Ich habe mich nie richtig von Dorothy verabschiedet. Irgendwann, das muss so um 2014 oder 2015 gewesen sein, nach ihren ersten großen internationalen Retrospektiven im New Yorker New Museum und im Londoner Camden Art Center, für das ich noch einen Text schrieb, verschwand sie aus meinem Leben. Sie spannte ihren Regenschirm auf und flog weg, wie Mary Poppins, in andere Sphären der Kunst, in die ich ihr nicht folgen konnte und auch nicht folgen wollte. Der Wind drehte sich in der Cherry Park Lane.
Großzügig wie sie war, schenkte sie mir damals eines ihrer frühen Gemälde von 1962, aus der Zeit, in der sie noch mit ihrem wohlhabenden Mann James Upham in Manhattan lebte, die Welt bereiste, und, vom Abstrakten Expressionismus beeinflusst, begann zu malen. Das auf eine Holzplatte gemalte und collagierte Bild erinnert an eine expressive Wiese, aus der geometrische Formen und malerische Gesten wuchern, wie seltsame Blüten oder Falter, die Dorothy auch mit japanischem Geschenkpapier und Blattgold hineinmontiert hat.
Es entstand ein Jahr, nachdem sie erfolgreich einen Prozess gegen die Zollbehörden und die Zensur der US-Regierung führte, um Bücher von Henry Miller und de Sade in die USA einführen zu können. Ein Foto aus der "New York Times" von 1961 zeigt eine wunderschöne, fest entschlossene Frau mit Schlapphut und mit Kajal umrandeten Augen, mondän, mit einer Aura von Beatnik- und Hippiekultur, Spiritualität und Revolte. Dorothy war da gerade einmal 28.
Ein ungeheureres Gefühl des Aufbruchs
Ich habe mich schwer getan mit diesem Gemälde, es viel zu oft an verschiedenen Orten auf- und dann wieder abgehängt, irgendwie blieb es mir fremd. Dabei war nicht nur etwas mit dem Bild los, sondern auch mit mir. Ich sprach mit meiner Freundin, der Künstlerin Ursula Döbereiner darüber, die Dorothy seit den frühen 1990er-Jahren kannte, uns zusammengebracht hatte und auch lange für sie arbeitete und mit ihr ausstellte. Ursula sagte, das sei auch Teil von Dorothys Kunst, eine ungewöhnliche Nähe und Intimität herzustellen, etwas, das zu einem spricht, in radikaler Offenheit, das man aber auch aushalten muss. Und nie hätte sie dieses Bild zufällig oder unbedacht ausgewählt. Sie riet mir, es auszupacken, nochmal genau anzugucken, nachdem Dorothy am zweiten Weihnachtstag mit 89 Jahren nicht völlig unerwartet, aber sehr plötzlich gestorben ist.
Ich war seit der Nachricht von ihrem Tod merkwürdig ruhig, aber diese Ruhe war brüchig. Als ich das Bild auspackte, dachte ich daran, wie sie wohl in diesem magischen New York gelebt haben musste, in dem Andy Warhol gerade seine Factory gründete, Bob Dylan seine ersten Auftritte hatte, John Giorno, mit dem Dorothy befreundet war, seine Gedichte schrieb. Ich glaube vor ihrer Heirat hatte sie auch eine kurze Affäre mit Norman Mailer, auf jeden Fall schrieben sie sich bis ins hohe Alter.
Dorothy war damals mittendrin und ich stellte mir vor, wie dieses Bild in ihrem Townhouse gehangen hatte, wie das wohl ausgesehen hatte mit ihren alten Möbeln, Keramiken, Teppichen, Kultgegenständen aus der ganzen Welt, ihren Büchern, Pflanzen. Für sie muss da ein ungeheureres Gefühl des Aufbruchs gewesen sein, aber auch ein Gefühl festzustecken, zurückgehalten zu werden. So wirkt auch dieses Gemälde, so fühlte ich mich jetzt, 40 Jahre später. Als ich das Gemälde umdrehte, sah ich den Titel, den sie mit ihrer filigranen, präzisen Handschrift mitsamt dem Entstehungsjahr auf das Holz geschrieben hatte: "Friendship".
