Künstlerin Sara Nabil über Lage in Afghanistan

"Die Frauen im Land sind lebendige Tote"

Nach der Machtübernahme der Taliban werden in Afghanistan besonders Frauen und Mädchen immer mehr Rechte genommen. Wir haben darüber mit der in Kabul geborenen Künstlerin Sara Nabil gesprochen


Eigentlich sollte hier am Anfang eine Frage zur Kunst stehen. Wie die eigene Praxis sich unter dem ständigen Nachrichtenstrom aus Afghanistan verändert oder ausformt, ob sie überhaupt noch möglich ist. Doch dazu kommt es nicht: Wir sind gleich mittendrin im Gespräch über Sara Nabils Heimatland und das Grauen, in dem insbesondere Frauen seit der Machtübernahme der Taliban leben. Und ihre Versuche, diesen Umstand ins Bewusstsein zu rücken. Auch mit den Mitteln der Kunst


Sara Nabil: Mir geht es nicht besonders gerade. Jeden Tag bekommt man schreckliche Nachrichten aus Afghanistan … man weiß nicht, was man noch tun kann. Gerade bin ich sehr beschäftigt, weil wir eine globale Demo organisiert haben, die in 50 Städten parallel stattfinden wird.  

Wir brauchen immer wieder Demonstrationen, damit die afghanischen Frauen nicht vergessen werden. Niemand interessiert sich, die Welt schaut zu. Jeden Tag verschärfen die Taliban die Lage. Ich sehe gar keine Frauen mehr auf den Straßen. Sie sind jetzt Gefangene, und zwar wortwörtlich. Sie haben ja nicht einmal das Recht, auf die Straße zu gehen. Es ist schrecklich und traurig.

Ich erinnere mich an die Pandemie-Zeit, in der wir plötzlich alle zu Hause sein mussten. Wie stark hat das viele von uns getroffen. Den afghanischen Frauen geht es nun dauerhaft so, und noch viel schlimmer. Auch die häusliche Gewalt nimmt zu. Frauen sind nun komplett finanziell abhängig von ihren Männern, Vettern, Brüdern. In Afghanistan eine Frau zu sein, heißt jetzt, ein Nichts zu sein. Dadurch haben Männer viel Macht gewonnen – sie wissen genau: eine Frau kann sich nirgendwo mehr beschweren, nirgendwo Hilfe holen, niemanden zur Rechenschaft ziehen.

Ich würde die Frauen im Land als lebendige Tote beschreiben. So sagen sie es mir auch selber. Sie können atmen. Alles andere haben sie verloren. Jegliches Menschenrecht.

Sie selbst sind 2015 aus Afghanistan geflohen und haben dann in den Niederlanden Asyl beantragt. Heute leben Sie in Deutschland. Haben Sie noch Freunde oder Familie vor Ort?

Meine Verwandten sind noch vor Ort, ich habe zu zwei großen Communities vor Ort Kontakt: Frauenrechtlerinnen beziehungsweise Aktivistinnen und Künstlerinnen. Beide sind sehr stark von den neuen Verordnungen der Taliban betroffen. Ganz offensichtlich durch die massiven Einschränkungen für Frauen, aber auch in ihrer Arbeit. Projekte, die von Frauen initiiert oder geleitet wurden, werden gestoppt. Hier im Westen heißt es meist: Die Taliban lassen doch "typisch weibliche" Projekte bestehen – Schmuckherstellung und so weiter. Als ob das an sich schon etwas Bemerkenswertes wäre. Wir haben 20 Jahre lang gekämpft, damit Frauen aus diesen traditionellen Rollen herauskommen. Aber abgesehen davon, stimmt es vielfach auch einfach nicht …

Was meinen Sie genau?

Ich sehe viele Leute in letzter Zeit, die pro Taliban reden. Die ihre Taten relativieren. Es sind kleine Dinge, aber sie zeigen Wirkung: Wie eine Kanadierin, die auch die afghanische Staatsbürgerschaft hat und auf einem Panel behauptete, sie könne sich als Frau ganz normal bewegen, Termine mit den Taliban bekommen. Dabei ist es ganz einfach: Ja, das alles kann sie, weil sie (auch) Kanadierin ist und für eine internationale, westliche Hilfsorganisation arbeitet. Derweil dürfen 99 Prozent der afghanischen Frauen überhaupt nicht mehr das Haus verlassen. Wir müssen Verhältnisse klar beschreiben.

Dazu passt ein gewisser Abenteuer-Spirit von westlichen Männern, die durchs Land reisen und darüber Youtube-Dokumentationen drehen, im Geistes eines "dark tourism". Neulich habe ich so einen Film entdeckt. Seine Macher präsentieren sich als kultursensible und medienkritische Blogger, die wisen, wie es wirklich ist in Afghanistan: halb so wild.

