Anne Schönhartings Charlottenburg-Fotos

"Dieses Milieu ist viel diverser, als man sich vorstellt"

Die Fotografin Anne Schönharting hat zehn Jahre lang Menschen in ihren Charlottenburger Wohnungen porträtiert. Ein Gespräch über Privilegien, Sammelleidenschaft und die Codes des Berliner Kulturbürgertums

​​​​​​Der Stadtteil Charlottenburg gilt jeher als Sammelbecken der Berliner Bourgeoisie, des "alten Geldes". Dabei erfüllt allein der Ortsteil mit seinen fast 130.000 Bewohnern bereits die Qualifikation für eine Großstadt. Zehn Jahre lang besuchte die Ostkreuz-Fotografin Anne Schönharting Charlottenburgerinnen und Charlottenburger in ihren Wohnungen im Berliner Westen und porträtierte sie in ihrem natürlichen Habitat. Nun ist diese Milieustudie im Haus am Kleistpark zu sehen. 
 

Anne Schönharting, die Initialzündung für Ihr Projekt kam 2012. Damals wurden Sie als Ostkreuz-Fotografin gebeten, anlässlich des Umzugs von C/O Berlin in die neuen Räumlichkeiten im Amerikahaus die Charlottenburger Nachbarschaft zu dokumentieren. Daraus sind dann zehn Jahre Arbeit geworden. Wie kam es zu dem Entschluss, daraus ein Langzeitprojekt werden zu lassen?

Das ging relativ schnell. Manchmal spürt man direkt, dass das ein spannendes, größeres Projekt werden könnte. Es gab gleich zu Beginn einige prägende Begegnungen, zum Beispiel mit Karsten von Kuczkowski oder Patricia Thielemann.

Wie haben Sie die Personen ausgewählt, die Sie besucht und fotografiert haben?

Die ersten Kontakte habe ich von Felix Hoffmann bekommen, ehemals Kurator bei C/O Berlin. Mein Prinzip war es, Leute zu bitten, mir Personen vorzuschlagen. Mir wurden instinktiv die Personen empfohlen, die für meine Arbeit von Bedeutung waren. Dann ist das Projekt schnell aus sich herausgewachsen.

Hatten Sie nicht die Sorge, dass sich Ihre Arbeit nur auf ein bestimmtes Milieu beschränkt, wenn alles über Empfehlungen und Netzwerke läuft?

Ich habe mich bewusst in einem bestimmten Kreis bewegt, aus dem ich nicht hinaus, sondern in den ich tiefer hinein wollte. Mich hat ein bestimmtes Charlottenburger Klientel interessiert: Je ausgeprägter die Persönlichkeit, je ausgefallener, verrückter, spleeniger und exzentrischer, desto besser. Mich interessiert kein "Schöner Wohnen", es geht mir nicht um Selbstdarstellung oder offensichtlich bekannte Persönlichkeiten. Zuerst habe ich die Betreffenden angeschrieben und einen ersten Gesprächstermin vereinbart. Wir haben uns kennengelernt und ich habe mir die Wohnungen angeschaut. Einige Personen wollten zuerst nicht unbedingt vor die Kamera treten.
 


Was war denn eine häufige Sorge?

Vielen war es zu privat. Einige sind öffentliche Personen und möchten nicht so sehr nach außen treten. Man wusste ja auch nicht, wie das Projekt am Ende aussehen wird. Da waren viele vorsichtig.

Ihre fotografischen Kompositionen weisen viele Parallelen zur Kunstgeschichte auf: Einige wirken wie historische Porträts von Personen, die sich mit typischen Attributen darstellen lassen. Ist das bewusst gewählt?

Ich bin selbst seit der Kindheit stark von der Malerei geprägt. Noch heute besuche ich viele Museen und bin fasziniert von der Renaissancemalerei und den Alten Meistern. Wie die meisten Menschen habe ich ein kollektives Bildgedächtnis. Während ich arbeite, greife ich sicherlich unbewusst auf diese Bilder zurück.

Die Fotografien sind eine interessante Mischung aus Milieustudie, Porträt und Interieurszene. Worum ging es Ihnen vordergründig?

Mich interessiert immer die Person am stärksten. Aber es war natürlich auch das Wechselspiel: Die Art und Weise, wie man sich einrichtet, ist ein Statement.

Gingen die Inszenierungen von Ihnen aus?

Letztlich bin ich die Regisseurin – aber alle Porträtierten können mitentscheiden. Meistens fotografiere ich verschiedene Situationen. Dann bitte ich die Personen, etwas zu machen, gebe Anweisungen oder versuche verrückte Dinge. Während des Fotografierens denke ich nicht, ich befinde mich in einer Art Flow. Es ist ein Prozess, der gemeinsam entsteht und mehrere Stunden dauern kann. Meistens nehme ich mir etwas vor und am Ende wird es doch ganz anders.

An einigen Stellen wirkt der Bildaufbau beinahe ironisch. Etwa, wenn ein riesiger ausgestopfter Pfau zum Hauptdarsteller wird oder ein gedeckter Tisch an ein ausuferndes Stillleben erinnert. Ist dieses zwinkernde Auge beabsichtigt?