Alles wurde zelebriert
Ich begann zu weinen, um unsere Freundschaft, diese außergewöhnliche Künstlerin, Visionärin und Poetin. Dorothy war einer der komischsten, klügsten und warmherzigsten und zugleich ausgebufftesten Menschen, die ich je getroffen habe. Eine Rive-Gauche-Frau, die nur Sonia Rykiel trug, oder Sachen, die aussahen, wie von Rykiel, schwarz oder gestreift, mit funkelnden Strassbroschen, Kussmündern und Eifeltürmen.
Man konnte sie nicht morgens besuchen. Sie brauchte bis tief in den Vormittag, um vor ihrem gigantischen, goldenen Schrein zu meditieren und ihren tollen Look zusammenzukleben, die pechschwarze Frisur, die mit ihrem hohen Haaransatz zugleich an Mireille Mathieu und das elisabethanische Zeitalter denken ließ. Dorothy liebte Shakespeare, hatte Englische Literatur an der Brandeis University studiert. Sie war für mich der erste Mensch, der Emerson oder Thoreau zitierte und im selben Gespräch das Wort "Bad Hair Day" benutzte.
Wenn man zu ihr zum Tee kam, war sie mit dem Taxi ins KaDeWe gefahren um Macarons, Petit Fours, Oliven, Cracker, Wein zu kaufen. Alles wurde zelebriert, der Platz in den riesigen aus Bast geflochtenen Pfauensesseln zugewiesen, der runde, dunkelrote Metalltisch aus den frühen Seventies eingedeckt, genau geregelt, wie die Abfolge der Getränke und der verschiedenen Deliktessen sein würde.
Die Mutter als wichtige Inspiration
Dabei musste Dorothy immer wieder über sich und ihre Inszenierung lachen, wenn sie jedes Stück Gebäck anmoderierte, aufgescheucht wie bei einer Performance hin und her rannte, weil noch Kandis oder ein Löffelchen fehlte. Die Liebe lag bei ihr im Detail. Und ich meine damit wahre Liebe. Das hatte sie von ihrer Mutter, Sarah Pucci, die Hausfrau und eine grandiose autodidaktische Künstlerin war. Ich lernte ihre Kunst schon Mitte der 1990er-Jahre, lange vor Dorothys Werk durch meine Freundin Bettina Allamoda kennen, die mich regelrecht an die Hand nehmen musste und zu der Ausstellung in einer Charlottenburger Galerie führte. Ich war völlig überwältigt.
Um mit ihrer ständig reisenden und dann in Europa lebenden Tochter in Verbindung zu bleiben, hatte Pucci ihr bis ins hohe Alter kleine Liebesdevotionalien geschickt: aus Styropor geschnitzte Formen, Herzen, Kugeln, Kissen, die sie mit unzähligen Pailletten, Plastikperlen, echten Perlen, Plastikdiamanten, Ohrringen, sogar Fotos dekorierte. Puccis ornamental verzierte Objekte erinnern an indischen Hochzeitsschmuck, Reliquien, Dekoration für mexikanische Totenfeste. Dabei sind sie extrem sakral, leuchtendes Orange, Bernstein, Zitronengelb. Sie sind opulent, überfrachtet, aber zugleich notwendig, verdichtete zur Form gewordene Liebe. Ihre Mutter war für Dorothy sicher eine ganz wichtige künstlerische Inspiration.
Irgendwann in den 1990ern saß ich wieder mit Bettina in einem Café in der Oranienstraße, als gegenüber an der NGBK eine ganz in Schwarz gekleidete, sehr glamouröse Frau mit einer riesigen Sonnenbrille und Gesundheitsschuhen vorbeilief. Ich stupste Bettina an. Guck mal, wer ist diese insektengleiche Dame? Sie sagte, das sei Dorothy Iannone, Sarah Puccis Tochter und selbst eine tolle Künstlerin.