Ich kenne diese Youtube-Videos auch, und muss leider sagen: Ich möchte kotzen. Was hier gezeigt wird, ist der Blick eines privilegierten Ausländers, der nach Afghanistan kommt. Es gibt viele Falschinformationen und falsche Bilder, und diese Leute verbreiten sie – sie zeichnen ein komplett anderes Bild für die ganze Welt. Wir müssen doch daran denken, dass nicht alle Menschen so informiert sind oder selbst nachforschen. Kein Wunder, dass bei ihnen ankommt: "Ach, in Afghanistan ist doch soweit alles okay!" Viele Millionen Menschen, besonders Frauen, aber auch viele Männer, erleben eine ganz andere Realität.

Sie beschäftigen sich seit Jahren mit dem Umstand, was es bedeutet, eine Frau zu sein - insbesondere in Afghanistan. Als Sie geflohen sind, haben die Taliban bereits versucht, ihre Macht auszubauen. Aber sie waren noch nicht erfolgreich damit. Haben Sie manchmal den Eindruck, dass die Realität die Vorstellung überholt hat?

Ich habe ehrlich gesagt schon befürchtet, dass es so kommen wird. Die Taliban zeigen ihr wahres Gesicht, zeigen, wer sie sind und was sie denken. Die Aussagen hiesiger Politikerinnen und Politiker, aber auch der UN: "Wir hoffen, dass die Taliban sich ändern": die finde ich erschreckend naiv. Man kann von Ideologen nicht erwarten, dass sie sich ändern. Viele Dinge, die jetzt passieren, waren genau so angekündigt. Seit eineinhalb Jahren warnen wir täglich, schreiben, aber niemand hört uns zu. Mich macht das traurig, in letzter Zeit auch zunehmend resigniert. Viele Frauen begeben sich in größte Gefahr, protestieren, organisieren sich, aber niemand schaut ihnen zu. Niemand erkennt an, was sie tun. Sie fragen mich, die in Deutschland ist: Was soll ich noch machen, bis ich irgendein Ergebnis sehe? Ja, natürlich: Veränderung kann nicht an einem Tag geschehen. Man darf auf keinen Fall aufgeben. Aber es ist schwer, aktuell durchzuhalten.

Wie schafft man das?

Wichtig ist mir: Die Politik ist nicht hilflos. Sie muss einfach ein bisschen klarer denken. Jeder weiß, wie die Taliban an die Macht gekommen sind – jeder weiß, dass das mit den Verhandlungen in Doha begonnen hat [die Vereinbarung "Agreement for Bringing Peace to Afghanistan" vom 29. Februar 2020, co-initiiert unter US-Präsident Donald Trump. Die gewählte afghanische Regierung und die Nato-Verbündeten waren nicht in die Vertragsverhandlungen einbezogen, Anmerkung der Autorin]. Kein Afghane weiß bis heute, was dort genau besprochen und beschrieben wurde. Das Land wurde einfach in die Hand von Terroristen übergeben. Politiker sind also nicht hilflos, aber sie denken erstaunlich wenig über ihre Handlungen und deren Folgen für viele Menschenleben nach.

Viele Frauen und Mädchen dürfen nicht mehr zur Schule oder Uni gehen. Um dem zu begegnen, haben Sie "E-School Afghanistan" gegründet. Was hat es damit auf sich?

Ein Freund hat diese Plattform entwickelt, wir möchten Online-Unterricht für Mädchen in Afghanistan anbieten. Gerade sind wir in der Registrierungsphase, das heißt also, Mädchen können sich für den Unterricht anmelden. Das Schuljahr in Afghanistan geht von März bis Dezember, wir hoffen, bis dahin beginnen zu können. Wir suchen noch Pädagogen und andere Freiwillige, die mitwirken. Aber die Plattform ist so aufgebaut, dass sie möglichst autonom funktioniert.

Auch in Ihrer Kunst stehen Frauen- und Mädchenrechte im Fokus. In der Kunsthalle Mannheim zum Beispiel haben Sie im letzten Jahr während einer Performance Ihre Haare abgeschnitten – eine Geste, die später erst durch die Proteste in Iran weltbekannt werden sollte. Wie kam das beim Publikum an?