Ich habe eine große Freude an Ironie und Humor. Zum Beispiel an der Ästhetik und Überspitzung in Wes Andersons Bildwelten. Ebenso war ich immer fasziniert vom Surrealismus. Natürlich muss es immer einen Bruch geben: Ich will keine Bilder zeigen, die aussehen wie die Alten Meister. Wir sind in der Gegenwart und das braucht seinen eigenen Ausdruck.

Apropos Realität: Es gibt Ecken in Charlottenburg, etwa rund um den Bahnhof Zoo oder den Mierendorffplatz, in denen große finanzielle Not sichtbar ist. Wieso hat Sie diese Szene nicht interessiert?

Mir ist bewusst, dass es auch andere Milieus in diesem Bezirk gibt. Dieser spezifische Teil Charlottenburgs ist eine Welt, die in sich geschlossen wirkt – wie ein ganz eigenes Biotop. Meine Arbeit ist unter anderem auch eine Milieustudie. Mich haben vordergründig die Codes interessiert, die diese eine Gruppierung hat. Man könnte es auch Klassenbewusstsein nennen.

Welche Codes sind das? Die Designlampe im Wohnzimmer oder der Pelzmantel?

Es ist vielschichtig und subtil, man könnte es allgemein mit dem "guten Geschmack" umschreiben, der sich widerspiegelt im Interior, in den Umgangsformen, der Kleidung, der Körperhaltung und natürlich Bildung.

Viele der Dargestellten kommen aus wohlhabenden Familien. Ist ein verbindendes Element ihrer Protagonistinnen und Protagonisten das "Alte Geld"?

Da würde ich widersprechen. Man kann das nicht verallgemeinern. Das Milieu ist viel diverser, als man sich vorstellt. Der Großteil der Abgebildeten hat sich seinen Wohlstand selbst erarbeitet. Ich vermute aber, dass viele der Abgebildeten von früh an Unterstützung in Form von Bildung und sicher auch in finanzieller Art erhalten haben.
 


Auf einigen Bildern wirkt es so, als sei das Anhäufen von Besitz eine Lebensaufgabe.

Es sind Menschen, die die alten Dinge besonders lieben. In unserer westeuropäischen Kultur ist das Bewahren sehr ausgeprägt. Das Thema des Sammelns hat mich immer interessiert und ich habe festgestellt, dass viele Menschen, die ich besucht habe, Sammler sind.

Sie selbst kommen aus einer Sammlerfamilie. In Ihrem früheren Projekt "Das Erbe" haben Sie sich mit der kolonialen Vergangenheit ihres Urgroßvaters und den von ihm vererbten Objekten auseinandergesetzt. Wie stehen Sie derartigen Sammelleidenschaften gegenüber?

Es ist einerseits faszinierend, wirkt auf mich aber auch wie ein Wahn. Das Bewahren bekommt schnell eine erstarrte Komponente. Aber das Sammeln hat auch seine Berechtigung und trägt Gesellschaften weiter. Ich nenne sie gern die Bewahrer.

Im Rahmen von "Habitat" haben Sie sicher viele interessante Gespräche geführt. Gibt es etwas, was Sie überrascht hat?

Ich fand es erstaunlich, dass sich alle kennen und wie viel jeder von jedem wusste. Allgemein gab es ein großes Interesse daran, wie es bei den jeweils anderen in der Wohnung aussieht. Irgendwann steckte ich in der Rolle der Diplomatin, die nichts preisgeben und die Privatsphäre anderer schützen musste.

Im Gästebuch der Ausstellung im Haus am Kleistpark liest man diverse Meinungen zu den gutbürgerlichen Interieurs. Einige Besuchende lassen ihrem Frust über gescheiterte Wohnungssuche oder hohe Mieten freien Lauf. Können Sie das nachvollziehen?

Ja natürlich. Ich sehe ja die aktuelle Wohnungssituation in Berlin, die unglaublich frustrierend ist. Aber die Schuld liegt natürlich nicht bei den Abgebildeten. Das Milieu ist zwar eine gute Projektionsfläche, die eigentlichen Probleme liegen aber woanders.

Der erste Blick beim Betreten der Ausstellung fällt auf die einzige Fotografie ohne Menschen: einen gigantischen Abzug einer roten Marmorplatte. Wie kam es dazu?

Die Ausstellung ist ja schon sehr belebt von Menschen und Geschichten. Dem wollte ich etwas entgegensetzen. Der Marmor impliziert so viel: Reichtum, Macht, Repräsentation. Darum geht es auch in meiner Arbeit. Außerdem ähnelt der Marmor einer Landkarte. Ein schönes Symbol.

Inwiefern hat sich Ihr Bild von Charlottenburg im Laufe der zehn Jahre verändert?

Es ist vielschichtiger und tiefgründiger geworden. Wenn man den Stadtteil nicht so bereist, wie ich es getan habe, bleibt das Bild oberflächlich. Charlottenburg ist nicht so laut wie Mitte oder Neukölln – es läuft immer noch ein bisschen unter dem Radar.