Dorothy und Dieter
Doch es sollte noch dauern. Ein paar Jahre später, 2001, regte mich Ursula dazu an, Dorothys Ausstellung "Pictures and Books" in der Galerie Barbara Wien zu besprechen. Ich fiel angesichts ihrer archaisch-magischen "Eros"-Serie von 1970-71 fast tot um, so toll waren diese großformatigen, geschminkten und geschmückten Paar-Bilder von Dorothy und dem Künstler Dieter Roth, den sie 1967 auf Island kennenlernte, wo sie mit Emmet Williams ankam. Dorothy, die damals eng mit der Fluxus-Szene verbunden war, verließ ihren Mann für Roth, mit dem sie dann in den frühen 1970ern in Düsseldorf lebte.
Der Fotokünstler, PR-Mann und Weltraumfan Charles Wilp, der 1968 die Afri-Cola Kampagne gemacht hatte, fotografierte das Paar damals. Dorothy, in einem Rudi-Gernreich-Kleid mit Fuchsfellmütze und Dieter Roth im Anzug blicken selbstbewusst, etwas verquollen und ziemlich sexy in die Kamera. Sie verkörpern ganz den utopischen, hedonistischen Geist dieser Ära, das futuristisch-Folkige, den Glauben an die Zukunft, Zero, Op-Art, die Anarchie der sexuellen Befreiung.
"Let me squeeze your fat cunt – am I your first woman I am your slave I begin to feel free": Die Figuren, die von Dorothys Eros-Serie blicken, tragen ihre Worte wie rituelle Tätowierungen auf dem Körper. Ketten, Kostüme, Armreife, Haartrachten, Bauchnabel, Tierschwänze, Geschlechtsteile – jedes Detail ist mit klaren Linien eingefasst und mit leuchtenden Farben gefüllt. Die behaarten Männer mit den wie angeklebt wirkenden Pimmeln, die Göttinnen mit den bizarr langen Nippeln, die sich in allen nur erdenklichen Posen lieben, sind durchströmt von archetypischer Symbolik, haben etwas Schwereloses, Astronautisches. Sie sind Inkarnationen von Dorothy und Dieter, martialische, schamlose Heroen des 20. Jahrhunderts.
Aufstand gegen die Prüderie
Doch zugleich fällt es schwer, sich wirklich jemanden vorstellen, den sie tatsächlich erregen könnten. Für Dorothy ist die ekstatische Vereinigung Ausdruck spiritueller Erleuchtung: "Es geht darum, bewusst zu leben und die Dinge jederzeit intensiv wahrzunehmen. Es klingt einfach, aber es ist sehr schwer", sagt sie in einem Interview in den 90ern. Wie schwer der Weg für sie war, offenbarte schon der bei Barbara Wien ausgestellte Band "The Story Of Bern (Or) Showing Colours", der einen Fall von Selbstzensur schildert – exemplarisch für die Prüderie der vermeintlich so progressiven Sixties und Seventies. Während Allen Jones’ Plastiksklavinnen als Sado-Maso Fetische in Museen und Galerien gläserne Tischplatten stemmten und die Deko in Stanley Kubricks "Clockwork Orange" inspirierten, galt der voyeuristische Blick auf weibliche Körper nach wie vor als rein männliches Privileg.
Daran rüttelten Dorothys Darstellungen von auf Anzügen applizierten Penissen und selbstbewusst präsentierten Schamlippen ganz erheblich. Als Roth seine Partnerin 1969 einlud, an einer von Harald Szeemann organisierten Ausstellung in der Schweiz teilzunehmen, kam es zum Eklat: Aus Angst vor polizeilicher Schließung wegen des Verdachts auf Pornografie überklebten Mitwirkende der Show die Genitalien auf Iannones Bildern mit braunem Klebeband.
