst zu werfen und gleichzeitig weniger Ressourcen zu verbrauchen.

Im Sommer wurde auch die These geäußert, das Konzept Documenta in Kassel hätte sich überlebt. Würden Sie widersprechen?

Da muss man widersprechen! Ich halte die Diskussion, ob die Documenta an einem anderen Ort ihren Platz finden könnte, für völlig hinfällig. Das widerspricht auch der zentralen Bedeutung, die sie in Kassel und in der Region hat. Grundsätzlich glaube ich, das ist meine wirklich tiefste Überzeugung, dass wir eine solche Betrachtung unserer Gesellschaft im Spiegel der Kunst einfach brauchen, und dass auch das Publikum das so sieht. Deshalb ist es zentral, dass die Documenta auch zukünftig so mutig bleibt, wie sie es bisher gewesen ist.