Meine Arbeiten sind natürlich sehr stark geprägt von meiner Biografie. Aber ich habe damit in Ausstellungen bisher sehr gute Erfahrungen gemacht. Außerhalb dessen kommen diese Themen im westlichen Kunstbetrieb allerdings wenig vor, ich habe dazu bisher kaum etwas gelesen oder gesehen. Was ich auch verstehe. Es gibt hier eben eine ganz andere Geschichte, andere Themen. Natürlich weiß ich auch: In Europa habe ich überhaupt Möglichkeiten, meine Themen einzubringen. Die möchte ich auch nutzen. Die Kernidee in meiner Mannheimer Ausstellung war, die Diskussionen um dieses Thema überhaupt erst einmal anzuregen. Das hat gut funktioniert, es gab viel Austausch mit den Besucherinnen und Besuchern. Meine Arbeiten sprechen von afghanischen Frauen, aber sie haben ein universelles Anliegen. Es geht um Unterdrückung. Das Thema betrifft afghanische Frauen, aber es betrifft natürlich auf andere Weise jede einzelne Frau auf der Welt.

In Ihrer E-Mail-Signatur steht: "Artist/Activist". Trennen Sie beide Bereiche für sich selbst, und wenn ja, wie?

Für mich gibt es gar keine Grenze zwischen Aktivismus und Kunst, und ich versuche, beide zu nutzen. Sogar gezielt zu vermischen. Weil ich ein Ziel verfolge – die Stimme zu sein für andere, etwas bewirken zu können. Man sieht es in meiner Kunst: Aktivismus ist sehr präsent. Umgekehrt versuche ich, meine Erkenntnisse aus der Kunst in meine aktivistische Planung einfließen zu lassen. Eine künstlerische Arbeit unabhängig davon? Ich wünschte mir, dass ich so etwas hätte. Wenn ich diese schrecklichen Seiten dieser Welt kennenlerne, wünsche ich mir manchmal, keine Ahnung zu haben. All das ist so stark in meinem Leben, in meiner Biografie verwurzelt. Ich bin heute in Deutschland – ich habe das nicht selbst entschieden. Es hängt an der politischen Lage in meinem Land. Meine Lebensgeschichte ist Ausgangspunkt von dem, was ich tue. Ich glaube, ich kann es mir gar nicht anders vorstellen. Natürlich weiß ich nicht, wie sich alles entwickeln wird. Alles kann sich ändern. Aber aktuell ist eine andere Arbeits- und Lebensweise für mich undenkbar.

Zu Ihren Performances tragen Sie selbstgestaltete T-Shirts mit kurzen, prägnanten Statements. Zuletzt im Herbst 2022 in Frankfurt las man darauf: "Recognizing a terrorist regime is terrorism" – ein Satz gegen die überraschend schnelle Anerkennung der Taliban als legitime Gesprächs- und Verhandlungspartner. Nun wird in den Nachrichten und Politformaten hin und wieder ein Dilemma formuliert: Man müsse aktuell noch stärker mit den Taliban kooperieren, noch mehr Gelder senden, damit die bittere Armut und der Hunger im Land gestoppt würden. Würden Sie die Forderung heute immer noch so tragen?

Auf jeden Fall. Mit solchen radikalen Leuten, die so radikal agieren, so brachiale Entscheidungen über andere Menschen treffen, kann man nicht wie mit ganz normalen Gesprächspartnern umgehen. Jede Woche bekommen die Taliban Millionen US-Dollar im Namen humanitärer Hilfe. Niemand weiß, ob diese Gelder wirklich an die Helfer oder an die betroffenen Menschen gehen, ob sie den Hunger im Land überhaupt beseitigen sollen.

Was sollte stattdessen passieren?

Zwei Dinge, die mir wichtig sind: Die Weltgemeinschaft muss Druck aufbauen auf die Taliban – was heißt das? Immer noch treffen sich Vertreter des Westens mit den Taliban in Katar. Warum tun sie das? Warum setzen sie das nicht aus, bis die Taliban ihr Verhalten ändern? Bis sie ein Minimum an Rechten und Sicherheit für Frauen gewährleisten? Die Familien dieser Taliban-Elite sind alle im Ausland. Ihre Kinder können zur Schule gehen, studieren, sie können sich ganz frei bewegen. Man könnte diese Leute sanktionieren und sollte das meiner Meinung nach.

Und darüber hinaus?

Zweitens: Jetzt dürfen Frauen nicht einmal mehr in NGOs arbeiten, was die Lage für viele Menschen in Afghanistan nochmals verschlechtert. Warum werden diese Millionen Dollar jede Woche immer noch ins Land geschickt? Das Problem ist, dass die Weltgemeinschaft überhaupt keine Bedingungen an die Taliban stellt. Natürlich muss man klug vorgehen, aber wo liegt das Problem, ein Minimum an Standards zu formulieren? "Accountability & Control", Rechenschaftspflicht und Kontrolle, was mit den Geldern geschieht, sollten endlich etabliert und eingefordert werden. Es gibt so viele Möglichkeiten, die Lage jetzt sofort zu verändern. Die Taliban sind doch komplett abhängig von den Hilfsgeldern. Aber man muss auch wollen.