Das Buch zeigt demonstrativ die nackte Künstlerin, die Streifen um Streifen von ihren Bildern entfernt. Das Paar und einige der Teilnehmer zogen ihre Arbeiten zurück und hinterließ lediglich einen von Dorothy gefertigten Grabstein mit der Inschrift: "Hier geht Dorothy Iannone, die nur eine Beschwerde vorzubringen hat: Sie dachte, ihre Freunde seien Künstler, doch sie sind es nicht".
Bedingungslose Liebe und Hingabe
Für Dorothys Werdegang spielten die Zensur von Kunst und Unterdrückung der freien menschlichen Entfaltung über Jahrzehnte hinweg eine entscheidende Rolle. Oft ist sie deshalb als Tabubrecherin, Feministin, Outsiderin beschrieben worden, die fast ihr Liebesleben preisgibt, alles sexualisiert. Das hat den Blick auf ihr bahnbrechendes Werk bis heute verstellt. Tatsächlich trieben sie ganz ähnliche Impulse an wie ihre Mutter, nämlich bedingungslose Liebe und Hingabe, nur dass Dorothy eine Intellektuelle war und in voller Kenntnis der Literatur- und Kunstgeschichte arbeitete.
"Dies, liebe und verehrte Leser, ist selbstverständlich eine verfrühte Autobiografie", schreibt sie in "An Islandic Saga" (1978-86), einer Bildgeschichte, in der sie ihre Reise nach Island und ihre Liebe zu Dieter Roth schildert. Und fährt fort: "Ihr, die ihr leidenschaftlich mit mir lest, müsst nun für immer meine Freunde sein". Ganz im Geiste des US-amerikanischen Poeten Walt Whitman versucht sie sich nicht nur mit ihrem Geliebten, einem Gegenüber zu vereinen, sondern eine wahrhaftige, künstlerische und poetische Stimme zu finden, die die Betrachter*innen und Leser*innen über Raum und Zeit hinweg berührt.
Aus diesem Bestreben heraus hat sie auch unglaubliche Pionierleistungen vollbracht, immer wieder hat sie neue visuelle, performative und literarische Techniken und formale Mittel gefunden, um sich mit dem Gegenüber – uns – der Welt zu vereinen.
Singende Kunst
In ihrer Malerei seit den späten 1960ern verbindet sie Text, Sprache, Ornament zu einem Mandala ihres Lebens, in das byzantinische, alt-ägyptische Kunst, Magie, Folklore, elisabethanische Dichtung, Dada, Fluxus, Popkultur, griechische und hinduistische Mythologien einfließen. Dorothy transformiert ihre Bilder zu visuellen Dichtungen, die sie in die Tradition von Visionären wie Willam Blake oder Allen Ginsberg stellt.
Mit ihren Videoboxen wie "I was Thinking of You" (1978) oder "Follow Me" (1978) verwandelt sie ihre Kunst nicht nur in einen Hybrid aus Malerei, Skulptur und Film. Sie bringt sie buchstäblich zum Singen, verwandelt sie in eine Art Dorothy-Avatar, eine Körper-Box, mit gemaltem Rumpf und einem Monitorgesicht, dass sie wie einen Kopf montiert. Dorothy singt, während sie in Ekstase ist, kurz vor dem Orgasmus oder high, was bis heute oft als exhibitionistisch oder provokativ missverstanden wird.
Als ich Dorothy kennenlernte, war sie über 70, eine Kultfigur für viele junge Künstler*innen. Aber im Mainstream-Kunstbetrieb, der noch viel patriarchalischer und misogyner war als heute, galt sie als ein obskures Phänomen, als durchgedrehter, autodidaktischer Mond in Dieter Roths Kosmos. Trotz der tollen Werkschau 1997 im Berliner NGBK, unglaublich vielen Ausstellungen und der Repräsentation in wichtigen Galerien eilte ihr immer noch der Ruf des Frivolen, Unzüchtigen voraus.
Verletzende Kritik
Anfang der 2000er, als ich begann, über Dorothy zu schreiben, brachte sie gerade "Dieter and Dorothy" heraus, ein opulentes Buch mit den Briefen, Postkarten und Kunstwerken, die sich die beiden über Jahrzehnte hinweg und auch lange nach der Trennung 1974 geschickt hatten. 2002 wird es im Kunstmagazin "Parkett" besprochen, eine der wichtigsten Publikationen für Gegenwartskunst überhaupt. Und auch derjenige, der es bespricht, ist wichtig: Robert Storr scheidet damals als Senior Curator des New Yorker MoMA für Skulptur und Malerei aus, 2007 wird er künstlerischer Leiter der Biennale in Venedig. Eigentlich also eine große Ehre.
Doch seine Besprechung mit der Überschrift "Lovesick" ist die brutalste Kritik, die ich bis heute je gelesen habe. Sie beginnt so: "Fremde Briefe soll man nicht lesen. Das ist ein altvertrautes gutbürgerliches Tabu, welches die versehentliche wie die bewusst unerlaubte Verletzung der Privatsphäre nur umso reizvoller erscheinen lässt. Deshalb fühlen sich verzweifelt Geständnishungrige und schuldlose Exhibitionisten dazu veranlasst, zusammen mit den eigenen Geheimnissen vielleicht auch jene ihrer nichts ahnenden Briefpartner auszuplaudern." Ab da wird es nur noch schlimmer. Storr schreibt, in Dorothys Kunst verbänden sich das "Dekorativ-Abstrakte indianischer Volkskunst mit einem heiteren, an Yellow Submarine erinnernden Cartoon-Stil (...) Ihre Kunst ist farbenfroh, vertraulich-gefühlsbetont bei gleichbleibendem Stil."
Der einzige Grund für ihn, dieses deprimierende Buch überhaupt zu lesen, ist Roths genialische Kunst, seine "Wortakrobatik". Für ihn geht dieser ästhetische Genuss "allerdings auf Kosten einer rücksichtslosen Bloßlegung des Chaotischen und Sentimentalen von Iannones nur teilweise erwiderter Zuneigung." Die Vorstellung, dies sei eine besondere Beziehung gewesen, ist für Storr "ein romantisches Relikt, das von dieser dreißig Jahre dauernden Liaison unter einem Häufchen trockener, aber nach wie vor leuchtender Herbstblätter zur letzten Ruhe gebettet wird". Dorothy hat diese Kritik unglaublich verletzt.
"Meine Arbeit spiegelte meine spirituellen Reise wider"
Jahre später, 2008 als wir im Rahmen von Dorothys Ausstellung "Follow Me" in der von Frank Müller und mir begründeten Galerie "September" einen kleinen Katalog über ihre Videoarbeiten aus den Seventies machten, fragte ich Dorothy nach der Rolle der Verführung in ihrer Kunst. Sie antwortete: "Ich wollte zeigen, wie liebenswert ich bin. Das mag am Ende vielleicht verführerisch rüberkommen … Ich finde diese Süße in einem Menschen unwiderstehlich. Sie tut niemandem weh. Sie ist an sich liebevoll, verletzlich – und scheut sich nicht, diese Verletzlichkeit zu zeigen."
Und genau das trieb Dorothys Kritiker*innen auf die Palme, dass ihr Werk eben keine Pornografie war, überhaupt nicht hart oder obszön, sondern "süß", was fälschlicherweise mit "naiv" verwechselt wurde. Das offensichtlich Selbstgemachte, nicht Perfekte, die Intimität, der Humor, die Verletzlichkeit, waren zu peinlich, zu "privat", als hätte sie im Museum oder beim Cocktail die Hosen runtergelassen. Dass Dorothy in ihrem Werk die Grenzen zwischen Kunst und Liebe, Privatem und Öffentlichem aufhob, geschah nicht im Dienste des eigenen Exhibitionismus oder Egoismus, sondern im Gegenteil, aus dem Versuch heraus, selbstloser und grenzenloser zu werden.
Dabei half ihr die Kunst. "Meine Arbeit spiegelte meine spirituellen Reise wider, und zugleich beleuchtete sie diesen Weg", schrieb sie einmal. Sie besang wie William Blake in den Gedichten seines 1794 veröffentlichten Bandes "Songs of Innocence and of Experience" alles – auch ihre dunklen Seiten, ihre Widersprüche.
Heftige Widersprüche
Und die waren heftig. Dorothy konnte revolutionäre Bilder zu weiblicher Selbstbestimmung und Befreiung machen, wie etwa "The Next Great Moment In History Is Ours" (1970) oder "The Statue Of Liberty" (1977) und zugleich superkritisch gegenüber der feministischen Avantgarde sein. Sie konnte Sachen sagen wie: "Ich hatte keinen Zorn auf die Männer. Ich strebte schließlich nach höchster Vereinigung mit ihnen." Wir alle, die in diesen magischen Jahren, bevor sie endlich den lange verdienten internationalen Durchbruch schaffte, mit ihr zu tun hatten, verdrehten die Augen wegen ihrer Ansicht, Frauen müssten Göttinnen, Amazonen sein, verführerisch und begehrenswert und mit Männern zusammenpassen, wie Ying und Yang. Sie war, das kann ich jetzt nach ihrem Tod sagen, bestimmt keine Feministin.
Linke Theorie und Klassenkampf haben sie nicht besonders interessiert. Sie hatte immer Geldsorgen, wurde kontinuierlich angefeindet. Doch zugleich hatte sie ihr ganzes Leben in relativem Luxus inmitten einer kulturellen Elite verbracht. Sie brauchte einen bourgeoisen, gehobenen Lebensstil, zumindest tat sie so. Sie kontrollierte, auch um sich zu schützen, alles und jeden, schickte Faxe, las Besprechungen mit der Leselupe, suchte nach versteckten Bedeutungen und Beleidigungen. Ein Spruch von ihr war ein Zitat, das angeblich von Henry Kissinger stammt: "Even a paranoid can have enemies." Die Textarbeit mit ihr war die Hölle, weil sie so schlau, ausdauernd und extrem genau war.
Doch zugleich habe ich niemanden erlebt, der bescheidener, großzügiger und mitfühlender sein konnte, als sie. Mich hat sie nach der Aids-Krise, nach dem Tod meines Freundes, zurück ins Leben geführt, auf den Weg gebracht, meine Sorgen und Ängste in eine Krippe gelegt und gewiegt wie eine Mutter. Heute meditiere ich selbst, ohne Schrein und ohne Haare allerdings.
Jedes Detail zählte
Gegen Ende unserer gemeinsamen Jahre schenkte Dorothy mir "Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben", das ihr Meister Sogyal Rinpoche ins Englische übersetzt hat. Er ist einer der berühmtesten und umstrittendsten buddhistischen Lehrer im Westen. Es war der Fluxus-Künstler Robert Filliou, der Dorothy mit ihm bekannt machte, die ihn 1986 erstmals nach Berlin und Deutschland holte.
Als sie mir dieses Buch schenkte, und sagte, dass es eher eine Anleitung zum Leben sei, als zum Sterben, verstand ich sie nicht, auch nicht, welche zentrale Rolle der tibetische Buddhismus für sie und ihr Spätwerk spielte. Dorothy hat alles mit derselben Aufmerksamkeit und Hingabe zelebriert wie ihre Kunst, ihre alltäglichen Rituale, ihre Begegnungen, ihre Looks, die Briefe, ihre liebevoll eingerichteten Wohnungen. Das alles gehört zusammen, jedes Detail zählte.
Vor fast zehn Jahren wurde sie von dem buddhistischen Magazin "Tricycle" zu ihren Gedanken über Sterben und Tod befragt. Sie antwortet in dieser für sie so typischen, gelassenen und poetischen Sprache: "Was das Sterben angeht, was kann ich da sagen? Ich hoffe, dass, auf welche Weise es auch immer passiert, ich in der Lage bin, es auf gute Weise zu tun. Ich weiß, dass die Vollendung eines Kunstwerkes immer ein wunderbares Gefühl ist. Sehen wir mal".